
Welchen Zusammenhang gab es zwischen John Henry Kardinal Newman, dem katholischen Denker, Kulturkritiker und Schriftsteller Theodor Haecker, dem Mitglied der Weißen Rose Sophie Scholl und Papst Benedikt XVI.? Eine Spurensuche.
1936. Deutsches Reich. Das nationalsozialistische Regime verhängt gegen Theodor Haecker, den sprachmächtigen Kulturkritiker und einen der bedeutendsten katholischen Schriftsteller seiner Zeit ein Redeverbot. Der Schriftsteller hatte Adolf Hitler 1923 als „Bestie“ bezeichnet. 1938 folgt auch ein Publikationsverbot. Ihm ist nur mehr erlaubt, Übersetzungen vorzunehmen. Haecker stürzt sich auf die Übersetzung eines Autors, den er bereits in den 20er Jahren schätzengelernt hat: John Henry Newman. Dem ehemaligen Anglikaner, der zur katholischen Kirche konvertiert ist, folgt auch der Lutheraner Haecker. Auf der Suche nach der Wahrheit konvertiert der von Kierkegaard begeisterte Schriftsteller 1921 ebenfalls zum katholischen Glauben, da er dort geistige Heimat gefunden hat. Nach den ihm vom Staat auferlegten Verboten nützt er die Zeit, um die Schriften Kardinal Newmans zu übersetzen und so auch einem breiteren deutschen Publikum zugänglich zu machen in einer Zeit des „verseuchten Denkens“.
Newman: das Gewissen als „Stimme Gottes“
1942. Zweiter Weltkrieg. Ein junger Leutnant der Wehrmacht wird an die Ostfront nach Mariupol (Stadt Mariens) am Asowschen Meer in der Ost-Ukraine versetzt. Seine Verlobte schickt ihm ein Buch nach. Nachdem er es gelesen hat, bedankt er sich für diese „Tropfen kostbaren Weines“. In seinem Schreiben an die Verlobte beklagt er, daß sich das Regime auf die Natur als Vorbild für „unsere Aktionen“ berufe und deren Grausamkeit als „groß“ beschrieben werde. „Wir aber wissen, von wem wir geschaffen wurden“, und daß der Mensch in einer moralischen Pflicht gegenüber seinem Schöpfer steht. „Das Gewissen gibt die Fähigkeit, zwischen gut und böse zu unterscheiden.“
Dieser Offizier verläßt mit dem letzten Flug Stalingrad vor der völligen Einkesselung der 6. deutschen Armee durch die Rote Armee. So überlebt er jenen Wendepunkt des Krieges im Osten. Als er nach Deutschland zurückkehrt, erfährt er, daß seine Verlobte tot ist. Er heißt Fritz Hartnagel, seine Verlobte Sophie Scholl. Der Autor des Buches, das Hartnagel durch seine Verlobte im Schützengraben an der Front las, war John Henry Newman. Die Übersetzung ins Deutsche stammte von Theodor Haecker. Seine geliebte Sophie war vom nationalsozialistischen Volksgerichtshof zum Tode verurteilt und hingerichtet worden. Sie war aktives Mitglied der Widerstandsgruppe Weiße Rose an der Universität München. Der wesentlich ältere Theodor Haecker, den Hans Scholl, der Bruder von Sophie 1941 kennengelernt hatte, war ihr Mentor gewesen. Bei den regelmäßigen Treffen, die es zwischen Haecker und den jungen Leuten gab, machte er sie mit dem Denken und den Schriften Newmans bekannt, vor allem mit dessen Gedanken über das Gewissen als „Stimme Gottes“. Im Gewissen sah er einen sicheren Schutzschild gegen atheistische Ideologien, damals vor allem des Nationalsozialismus. Newman war das heilsame Gegenmittel gegen Friedrich Nietzsche. So fand der junge Fritz Hartnagel an der Front geistliche Stärkung durch Predigten des jungen Newman, die dieser noch als anglikanischer Geistlicher in Saint Mary in Oxford gehalten hatte. Newman veranlaßte nach seiner Konversion zum katholischen Glauben eine völlig unveränderte Neuausgabe. „Konfessionelle Korrekturen“ waren nicht notwendig, der Anglikaner Newman war in seinem Inneren bereits vor seiner offiziellen Rückkehr in die eine, heilige, katholische und apostolische Kirche längst Katholik gewesen.
1946. Freising. Im Priesterseminar der Erzdiözese München-Freising liest ein junger Seminarist mit größtem Interesse die Schriften John Henry Newmans, die erst seit kurzem in Deutschland durch die Übersetzungen Theodor Haeckers zur Verfügung stehen. Haecker war kurz vor Kriegsende in Schwaben verstorben. München hatte er verlassen müssen, da sein Wohnhaus bei einem alliierten Luftangriff zerstört worden war. Der junge Seminarist heißt Joseph Ratzinger.
Fast 65 Jahr später sprach er als Papst Benedikt XVI. den großen englischen Denker und Kardinal der katholischen Kirche selig. Die Bedeutung läßt sich auch daran ermessen, daß er persönlich die Seligsprechung in England vornahm, obwohl Seligsprechungen nach seiner eigenen Anordnung von den Ortsbischöfen durchgeführt werden sollten, während dem Papst die Heiligsprechungen vorbehalten sind. Es war auch dies ein Zeichen des Dankes für jenen Mann des Denkens und des Glaubens, der den verwirrten deutschen Katholiken (aber nicht nur diesen, wie das Beispiel Theodor Haeckers zeigt), ein Licht in der dunklen Verwirrung der Geister war. „Windlicht“ hieß auch der Rundbrief der Weißen Rose. In die Flugschriften der jungen deutschen Studenten fanden über Theodor Haecker eine Reihe von Gedanken John Henry Newmans Eingang.
Text: Tommaso Ricci/Il sussidiario
Übersetzung und Ergänzung: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons