
Am 7. Mai wurde von einer Gruppe von Kardinälen, Bischöfen und Intellektuellen der Aufruf Veritas liberabit vos veröffentlicht. Er äußert Sorge und Bedenken zu den radikalen Corona-Maßnahmen der Regierungen und deren Auswirkungen auf die Kirche und die Menschheit insgesamt. Am 20. Mai veröffentlichte die Jüdische Allgemeine ein Interview mit Rabbi Jehoshua „Josh“ Ahrens, Direktor des 2008 gegründeten Center for Jewish-Christian Understanding and Cooperation (CJCUC) für Mitteleuropa, der sich über die Ausbreitung von „Verschwörungstheorien“ in der kirchlichen Hierarchie „schockiert“ zeigte und den Aufruf indirekt in die Nähe des Antisemitismus rückte. Darauf reagierte Erzbischof Carlo Maria Viganò, einer der Erstunterzeichner und maßgeblicher Autor des Aufrufs, mit einem Schreiben an Rabbi Ahrens, das von Katholisches.info vollinhaltlich veröffentlicht wird. Siehe dazu auch den Kommentar: Der Aufruf, der ins Schwarze trifft.
Sehr geehrter Herr Rabbiner,
da ich im Zusammenhang mit meinem Aufruf für die Kirche und für die Welt kritisch erwähnt wurde, bitte ich Katholisch.de um die freundliche Erlaubnis, Ihnen antworten zu dürfen.
Ich muss gestehen, Herr Doktor Ahrens, dass Ihre Worte mich nicht wenig erstaunt haben, wo es heißt: „Wir wissen schon seit einiger Zeit, dass es Menschen auch innerhalb der Kirchen gibt, die solchen Theorien anhängen. Aber jetzt trauen sie sich, diese Meinungen noch offener zu äußern.“ Ich denke, es ist die Pflicht eines jeden von uns, die eigene Besorgnis über Verhältnisse zu äußern, die, unter Ausnutzung der Covid-Krise, weit über vernünftige Sicherheitsmaßnahmen hinausgehen, indem sie ganzen Völkern den Entzug verfassungsmäßiger Freiheiten auferlegen. Dies mag unter Umständen in Deutschland nicht geschehen sein, hat sich jedoch zweifellos in vielen Ländern so zugetragen.
Ich stelle Ihnen, sehr geehrter Herr Rabbiner, die Frage: Ist es, Ihnen zufolge, weiterhin erlaubt, sich frei zu äußern, oder gibt es Gegenstände, die nicht mehr kultiviert besprochen werden dürften? Wenn Sie Ihrerseits zum Ausdruck bringen dürfen, dass Sie dem Inhalt des Aufrufs nicht zustimmen, weshalb sollten „Menschen innerhalb der Kirchen“ nicht das Recht haben, ebenfalls ihre Meinung frei zu äußern? Und aus welchem Grund nehmen Sie an, dass es besonderen Mutes dazu bedürfte, sich dies zu „trauen“, als ob es sich bei den besagten Meinungen um Wahnvorstellungen handelte, die jeder Entsprechung in der Wirklichkeit entbehrten?
Diesen Ausdruck von Besorgnis – noch dazu vorgetragen von angesehenen Persönlichkeiten – schlicht als „Verschwörungstheorien“ abzutun, scheint mir keine konstruktive Herangehensweise zu sein; allzumal, wenn dabei nicht das Verdienst erworben wird, zu widerlegen, wovon man offenbar annimmt, es sei nicht wahr. Daher frage ich Sie: In welcher Sache genau stimmen Sie mit dem Text des Aufrufs nicht überein? Was am Aufruf stellt für Sie einen „Schock“ dar?
Glauben Sie mir: Niemals hätte ich gedacht, dass der Aufruf Sie beleidigen könnte. Zudem: Aus welchem Grund sollte sich ein Rabbiner kritisiert fühlen, wenn von einer neuen Weltordnung die Rede ist? Der Messias, den Israel erwartet, ist ein König, der Frieden schafft, er ist der Rex pacificus, Princeps pacis, Pater futuri saeculi, kein Tyrann ohne Sittlichkeit, der über die Welt herrscht, indem er die Menschen als Sklaven unterwirft. Dies trifft vielmehr auf den Antichristen zu.
Doch kommen wir zur spirituellen Bedeutung von Covid. Im Alten Testament gibt es viele Beispiele für Strafgerichte, die dem auserwählten Volk von Gott geschickt wurden, und die Propheten ermahnten die Hebräer viele Male, vom Götzendienst zu lassen, sich nicht mit den Heiden zu verunreinigen und dem einzig wahren Gott treu zu bleiben. Ich entsinne mich der Worte des Propheten Jeremia, geschrieben, nachdem Jerusalem im Jahr 585 vor Christus von babylonischen Truppen in Brand gesetzt worden war:
„Ihre Bedränger sind an der Macht, ihre Feinde im Glück. Denn Trübsal hat der HERR ihr gesandt wegen ihrer vielen Verfehlungen“ (Klagelieder 1,5).
Diese Sichtweise, die von der Kirche Christi geteilt wird, zeigt einen gerechten und barmherzigen Gott, der die Guten belohnt und die Bösen bestraft; der, wie ein liebevoller Vater, sogar die ungehorsamen Kinder bestraft, doch nur, um sie dahin zurückzubringen, seinem heiligen Gesetz zu folgen. Vor diesem Hintergrund versteht man, dass es dann gelingt, „das Negative ins Positive zu wenden, aus einem Fluch einen Segen zu machen“, wenn man eingesteht, eine Sünde begangen zu haben, den Bund mit Gott gebrochen zu haben, Seine Strafe verdient zu haben. Dann wird die Epidemie ein Anlass, sich Gott zuzuwenden, Ihn in Seinem heiligen Tempel anzubeten und Seine Gebote zu befolgen.
Es gab eine Zeit, in der sich, unter dem Gehorsam der Massen, eine höllische Diktatur mit einem verabscheuungswürdigen Verbrechen befleckte, indem sie schuldig wurde an der Deportation und Ermordung von Millionen unschuldiger Menschen, nur aufgrund ihres Glaubens und ihrer Abstammung. Schon damals priesen die Massen- oder Mainstream-Medien die Mächtigen und schwiegen zu ihren Verbrechen; schon damals stellten Ärzte und Wissenschaftler ihr Wirken in den Dienst eines wahnhaften Herrschaftsplans; schon damals wurde, wer es wagte, die Stimme zu erheben, bezichtigt, „Verschwörungstheorien“ zu verbreiten. Es musste erst das Ende des Zweiten Weltkriegs abgewartet werden, um mit Entsetzen die Wahrheit zu entdecken, die Viele bis dahin verschwiegen hatten.
Ich bin sicher, dass jene, die heute dem Aufruf als einem vermeintlichen Ausdruck von Verschwörungswahn die Legitimation absprechen, sich der wirklichen Gefahren, denen die Menschheitsfamilie ausgesetzt ist, nicht bewusst sind. Aber ich bin ebenso gewiss, dass sowohl Katholiken als auch allen Menschen guten Willens – zu denen ich glaube, auch die Kinder Abrahams zählen zu dürfen – die größere Ehre Gottes am Herzen liegt, die Achtung der Würde des Einzelnen und die Freiheit der Völker. Wohl dem Volk, dessen Gott der HERR ist (Psalm 143,15).
+ Carlo Maria Viganò, Erzbischof, Apostolischer Nuntius
22. Mai 2020, am Hochfest der Himmelfahrt unseres Herrn Jesus Christus
Bild: Stilum Curiae