
(Rom) Die abrupte Wende von Papst Franziskus im Fall Barros wirft Fragen auf. Nicole Winfield, Vatikanistin der Presseagentur Associated Press (AP) schrieb am 1. Februar:
„Chile-Fiasko: Ist der Papst gut informiert?“
Der Fall Karadima, des einst hochangesehenen Priesters, der sich des sexuellen Mißbrauchs schuldig gemacht hatte, erschüttert nach wie vor das Verhältnis der Chilenen zur katholischen Kirche. Der Fall von Bischofs Juan Barros Madrid ist der Fall im Fall. Der Zögling Karadimas wurde von Papst Franziskus 2015 zum Diözesanbischof von Osorno ernannt, obwohl gegen ihn von Karadima-Opfern heftige Vorwürfe erhoben wurden.
Alle Kritik ließ Franziskus seither an sich abperlen. Auch während seines Chile-Besuches gab es keine Begegnung mit den Kritikern der Bischofsernennung. Vielmehr verteidigte der Papst die Ernennung ohne Wenn und Aber.
Die Wende im Fall Barros
Das empörte nicht nur die lauten, aber letztlich ohnmächtigen Opfer, sondern auch ein Schwergewicht in der Kirchenhierarchie. Kardinal Sean O’Malley OFM Cap, der Erzbischof von Boston, ist Mitglied des C9-Kardinalsrates und Vorsitzender der Päpstlichen Kinderschutzkommission. Der Kardinal hielt sich bisher mit Kritik völlig bedeckt. Um so überraschender kam die deutliche Kritik. Papst Franziskus muß deren Bedeutung sofort erkannt haben. Die Kritik erfolgte nicht zu einer nur die katholische Kirche betreffenden Frage, sondern zu einem Mainstream-Thema.

Auf dem Rückflug aus Lateinamerika verteidigte Franziskus am 21. Januar vor den Journalisten noch einmal stehenden Fußes seine Ernennung. Heckenschützen nahmen in den folgenden Tagen sogar Kardinal O’Malley ins Visier. Am 30. Januar folgte dann die überraschende Wende. Derselbe Papst, der bisher nichts und noch einmal nichts von der Kritik an seiner Ernennung von Bischof Barros wissen wollte, derselbe Papst, der auf dem Rückflug enthüllte, daß er sogar persönlich zweimal den von Barros angebotenen Rücktritt abgelehnt hatte, ernannte Erzbischof Charles Scicluna zum Sondergesandten mit dem Auftrag, sich mit den Opfern und Kritikern zu treffen.
Scicluna, ein lupenreiner Karrierist, machte sich als Strafverfolger in sexuellen Mißbrauchsfällen einen Namen. Die Wende in der päpstlichen Haltung läßt rätseln. Franziskus war selbst erst einige Tage in Chile und hätte dort alle Gelegenheit gehabt, persönlich durch Worte und Taten geeignete Schritte zu setzen. Stattdessen tat er erst elf Tage später, wieder in Rom, was er dort zur Verbitterung der Karadima-Opfer verweigert hatte.
Warum?
Als Hauptfaktor gilt, daß er geglaubt und gehofft hatte, die Sache ausgesessen zu haben. Die Kritik von Kardinal O’Malley machte nicht nur diese Hoffnung zunichte, sondern machte aus der Sache erst einen wirklich internationalen Fall.
Hängt also alles vom öffentlichen Gewicht der Zurufer ab?
Kardinal Müller: Papst bedient sich „nicht angemessener Kanäle“
Welche Antwort ist auf die Frage von Nicole Winfield („Ist der Papst gut informiert?“) zu geben?

Eine Reihe wohlwollender Journalisten nahmen Franziskus in den vergangenen Tagen in Schutz, indem sie den Eindruck erweckten, er sei nicht ausreichend informiert gewesen.
Kardinal Gerhard Müller gab in anderem Zusammenhang eine andere Antwort auf dieselbe Frage. Am 20. Oktober 2017 war er Gast der Tagung „Leader or Follower?“ der Stiftung Iniziativa Subalpina in Stresa. Der von Franziskus entlassene Glaubenspräfekt zeichnete ein düsteres Bild der päpstlichen Umfeldes. Franziskus umgebe sich mit Spitzeln und Denunzianten. Im Gespräch zwischen dem Moderator Massimo Franco (Corriere della Sera) und dem Kardinal findet sich auch folgende Frage-Antwort.
Massimo Franco: Sie sagen, daß sich der Papst über die Aktivitäten in den Kongregationen nicht über die Präfekten informiert, sondern durch Personen, die offensichtlich sein Vertrauen genießen, die aber – laut Ihrer Meinung – nicht die angemessenen Kanäle sind, daß der Papst sich Informationen holt. Ist das richtig?
Kardinal Gerhard Müller: So ist es in meiner Kongregation geschehen.
Winfield sieht nach dem Fall Barros das Informationssystem des Papstes in der Kritik. Franziskus habe den regulären Informationsweg seiner eigenen Dikasterien eliminiert. Dieser interessiere ihn nicht. Stattdessen bevorzuge er irreguläre, informelle Informationskanäle.
Anders ausgedrückt: Seinen zuständigen Mitarbeiter an der Römischen Kurie traut er nicht und achtet ihre Einschätzungen gering. Die Kontakte, die informell mit ihren Informationen Einfluß auf den Papst nehmen, kommen zum Teil auch zufällig oder durch nicht wirklich auf ihre Qualität überprüfbare Empfehlungen zustande. Damit aber sei das Informationssystem des Papstes fragil und anfällig für Einseitigkeiten aller Art.
„Papst Franziskus ist das Opfer des Santa-Marta-Syndroms“
Winfield erwähnt Vatikansprecher Greg Burke nicht in diesem Kontext, was aber notwendig wäre. Schon unter Pater Federico Lombardi SJ gab es in diesem Pontifikat zahlreiche Kommunikationslücken. Lombardis Nachfolger scheint sogar ein großer Abwesender, obwohl er institutionell gegenüber der Presse der erste Kommunikator des Heiligen Stuhls sein sollte.
Winfield zitiert Massimo Franco, wenn auch nicht die oben geschilderte Episode, sondern aus einer Kolumne im Corriere della Sera:
„[Franziskus] ist das Opfer des Santa-Marta-Syndroms… Er will dort wohnen, weil er nicht will, daß das Staatssekretariat die Informationen filtert. Die andere Seite der Münze ist aber, daß er dadurch dazu verurteilt ist, Informationen zu erhalten, die nicht immer genau sind.“
Mit anderen Worten: Franziskus vertraut seinem eigenen Staatssekretariat nicht. Um sicherzugehen, daß ihm nicht Informationen vorenthalten werden, entzieht er sich dem regulären Informationskanal, um sich über irreguläre Kanäle zu informieren. Die aber können alles mögliche sein, aber sie müssen nicht unbedingt stichhaltig, präzise, vollständig und seriös sein. Gleichzeitig gelange wichtige Informationen und Dokumente (wahrscheinlich auch Schreiben der Karadima-Opfer) nie wirklich zum eigentlichen Adressaten. Der Papst sei, so die Quintessenz, das Opfer seines eigenen Mißtrauens.
Laut Winfield könnte genau das im Fall Barros mitgespielt haben.
„Im Zusammen mit Chiles sexuellem Mißbrauchsskandal mußte Franziskus nicht nur zugeben, sich geirrt zu haben. Er könnte sogar im Dunkeln getappt haben. […] Jeder, der den Opfern nicht glaubte oder Barros beschützen wollte, konnte die Aussagen der Opfer herausfiltern oder Zweifel aufkommen lassen, bevor sie überhaupt zum Papst gelangten.“
Text: Giuseppe Nardi
Bild: MiL/AP/Radio Radicale (Screenshots)