
von Antonio Tortillatapa
Im Herbst 2002 ging im Abendprogramm des argentinischen Fernsehens eine mediale Bombe hoch:
Am 23. Oktober 2002 brachte die populäre Reportagesendung Telenoche Investiga die Meldung, daß mehrere Klagen wegen pädophilen Mißbrauchs gegen den im peronistischem Milieu beheimateten, telegenen und daher sehr bekannten „Straßenpriester“ und Medienstar Julio Cesar Grassi vorlagen.
Es war die Sendung mit der bis dahin bei weitem höchsten Zuschauerzahl (37,5% Einschaltquote).
Die gewaltige Brisanz der Grassi-Affäre war dem argentinischen Episkopat sofort klar:
Die Pest des breiten und tief infiltrierten pädophilen Mißbrauchs im kirchlichen Milieu in Nordamerika und Westeuropa, die seit der Mitte der 90er Jahren in Schüben aufgedeckt wurde, und die von Papst Johannes Paul II. in mehreren Sendschreiben deutlich verurteilt wurde, war damit auch in Argentinien nachgewiesen, und das in einem besonders eklatantem Fall.
Der südamerikanische Episkopat hatte sehr lange Zeit und ziemlich erfolgreich dieses Problem als ein rein ausländisches abgetan: Die Fälle in Brasilien und Chile (Karadima) wurden nach Möglichkeit vertuscht und in aller Stille „behandelt“ und ansonsten ausgesessen.
Und plötzlich war in Argentinien vor großem Publikum eine Eiterbeule dieser Pest geplatzt.
Die argentinische Justiz ermittelte sehr gründlich und fand sehr viel belastendes Material. Zugleich wurde von vielen Seiten (Peronisten vs. Montoneros) und mit starken Emotionen großer Druck auf die Ermittlungsorgane und auf die Justiz ausgeübt. Die argentinische Presse berichtete sehr ausführlich.
Der zuständige Bischof von Morón, Msgr. Justo Oscar Laguna (1929–2011, Bischof von Morón von 1980–2004)) merkte das besonders Brenzlige dieses Falles sofort. Wegen der politischen Komplexität und den damit verbundenen, vielfältigen Zusatzinteressen leitete er diesen Fall unmittelbar an Erzbistum Buenos Aires weiter, dessen Erzbischof damals Kardinal Jorge Mario Bergoglio war.
Die Sache eskalierte rasch: Ab 2003 wurden Kläger und Zeugen sehr „robust“ bedroht, eingeschüchtert, geschlagen und mit Feuerwaffen bedroht.
Die Presse schlachtete den Fall Grassi aus.
In ihrer Verzweiflung wandten sich die Kläger über ihren Rechtsanwalt Juan Pablo Gallego an Kardinal Bergoglio.
Im Gegensatz zum damaligen Bischof von Morón, Msgr. Laguna, und zum argentinischen Präsidenten, Nestor Kirchner,blieb Bergoglio taub. Bergoglio empfing die Opfer trotz ihrer Bitte nicht zu einer persönlichen Unterredung.
Beim Konklave von 2005 spielte das Thema des pädophilen Mißbrauchs in der Kirche eine äußerst wichtige und vielleicht sogar entscheidende Rolle.
Kardinal Joseph Ratzinger, der schon ab 1995 die pädophile Pest engagiert bekämpft hatte, wurde zum Papst Benedikt XVI. gewählt.
Sein europäischer Konkurrent, der belgische Kardinal Godfried Danneels, modernistisch gesinnt und chronisch in pädo-und homophile Skandale verstrickt, konnte sich nicht durchsetzen (und ging 2011 im Strudel des Van Gheluwe-Skandals unter – jedenfalls schien es damals so).
Das unter Danneels produzierte und von ihm verteidigte Religionsunterrichtsbuchs Roeach3 mit zur Pädophilie hinführenden obszönen Zeichnungen wurde vor der Konklave als Information den Kardinälen verteilt.
Kardinal Bergoglio, damals schon papabile, hatte damit die Auswirkungen des pädophilen Mißbrauchs auf die Weltkirche kennengelernt.
2006 kam der Rechtsanwalt der Grassi-Opfer „Ezequiel“ und „Luis“, Juan Pablo Gallego, nach eigenen Aussagen und mit mehreren Zeugen, erstmalig in persönlichen Kontakt mit Erzbischof Kardinal Bergoglio.
Gallego berichtete von der Begegnung, der Erzbischof habe ihm gesagt, „zu seiner Verfügung“ zu stehen und „war interessiert, was im Fall Grassi geschehen werde“.
Gallego antwortete, daß bei einer Verurteilung wegen so vieler Fälle mit einem Strafmaß von etwa 20 Jahren Haft zu rechnen sei, was der Umgebung von Bergoglio überhaupt nicht gefiel. Carlos Irisarri, Grassis Verteidiger, hatte stets versichert, daß Grassi auch bei einer Verurteilung – wenn überhaupt – nur bis zu sechs Monate Haft riskierte.
Dabei wurde auf die große Rolle der Berufungsinstanz und des argentinischen Kassationsgerichts verwiesen.
Irrisari: „Der Gerichtshof (in Berufung) kann die Verurteilung aufheben; er kann die Verurteilung für nichtig erklären oder auch teils zurückweisen. Es gibt mehrere Möglichkeiten“.
Kurz gesagt: Alles liege in den Händen des Berufungsgerichts. Über substantielle, entlastende Beiträge in der Sache seitens der argentinischen Kirche ist nirgendwo etwas vermerkt.
Am 10. Juni 2009 wurde Don Julio Cesar Grassi vom Tribunal N°1 von Morón wegen Mißbrauchs von Jugendlichen zu einer Gefängnisstrafe von 15 Jahren verurteilt.
Im Sommer 2010 bestätigte die Zweite Kammer des Kassationsgerichtes von Buenos Aires das erstinstanzliche Urteil. Grassi focht das Urteil an und ging in Berufung vor das Höchstgericht
Kurz danach, im September 2010, beauftragte die Argentinische Bischofskonferenz unter Leitung von Kardinal Bergoglio, damals Erzbischof von Buenos Aires und Primas des Landes, den angesehenen Rechtsgelehrten und Rechtsanwalt Marcelo Sancinetti mit einer Studie zum Fall Grassi und dem Urteil des Tribunal N°1 von Morón.
Die Argentinische Bischofskonferenz waren dabei gespalten: Mehrere Bischöfe, die Grassi persönlich kennengelernt hatten (darunter auch Erzbischof Hector Ruben Aguer von La Plata), lehnten diese Verteidigungsoperation ab.
Primas Bergoglio drückte die Sache jedoch gegen die Widerstände durch.
Mario Sancinetti war nicht irgendein Jurist: Er hatte 35 Jahre juristischer Erfahrung, war Autor von 30 Fachbüchern, Titularprofessor an der Universität von Buenos Aires und Beisitzer in Kommissionen der beiden Kammern des Argentinischen Parlaments. Zusätzlich gehörte er den höchsten juristischen Standesvertretungen des Landes an und war in den führenden politischen Milieus hervorragend vernetzt.
Sancinetti legte ein schwergewichtiges Werk „Estudios sobre el caso Grassi“ (Studie über den Fall Grassi) vor mit 2600 Seiten (mehr als Krieg und Frieden von Tolstoi), das es in sich hat.
Zwischen 2010 und Juli 2013 erschienen vier Bände als privater Druck, ohne Impressum, ohne Kolophon, – veranlaßt von Kardinal Bergoglio und der Argentinischen Bischofskonferenz.
Unklar blieb, was dieses Werk bezwecken sollte.
Es enthält kein neues Aktenmaterial. Stattdessen werden darin die Aussagen der Opfer durchgehend als unwahr und gelogen dargestellt, die Opfer als psychisch krank abgestempelt, Grassi als Unschuldslamm geschildert, das von einer verbissenen Verschwörung gegen seine Person, gegen seine hehren Ideale und seine großen Ziele und sozialen Erfolge verfolgt wird.
Es wurden keine relevanten neuen Fakten und Indizien vorgelegt. Die auffällige psychischen und forensisch-psychiatrischen Untersuchungen bei Grassi wurden unterschlagen. Mehrmals wurde mit schwülstiger Sprache betont, daß es sich bei dem vierbändigen Werk nicht um eine Abrechnung mit den Opfern handle, sondern nur um die „Verteidigung der Wahrheit, der Ehre und der Gerechtigkeit“ (sic).
Für die Studie wurde auch die Mitarbeit von zwei Juristen aus Düsseldorf bemüht.
Kurz gesagt: Es handelte sich nicht um eine Dokumentation des Falls Grassi, sondern um einen großangelegten Versuch, Grassi nachträglich von jeglicher Schuld reinzuwaschen.
Das Buch kam nie in den Buchhandel. Es konnte nicht gekauft werden. Es wurde aber breit verteilt und zwar an alle Juristen an den höheren Gerichten und Justizgremien, die sich eventuell mit dem Urteil beschäftigen könnten.
Insoweit war es ein plumper Versuch, die argentinische Justiz in diesem kruden Fall zu beeinflussen.
Die Verteidigung eines pädophilen und homophilen Priesters durch die Spitze des Episkopats.
An das Buch wollen sich die meisten damaligen Richter und Staatsanwälte in Argentinien nicht mehr erinnern.
Einige Exemplare sind jedoch übriggeblieben. Zudem wurde das Werk seinerzeit in der argentinischen Presse ausführlich besprochen.
Besonders merkwürdig ist die Aufmachung: offensichtlich broschiert und jeweils mit einem Ausschnitt eines Gemäldes von Joannes Vermeer auf dem Umschlag.
Es handelt sich um das Bild „Briefschreiberin mit Dienstboten“, die neue Nachricht von der Magd am hellen Fenster bekommt; die „Briefleserin in Blau“, die selbst Geheimnis und neues Leben tragend, liebe Post mit Nachrichten von außen bekommt; die „Briefschreiberin in Gelb“, die mit der Perle (der Wahrheit) spielt und sinniert; „Der Geograph“, der mit seinem Zirkel die Distanzen neu vermißt.
Kurzum, alles Symbole für eine totale Neubewertung des Falls Grassi und wohl auch mit freimaurerischen Chiffren, um bei der in Argentinien und besonders in der Justiz üppig florierenden Freimaurerei um Sympathien zu werben.
Über etwaige Copyrightanfragen oder entsprechende Vergütungen (alle diese Werke von Vermeer befinden sich in Westeuropa) ist nichts bekannt.
Genauso merkwürdig ist, daß die ersten drei Bände jeweils einem Opfer (und Ankläger) Grassis gewidmet wurden: an „Ezequiel“, an „Gabriel“ und an „Miquel“. Viel Logik kann darin nicht gefunden werden, außer, es sollte sich um eine nachträgliche Sublimierung von homoerotischen Gelüsten und einer theatralischen Darstellung eines präsumierten Märtyrertums Grassis handeln.
Ganz pikant wird die Geschichte dann im letzten Band (erschienen im Sommer 2013).
Darin entschuldigte sich Sancinetti, „daß diese Arbeit so langsam vorangegangen ist“, und widmete den vierten Band und das gesamte Werk „S.E. Kardinal Bergoglio, damals Erzbischof von Buenos Aires und inzwischen zum Papst gewählt“.
Die Argentinische Bischofskonferenz war offensichtlich so begeistert von diesem Mammutwerk, daß eine Delegation Anfang 2014 eigens nach Rom flog, um es dort zu präsentieren.
In Rom war man darüber überhaupt nicht begeistert.
Grassi war schon am 27. November 2012 vor dem Höchstgericht gescheitert, und seine Verurteilung war Anfang Januar 2013 bestätigt worden.
Bis dahin befand sich Grassi merkwürdigerweise auf freiem Fuß. Im Sommer 2013 wurde er plötzlich verhaftet und für volle fünf Jahre Haft eingesperrt.
Kein Mensch möchte sich noch an ihn erinnern.
2016 wurde Grassi wegen finanziellen Betrugs und Steuerhinterziehung in einem besonders schweren Fall (Stiftung Felices los Ninos) zu einer neuen Gefängnisstrafe von 15 Jahren verurteilt. Grassi dürfte nach derzeitigem Stand erst 2033 aus dem Gefängnis entlassen werden. Papst Franziskus wäre dann etwa 96 Jahre alt.
Er wurde quasi lebendig begraben.
Die finanziellen Missetaten Grassis wurden von kirchlicher Seite übrigens nicht kommentiert.
Marcelo Sancinetti, der berühmte Jurist und Autor dieses merkwürdigen Werks, schweigt. Auf Nachfrage der argentinischen Presse gaben seine Sekretärinnen lediglich die dürftige Auskunft, daß „der Herr Professor in dieser Sache keine Auskünfte gibt“.
Antonio Tortillatapa veröffentlichte zum Thema bereits den Aufsatz: Der Fall Grassi.
Quellen:
- Wikipedia-Eintrag (spanische Ausgabe): Julio Cesar Grassi
- Cuatro libros encargados por el Papa aseguran que el padre Grassi es inocente, Infobae.
- «Caso Grassi: la causa que desvela al papa Francisco». Infobae.
Text: Antonio Tortillatapa
Bild: InfoCatolica
Der höchste Richter wird mit ihm nicht so gnädig umgehen.
Ganz sicher aber nicht mit seinen Helfershelfern.
Man stelle sich übrigens einmal vor:
Papst Benedikt hätte sich da nur 10 % in so einer Sache zuschulden kommen lassen. Da wär aber was los gewesen.
In einer benachbarten Kirchengemeinde ist mir noch etwas aufgefallen.
Dort werden seit etwa 1 1/2 Jahren mehr oder weniger regelmäßig während der hl.Messe zig Exemplare der deutschsprachigen Ausgabe des „L’OSSERVATORE ROMANO“ hinter die Scheibenwischer der dort parkenden Autos geklemmt.
Das gab es während vorhergehender Pontifikate nie.
Soll hier ein wenig Politik zugunsten von Papst Franziskus gemacht werden, oder ist alles nur Zufall.
Einigermaßen kostspielig dürfte das schon sein, denn es parken dort immer mindestens 50 oder mehr Autos dort.