(Rom) Kopfzerbrechen bereitet in der Kirche weiterhin, was genau Papst Franziskus mit den von ihm wiederholt gebrauchten und kritisierten Begriffen „gnostisch“ und „pelagianisch“ meint. Verschiedene Autoren versuchten bereits eine Interpretation, ohne das Rätsel wirklich lösen zu können. Der Vatikanist Sandro Magister spricht von „unverständlichen Epitheta“. Der bekannte US-amerikanische Theologe und Kapuziner Thomas G. Weinandy hat einen neuen Dechiffrierungsversuch unternommen.
Die Frage ist deshalb so kompliziert, ja geradezu undurchsichtig, weil Papst Franziskus – darin zumindest herrscht ziemliche Übereinstimmung – beide Begriffe, ob adjektivisch oder substantivisch, nicht in ihrer ursprünglichen Bedeutung, sondern nach Meinung mancher sogar in ihrem Gegenteil verwendet.
Bezeichnend dafür ist das Gesprächsbuch mit dem französischen Soziologen Dominique Wolton. Darin bezichtigt Franziskus sogar den französischen Mathematiker und Philosophen Blaise Pascal, ein „Pelagianer“ zu sein. Pascal ging mit seinen wortgewaltigen Les Provinciales, seinen „Briefen aus der Provinz“ von 1656/1657, jedoch für das genaue Gegenteil in die Geschichte ein.
„Mit diesem Meisterwerk entlarvte er , das stimmt, den Pelagianismus vieler Jesuiten seiner Zeit“, so der Vatikanist Sandro Magister.
Im programmatischen Dokument seines Pontifikats, dem Apostolischen Schreiben Evangelii gaudium vom 24. November 2013, widmete Franziskus einen ganzen Paragraphen, die Nummer 94, „dem, was diese beiden Epitheta für ihn bedeuten“.
Magister weiter:
„Dann aber gebrauchte er sie auf so lockere und austauschbare Weise, daß sich sogar die Glaubenskongregation in ihrem jüngsten Schreiben an die Bischöfe Placuit Deo veranlaßt sah, ein bißchen Ordnung in die Sache zu bringen, indem sie darlegte, worin die beiden ‚Abweichungen‘ wirklich bestehen, die heute in der Kirche vorhanden sind und ‚in einigen Punkten Ähnlichkeiten mit zwei alten Häresien, nämlich dem Pelagianismus und dem Gnostizismus, aufweisen‘.“
Auch diese Richtigstellung zeitigte jedoch, so Magister, „keine erkennbaren Auswirkungen auf Papst Franziskus, der die beiden Begriffe weiterhin auf diffuse Weise“ als Hauptschlagworte seiner Kritik gebraucht. Dabei vermeidet es Franziskus, die Zielscheiben seiner Angriffe direkt beim Namen zu nennen. Er formuliert jedoch so, daß das Publikum versteht, wer gemeint ist. Auf diese nur bedingt verschleierte Weise bezichtigte er, so Magister, nicht minder „unverdienterweise und völlig unangemessen“ Kardinal Robert Sarah, den Präfekten der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung des „Gnostizismus“, wie er Blaise Pascal des „Pelagianismus“ bezichtigte.
In dieses Dickicht des Vokabulars päpstlicher Schelten versucht der US-Theologe und Kapuzinerpater Thomas G. Weinandy Klarheit zu bringen. P. Weinandy war international bekannt geworden, als er am 31. Juli 2017, am Fest des heiligen Ignatius von Loyola, des Gründers des Jesuitenordens, dem Franziskus angehört, dem Papst einen Offenen Brief schrieb. Weinandy fühlte sich von seinem Gewissen dazu gedrängt wegen des „Chaos in der Kirche“, als dessen Ursache er Franziskus selbst ausmachte.
Der kühne und beherzte Schritt hatte für den Kapuziner umgehend Konsequenzen. Am 1. November 2017 mußte er als Berater der Glaubenskommission der US-Bischofskonferenz zurücktreten. Zugleich gab der Vorsitzende der Bischofskonferenz, Erzbischof Daniel Kardinal DiNardo von Galveston-Houston, eine Huldigungsnote gegenüber Papst Franziskus ab, was einer zusätzlichen Distanzierung von P. Weinandy gleichkam.
Pater Weinandy zeigt in seinem neuen Aufsatz, der in den USA am 7. Juni von The Catholic Thing veröffentlicht wurde, daß der Disput um den „Neo-Gnostizismus“ keineswegs marginal ist. Er berühre nämlich den Wandel, der in der katholischen Kirche im Gange ist. Ein Wandel, der von Papst Franziskus angestoßen wurde, „der von einigen gefürchtet und kritisiert, von anderen begeistert unterstützt wird“, so Magister.
Die Gnosis heute
von Thomas G. Weinandy OFM Cap
Über das Vorhandensein einer neuen Gnosis innerhalb der katholischen Kirche wird heute viel diskutiert. Etwas von dem, was geschrieben wurde, ist nützlich, aber vieles von dem, was als „Wiederbelebung“ dieser Häresie beschrieben wurde, hat wenig mit seinem antiken Vorläufer zu tun. Darüber hinaus sind die Zuschreibungen dieser uralten Häresie auf verschiedene Strömungen des heutigen Katholizismus in der Regel falsch. Um Klarheit in diese Diskussion über die Neo-Gnosis zu bringen, ist es zunächst notwendig, ein klares Verständnis davon zu haben, was sie in der Antike war.
Der alte Gnostizismus trat in verschiedenen Formen auf, oft ziemlich verschlungen, aber mit einigen klar erkennbaren Merkmalen:
- Erstens, die Gnosis vertritt einen radikalen Dualismus: Die „Materie“ ist die Quelle allen Übels, während der „Geist“ der göttliche Ursprung alles Guten ist.
- Zweitens bestehen die Menschen sowohl aus Materie (dem Körper) als auch aus Geist (der den Zugang zum Göttlichen ermöglicht).
- Drittens besteht die „Erlösung“ darin, das wahre Wissen zu erlangen, die „Gnosis“, eine Erleuchtung, die es ermöglicht, von der materiellen Welt des Bösen in das spirituellen Reich und schließlich zur Gemeinschaft mit der höchsten, immateriellen Gottheit voranzuschreiten.
- Viertens traten mehrere „gnostische Erlöser“ auf, von denen jeder behauptete, diese Erkenntnis zu besitzen und Zugang zu dieser „erlösenden“ Erleuchtung zu bieten.
Angesichts dessen werden die Menschen in drei Kategorien unterteilt:
- die „Sarkischen“ oder „Körperlichen“, die gefangen in der materiellen oder körperlichen Welt des Bösen unfähig sind, die „erlösende Erkenntnis“ zu erlangen;
- die „Psychischen“ oder „Geistigen“, die teils in die körperliche Realität gezwungen, teils in das Geistreich initiiert sind (innerhalb des „christlichen Gnostizismus“ sind es jene, die durch bloßen „Glauben“ leben, da sie nicht die Fülle der göttlichen Erkenntnis besitzen, sie sind nicht vollständig erleuchtet und müssen sich daher auf das verlassen, was sie „glauben“;
- schließlich gibt es die „Gnostiker“, die zur vollen Erleuchtung fähig sind, weil sie die Fülle der göttlichen Erkenntnis besitzen. Dank ihres heilbringenden Wissens können sie sich vollständig von der bösen, materiellen Welt lösen und zum Göttlichen aufsteigen. Sie leben und werden gerettet nicht durch den „Glauben“, sondern durch das „Wissen“.
Verglichen mit der alten Gnosis erscheint das, was im heutigen Katholizismus als Neo-Gnosis präsentiert wird, ebenso verworren wie zweideutig und falsch. Einige Katholiken werden des Neo-Gnostizismus beschuldigt, weil sie – so wird behauptet – glauben, gerettet zu sein, weil sie sich an unflexible und leblose „Lehren“ halten und strikt einen starren und rücksichtslosen „Moralkodex“ befolgen. Sie verkünden, die Wahrheit zu „kennen“ und fordern daher, daß diese bestätigt und vor allem befolgt wird. Diese „neo-gnostischen Katholiken“, so wird behauptet, sind nicht offen für die neue Bewegung des Geistes in der Kirche von heute. Eine Bewegung, die oft als „das neue Paradigma“ bezeichnet wird.
Natürlich kennen wir alle Katholiken, die sich so verhalten, als wären sie anderen überlegen. Die ihr volles Verständnis der Dogmatik oder der Moraltheologie zur Schau stellen, um andere der Nachlässigkeit zu bezichtigen. Dieser selbstgerechte Moralismus ist nichts Neues. Dieses sündhafte Überlegenheitsgefühl gehört jedoch in die Kategorie des Stolzes und ist für sich genommen keine Form der Gnosis.
Es wäre nur dann richtig von „Neo-Gnosis“ zu sprechen, wenn die solchermaßen Angeklagten ein „neues Heils-Wissen“ verbreiten würden, eine neue Erleuchtung, die sich von der Heiligen Schrift, wie sie traditionell verstanden wird, und von dem was authentisch von der lebendigen Tradition des Lehramtes gelehrt wird, unterscheidet.
Diese Beschuldigung kann aber nicht gegen „Lehren“ formuliert werden, die mitnichten leblose und abstrakte Wahrheiten, sondern wunderbarer Ausdruck der zentralen Realitäten des katholischen Glaubens sind: die Dreifaltigkeit, die Menschwerdung, der Heilige Geist, die Realpräsenz Christi in der Eucharistie, das Gesetz Jesu der Gottes- und der Nächstenliebe, das die Zehn Gebote widerspiegelt, usw. Diese „Lehren“ definieren das, was die Kirche war, ist und immer sein wird. Es sind die Lehren, die sie zur einen, heiligen, katholischen und apostolischen machen.
Zudem sind diese Lehren und diese Gebote keine esoterische Lebensform, die Menschen zu irrationalen und rücksichtslosen Gesetzen verführt, die von außen durch eine tyrannische Autorität auferlegt werden. Vielmehr sind diese „Gebote“ von Gott selbst in seiner barmherzigen Liebe der Menschheit gegeben worden, um ein heiliges Leben und ein Leben nach dem Ebenbild Gottes zu garantieren.
Jesus, der fleischgewordene Sohn des Vaters, hat uns zudem die Lebensform geoffenbart, die wir in Erwartung seines Reiches zu leben haben. Wenn Gott uns sagt, daß wir etwas niemals tun dürfen, schützt er uns vor dem Bösen, dem Bösen, das unser menschliches Leben zerstören kann, Leben, das er nach seinem Bild und Gleichnis geschaffen hat.
Jesus hat uns durch sein Leiden, seinen Tod und seine Auferstehung vor der Zerstörung durch die Sünde gerettet und seinen Heiligen Geist ausgegossen, gerade um uns die Kraft zu geben, ein wirklich menschliches Leben zu führen. Die Förderung dieser Lebensweise bedeutet nicht, ein neues rettendes Wissen zu verbreiten. In der alten Gnosis hätten die Gläubigen – Bischöfe, Priester, Theologen und Laien – sie als „Psychische“ bezeichnet. Die Gnostiker hätten auf sie herabgesehen, gerade weil sie kein einzigartiges oder esoterisches „Wissen“ für sich in Anspruch nehmen können. Sie sind gezwungen, allein aus dem Glauben an die Offenbarung Gottes zu leben, wie sie von der Kirche verstanden und getreu weitergegeben wird.
Diejenigen, die heute fälschlicherweise andere des Neo-Gnostizismus beschuldigen, behaupten eine Notwendigkeit – wenn sie sich dem Kern der doktrinären und moralischen Fragen des wirklichen Lebens stellen –, persönlich danach zu suchen, was Gott von ihnen möchte. Sie ermutigen die Menschen, ganz allein im moralischen Dilemma, in dem sie in ihrem existentiellen Kontext stehen, durch Unterscheidung die beste Vorgehensweise zu erkennen. Das heißt, das erkennen, was sie in diesem Moment tun können. Auf diese Weise bestimmt das eigene Gewissen des Einzelnen, seine persönliche Gemeinschaft mit dem Göttlichen, was die moralischen Notwendigkeiten in den persönlichen Umständen des Individuums sind. Was die Schrift lehrt, was Jesus bekräftigt hat, was die Kirche durch ihre lebendige, lehramtliche Tradition vermittelt, wird durch ein höheres „Wissen“, durch eine fortgeschrittenere „Erleuchtung“ ersetzt.
Wenn es in der Kirche von heute ein neues, gnostisches Paradigma gibt, scheint es das zu sein. Dieses neue Paradigma zu vertreten, bedeutet, zu behaupten, daß es wirklich ein „Im Wissen“-Sein gibt, einen speziellen Zugang zu dem zu haben, was Gott zu uns als Individuen hier und jetzt sagt, auch wenn das über das hinausginge und sogar dem widersprechen würde, was Er allen anderen in der Schrift und in der Tradition geoffenbart hat.
Es ist zu hoffen, daß zumindest niemand, der dieses Wissen behauptet, jene als Neo-Gnostiker verspottet, die einfach vom „Glauben“ an die Offenbarung Gottes leben, wie es von der Tradition der Kirche gelehrt wird.
Ich hoffe, daß diese Darlegung etwas Klarheit in die aktuelle kirchliche Diskussion über die zeitgenössischen „katholische“ Gnosis bringt, indem sie in den richtigen historischen Kontext gestellt wird. Die Gnosis kann nicht als ein Epitheton gegen jene „unerleuchteten“ Gläubigen benutzt werden, die einfach mit Hilfe der Gnade Gottes zu handeln versuchen, wie die göttlich inspirierte Lehre der Kirche sie zu handeln auffordert.
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Vatican.va/Teologia riformata/Settimo Cielo (Screenshots)
Pelagianismus und Gnosizismus sind hauptsächlich heidnische Selbsterlösungslehren, wobei das uns erlösende Opfer Christi nebensächlich und entbehrlich war.
In der Antike bedeutete Gnosis in erster Linie „Selbsterlösung“ durch Erkenntnis. Gnostische Lehren vermischten die christl. Lehre mit babylon.-chaldäischen und syrisch-phönizischen Lehren und Mythen, heidnischen Ideenlehren und magischen Künsten usw. Als erster christl. samarit. Gnostiker oder magietreibender Pseudochrist gilt Simon, der gem. Apostelgeschichte 8, 9 bis 13 sich später dem wahren Christentum zuwandte und als solcher nach seiner Taufe mit Philippus zusammenarbeitete. Synkretische gnostische Selbsterlösungslehren gibt es bis heute (z.B. theosophische und anthroposoph. Lehren usw),
Auch der Pelagianismus ist eine Selbsterlösungslehre. Der Häretiker Pelagius lehnte hauptsächlich die biblische Erbsündelehre ab. Ohne Erbsünde war auch hier das sündensühnende Opfer Christi nebensächlich bzw. nicht unbedingt notwendig, so dass die Selbsterlösung bei Pelagius darin bestand, immer sündenlos zu leben, um so zum Göttlichen aufsteigen zu können.
Beide antike Selbsterlösungslehren nannten sich christlich, waren aber keine wahren christlichen Lehren. Man konnte sie auch als „ein anderes Evangelium oder konträre Lehre“ bezeichnen, vor der Paulus warnte, insofern Rettung nur durch Christus möglich ist.
In diesem Zusammenhang ist Gnostizismus und Pelagianismus immer eine Abweichung vom wahren christlichen Glauben, der sich darauf versteift, dass Selbsterlösung zum Heil führt und dass das Opfer Christi (wegen nicht vorh. Erbsünde und weil außerbibl. Erkenntnis wichtiger sei als die Bibellehre) nicht als sündensühnendes Opfer zu vestehen sei.
Daher kann man Neo-Gnostizismus + Neo-Pelagianismus immer nur als häretische Abweichung vom wahren christl. Glauben verstehen, die Selbsterlösung statt Erlösung durch Christus lehrt.
Das hat wenig damit zu tun, wie es der Papst und Philosoph Franziskus heute versteht, wenn Philosophie davon ausgeht, dass aus dem Gnostizismus der Rationalismus, Humanismus und Kommunismus entstand.