
von Marco Respinti*
Es gibt in der universitären Welt des heutigen Frankreichs eine Konstante. Bestimmte, namhafte Demographen waren oder sind auch renommierte Historiker sowohl im akademischen Sinn des Wortes als auch in einem weiteren, aber deshalb nicht weniger ernstzunehmenden Sinn. Das gilt vor allem für Alfred Sauvy, der 1952 den Begriff „Dritte Welt“ prägte, indem er eine andere berühmte Wortschöpfung paraphrasierte, der„Dritte Stand“, die vom jakobinischen Abbé Emmanuel-Joseph Sieyès erfunden worden war. Sauvy, nach dem im 15. Pariser Arrondissement ein Platz benannt ist, war der Mann, den General Charles de Gaulle als Minister für die Familie und die Bevölkerung haben wollte, und den er 1945 zum Direktor des neuerrichteten Institut national d’études démographiques (Ined, Nationalinstitut für Demographische Studien) machte, und der Frankreich in der Statistikkommission der Vereinten Nationen (STATCOM) vertrat. Ebenso Gérard-François Dumont, Jahrgang 1948, Spezialist für „Humangeographie“ sowie Begründer einer neuen akademischen Disziplin, der „Politischen Demographie“, die sich auf die Geopolitik der Bevölkerung stützt. Und schließlich der große Pierre Chaunu.

Eine zweite Konstante, die Demographen-Historiker-Wirtschaftswissenschaftler-Geographen eint, ist ihre offene und unverblümte Zugehörigkeit zu einer konservativen Kultur, aus der sie kein Geheimnis mach(t)en. Gemeint ist nicht eine Zugehörigkeit einfach nur zur Rechten des liberalen Konformismus, wie es in Frankreich, aber auch anderswo häufig der Fall ist, sondern eine umfassende Weltsicht, die ihre Gegner so schnell als möglich auslöschen möchten, indem sie sie als „Reaktion“ abstempeln. Der grand père Joseph de Maistre nannte sie „contre-révolution“ (Gegen-Revolution). Er meinte damit nicht eine Revolution unter umgekehrten Vorzeichen, sondern das Gegenteil der Revolution. Er dachte dabei natürlich an die französische Revolution, meinte aber auch alle ihre Töchter. Genau darauf berufen sich, mehr oder weniger direkt, die Sauvys, die Dumonts und die Chaunus (die zu den Ersten gehörten, die bereits vor Jahrzehnten mit dem Finger auf das schwarze Loch zeigten, das durch die geburtenfeindliche Politik des kommunistischen Chinas aufgerissen wurde), was ihnen als Franzosen, ja sogar große Franzosen, nicht wenig an Leiden abverlangt haben dürfte. Die Wahrheit fordert aber ihren Tribut, und die Wissenschaft steht dabei ganz vorne.
Pierre Chaunu ist am 22. Oktober 2009 in Caen im Calvados in der Normandie gestorben. Er wurde am 17. August 1923 in Belleville-sur-Meuse in Lothringen geboren, anderthalb Kilometer vom furchtbaren Schlachtfeld von Verdun entfernt. Seit seiner Jugend wurde er stark von der histoire événementielle von Fernand Braudel und der Pariser Annales-Schule geprägt, die von Lucien Febvre und Marc Bloch gegründet worden war. Sie verstanden es wie kaum andere, die Rolle des materiellen Lebens der Menschen in das Studium der Geschichte einzuführen, und das auch mit Blick auf demographische und wirtschaftliche Aspekte, aber auch Sitten. So gelang es Chaunu, Jahr um Jahr, Gesamtschauen und Expertisen über Spanischamerika und das soziale und religiöse Leben vom 16. – 18. Jahrhundert zu erstellen, der Zeit zwischen protestantischer Reformation und katholischer Erneuerung, zwischen Tradition und Aufklärung, die noch heute kaum Rivalen haben. Nachdem er ab 1948 an der École des Hautes Études Hispaniques angenommen wurde, konnte er bis 1951 seine erste Liebe, durch ein Leben zwischen Madrid und Sevilla, direkt vertiefen.

Ab 1951 unterrichtete er am Lycée Jules Michelet von Vanves. 1956 erreichte ihn der Ruf an die Faculté des lettres von Paris. Parallel war er bis 1959 Attaché de recherche am Centre national de la recherche scientifique (CNRS). Das Ergebnis seiner Forschungen, seine monumentale Dissertation Séville et l’Atlantique (1504–1650), veröffentlichte er zwischen 1955 und 1960 in zwölf Bänden. Damit veränderte er die Geschichtsschreibung in diesem Bereich für immer. 1960 habilitierte er bei Fernand Braudel und erhielt 1962 eine Professur in Caen. Zwischen Sozialwissenschaften und Wirtschaft, zwischen Informatik und Statistik angesiedelt, gründete er dort 1966 das Centre de recherche d’histoire quantitative (CRHQ), und zwar nach einer präzisen Vorstellung vom Menschen und seinen Dingen, denn er sagte:
„Die Geburtsgraphiken erscheinen mir mit Sicherheit prophetischer als alle Trends des Dow Jones.“

1970 wurde er Professor für Geschichte der Neuzeit an der Sorbonne (Paris IV). 1982 erfolgte seine Aufnahme in die Académie des sciences morales et politiques.
Seit den 80er Jahren schrieb er regelmäßig im Le Figaro. Von 1994 – 2005 moderierte er wöchentlich die Sendung Les mardis de la mémoire bei Radio Courtoisie „dem Radio Maria der französischen Rechten“. (Radio Courtoisie entstand 1987 als Nachfolgesender von Radio Solidarité, das 1981 von Bernadette d’Angevilliers und Philippe Malaud, beide Minister unter De Gaulle und Pompidou, nach dem Wahlsieg von François Mitterrand gegründet worden war, um dem sozialistischen Einfluß entgegenzutreten.) Ein Sender, der in seiner Sprache ausreichend frank und frei und (laut Eigenangabe) offen für die gesamte Rechte ist, sich aber auf kultureller Ebene immer streng rechts vom Front National positionierte. Ein Radio, das fähig ist zu einem Infotainment auf hohem Niveau, das bekannten Namen anvertraut wurde wie dem frankophonen Historiker von Übersee Bernard Lugan, dem „österreichischen“ Wirtschaftswissenschaftler Jacques Garello, dem Historiker der Neuzeit Jean-Paul Bled, dem Maler Philippe Lejeune (Bruder des bekannteren Jerome Lejeune, den Pro-Life-Gründer der modernen Genetik) und natürlich unserem Chaunu.

Seine Bücher waren inzwischen zur Legion angewachsen. Les Philippines et le Pacifique des ibériques (Sevpen, 2 Bd., 1960–1966); La civilisation de l’Europe classique (Arthaud, Paris 1966); L’Espagne de Charles Quint (Sedes, Paris, 2 Bd. 1973); Démographie historique et système de civilisation (EFR, Rom 1974); Le temps des Réformes (Fayard, Paris 1975); De l’histoire à la prospective (Laffont, Paris 1975); Histoire quantitative, histoire sérielle (Colin, Paris 1978); Histoire et imagination. La transition (PUF, Paris 1980); Histoire et décadence (Perrin, Paris 1981); Apologie par l’histoire (Å’il, Paris 1988); Charles Quint (con Michèle Escamilla, Fayard, Paris 2000) sind nur einige seiner bekanntesten Titel. Nur wenige Arbeiten Chaunus sind auch auf deutsch erschienen. In mehreren Auflagen ab 1968 seine mehr als 800 Seiten umfassende, von Alfred P. Zeller übersetzte Gesamtdarstellung „Europäische Kultur im Zeitalter des Barock“. Zu nennen sind aber vor allem die von Hermann Kusterer übersetzten Bücher: 1996 „Der Mensch“ im Zürcher Thesis Verlag; „Die Wurzeln der Freiheit“ 1982 bei Universitas und nicht zuletzt 1981 „Die verhütete Zukunft“ bei Seewald und „Die weiße Pest. Ist der Selbstmord des Westens noch zu verhindern?“ bei Neske. Der heute 86 Jahre alte Hermann Kusterer war als Chefdolmetscher im Auswärtigen Amt „das Ohr und die Stimme von Konrad Adenauer und Charles de Gaulle“ (General-Anzeiger).
Vor allem sein Buch L’Expansion européenne du XIIIe et XVe siècles (Paris. 1969) vermittelt die Idee von einem Europa auf hoher See, zunächst mit den Karavellen des Zufalls eines Christoph Kolumbus, aber auch der „Vorsehung“, wie Chaunu in seinem Buch Colomb ou la logique de l’imprévisible (Paris 1993) betonte, dann mit Tausenden von anderen Schiffen spanischer, portugiesischer, französischer, niederländischer, englischer Provenienz, den Bug fest nach Westen gerichtet, mit Kurs auf Amerika. Und von dort mit einem weiteren Sprung darüber hinaus in einen noch ferneren Westen, unseren Osten, über den sie nach einer Weltumsegelung wieder zurückkehrten.

Auf dem Weg machten sie Begegnungen, kämpften, evangelisierten und – ja – sie haben auch verwestlicht. Chaunu stellt, als Pionier in seinem Fach, den ganzen Pioniergeist eines Abendlandes dar, das für ihn nicht nur ein geographisches Konzept war, sondern auch die geographische und vor allem kulturelle Ausdehnung jenes „Kontinents sui generis“ meinte, der Europa ist und der wesentlich aus einem Ethos besteht, wie Papst Johannes Paul II. sagte.
Chaunu fühlte sich daher ganz zu Hause zwischen päpstlichen Intuitionen, legitimistischen Konterrevolutionären und politischen und kulturellen, katholischen Kreisen. Außergewöhnlich, denn er selbst war nicht einmal Katholik. Chaunu war Hugenotte, Angehöriger jener einflußreichen Minderheit französischer Calvinisten, die wahrscheinlich viele nur mit der tragischen Bartholomäusnacht in Verbindung bringen. Chaunu war in Courseulles-sur-Mer im Calvados sogar Laienprediger für die Reformierte Kirche von Frankreich. Als „entschieden rechts und auch der Polemik nicht abgeneigt“, charakterisierte die katholisch-demokratische Tageszeitung La Croix den französischen Historiker-Demographen, der immer ein stolzer Gegner des theologischen Liberalismus war, dem er durch seine Mitarbeit an der konterrevolutionären, protestantischen Zeitschrift Tant qu’il fait jour des Pastors Jean Georges Henri Hoffmann entgegentrat.

Chaunu, Vater von sechs Kindern und Kommandant der Ehrenlegion, war ein sehr gläubiger Mann und zugleich ein großer Wissenschaftler. Er war imstande, sich mit größtem Ernst mit den göttlichen Plänen und intelligentem Design zu befassen, mit dem Sinn der Geschichte und der Verantwortung des Menschen. Wer könnte – der sie gelesen hat – die Vorlesungen vergessen, die er in kleinen Perlen wie Du big-bang à l’enfant oder Dieu. Apologie vorlegte. Beide veröffentlichte er zusammen mit dem katholischen Priester, Theologen und Historiker Charles Chauvin.
Wie nur wenige verstand es dieser von der Demographie faszinierte Historiker den Terror der „weißen Pest“ zu interpretieren. Gemeint sind die Abgründe der Menschheit, die sich durch die neomalthusianischen Ideologien aufgetan haben und die – nicht selten vermischt mit totalitären Ideokratien – die Welt zu überwältigen drohen. Chaunu hatte die Zeit der Menschen aufmerksam studiert und wußte daher nur zu gut, was geschieht, wenn die Menschen glauben, keine Zeit mehr zu haben.
Emmanuelle Giuliani bezeichnete ihn in La Croix als „Anwalt der demographischen Rückeroberung“. Alles begann mit dem Buch „Die weiße Pest“, das 1976 bei Gallimard in Paris herausgebracht wurde. Es folgten 1979 eine „Zukunft ohne Zukunft, orig. Un futur sans avenir: histoire et population (Calmann-Lévy, Paris), 1990 „Der Mensch“ (Laffont) und 2003 bei Fayard Essai de prospective démographique (mit Huguette Chaunu und Jacques Renard).

Der letzte beau geste von Chaunu krönt würdig die lange, glückliche Verbindung zwischen Geschichte und Demographie. Für den Gelehrten gibt es nämlich einen besonderen Knoten, den es zu lösen gilt, das große Übel, das ausgetrieben werden muß, der Ursprung aller Probleme der Moderne: die französische Revolution.
Er schrieb es offen im Zuge des Bicentenaire, der 200-Jahrfeiern der Revolution, in seinem Werk Le grand déclassement. À propos d’une commemoration (Laffont, 1989), und er bekräftigte es kurz vor seinem Tod in seinem Beitrag zum umfangreichen, rund 900 Seiten starken „Schwarzbuch der französischen Revolution“ (Le livre noir de la Révolution Française, Cerf, Paris, 2008), das vom Dominikanerpater Renaud Escande herausgegeben wurde und unter anderem Beiträge von Jean Tulard, Emmanuel LeRoy-Ladurie, Jean Sévilla und Jean-Christian Petitfils enthält sowie von Stéphane Courtois, der 1997 Herausgeber von „Das Schwarzbuch des Kommunismus“ war. (Während „Das Schwarzbuch des Kommunismus“ bereits 1998 ins Deutsche übersetzt wurde, liegt „Das Schwarzbuch der französischen Revolution“ bis heute nicht in deutscher Übersetzung vor.)
Während er in den jakobinischen Abgründen forschte, überkam Chaunu plötzlich ein unerwarteter, beklemmender Gedanke, der zu weiteren Forschungen drängte und sich in ihm zu einer vertiefenden Forschungsidee verdichtete.

Die Arbeiten dazu vertraute er seinem jungen Schüler Reynald Secher, einem Bretonen aus Nantes, an. Secher, Jahrgang 1955, legte seine Dissertation Anatomie d’un village vendéen: La Chapelle-Basse-Mer (Anatomie eines Ortes in der Vendée) im Fach Historische und Politische Wissenschaften an der Universität Paris IV – Sorbonne vor. Doktorvater war der ausgewiesene Fachmann Jean Meyer. In der Prüfungskommission saß auch Chaunu. Die Studie wurde dann unter dem Titel La Chapelle-Basse-Mer, village vendéen. Révolution et contre-révolution (Perrin, 1986) und mit einem Vorwort von Meyer in Buchform herausgebracht. 1985 legte Secher an derselben Universität eine Dissertation in Humanwissenschaften vor. Das Thema: Contribution à l’étude du génocide franco-français: la Vendée-Vengé (Beitrag zum Studium des französischen Völkermordes: Vendée-Vengé). Doktorvater war erneut Meyer. Chaunu saß mit anderen, darunter auch Tulard, in der Prüfungskommission. Die Dissertation sorgte für frankreichweite Aufregung.
Secher dokumentierte erstmals auf streng wissenschaftliche Weise und mit den Waffen der Statistik, die methodologisch von Chaunus Schule zur Verfügung gestellt wurden, die bewußte Genozid-Absicht des französischen Jakobinismus. Mit kalter Entschlossenheit planten und beschlossen die Revolutionäre den ersten Völkermord der Menschheitsgeschichte. Sie führten ihn durch gegen die Bevölkerung des französischen Westens, der sogenannten Vendée militaire, die weit über das heutige Departement Vendée hinausreichte. Diese hatte sich nach jahrelangen Schikanen erdreistet, sich im Namen des entthronten katholischen Gottes und des guillotinierten Königs zu erheben.

Es war offensichtlich, daß es sich dabei nicht um ein Derby zwischen Republik und Monarchie handelte, wie Maximilian Robespierre behauptete. Es ging vielmehr darum, Ludwig XVI. zu eliminieren, um dadurch seinen „Auftraggeber“ zu treffen, den Allmächtigen Herrn aller Himmel, und um dann seine frommen, widerspenstigen Anhänger auf Erden zu vernichten.
Secher lieferte die Beweise: drei Gesetze, die 1793 vom Wohlfahrtsausschuß einstimmig beschlossen und in den Archiven aufbewahrt wurden. Mit ihnen wurde zuerst die physische Vernichtung der „verfluchten Rasse“ der Vendée dekretiert (so nannte sie der Henker von Nantes, Jean-Baptiste Carrier), dann auch der historische Name der Region ausgetilgt und durch „Vengé“ ersetzt, um damit zum Ausdruck zu bringen, daß sich die jakobinische Republik gerächt hatte, indem sie die „Krankheit“ ausgemerzt hat. Kurzum: Das Fundament der ideologischen und relativistischen Demokratie, die von Frankreich aus ihren Siegeszug in der Welt antritt, ist eine Katastrophe.
Auf die Thesen Sechers folgte ein Geschrei. Seine berühmte Doktorarbeit wird ihm wenige Tage vor seinem Rigorosum gestohlen. Damit werden aber Verlage auf das Werk aufmerksam, das einige Monate später mit einer Einleitung seiner Lehrer Meyer und Chaunu mit dem Titel Le génocide franco-français: la Vendée-Vengé (PUF, 1986) als Buch erscheint. (Das Buch erschien 1989 in italienischer Übersetzung, 2003 in englischer und polnischer, und erlebte in Frankreich 2006 eine Neuauflage. Secher wurde für die Arbeit mit mehreren Preisen ausgezeichnet: 1987 mit dem Prix Georges-Goyau der Académie française; 2012 mit dem Prix Combourg und dem Prix littéraire des droits de l’Homme. Ins Deutsche wurden seine Werke bisher nicht übersetzt.) In seinem Buch Le grand déclassement schrieb Chaunu: „Das Buch ist von Reynal Secher, aber der Titel ist seit 1983 mein Eigentum.“

Secher traf in seinem Folgewerk Juifs et Vendéens. D’un génocide à l’autre. La manipulation de la mémoire (Orban, Paris 1991; Juden und Vendéaner. Von einem Genozid zum anderen. Die Manipulation des Gedächtnisses) die Feststellung, daß einem Adolf Hitler nur möglich war, die Verbrechen in Deutschland an einem anderen „Fremdkörper“, den Juden, in noch größerem Ausmaß zu wiederholen, weil die französischen Verbrechen aus dem kollektiven Gedächtnis des Westens verdrängt wurden. Hitler sei zudem nicht so naiv gewesen wie die Jakobiner und hinterließ keine schriftlichen Befehle seiner „Endlösung“.
Gegen Secher und seine Lehrmeister wurde der Vorwurf erhoben, den Begriff „Genozid“ anachronistisch zu gebrauchen, indem auf die Vergangenheit projiziert werde, was erst später geschehen sei.
Secher entdeckte jedoch ein vom Protokommunisten Jean-Nöel „Gracchus“ Babeuf unterzeichnetes Libell Du système de dépopulation, ou La vie et le crimes de Carrier (Das System der Entvölkerung oder Das Leben und die Verbrechen von Carrier), das er zusammen mit dem Lokalhistoriker Jean-Joël Brégeon in einem Buch gleichen Titels (Tallandier, 1987) veröffentlichte. (2008 erfolgte in Frankreich eine Neuauflage mit einer Einführung von Stéphane Courtois.) Der Genosse Gracchus verteidigte darin die Bevölkerung der Vendée, entsetzt von der bourgeoisen Revolution der Städter, die ungestraft das Landvolk dezimierte. Im Dezember 1794 publiziert, wurde es sofort verboten und danach sogar systematisch vernichtet. Einige wenige Exemplare überdauerten jedoch den revolutionären Furor, einige davon sogar in der Sowjetunion.

Babeuf, ein Zeitgenosse der Ereignisse, selbst überzeugter Revolutionär, prägte sogar einen Neologismus, um die Hölle zu beschreiben, der er beiwohnte: „dépopulation“ (Entvölkerung), ein Begriff, den es vorher nicht gab und der den späteren Begriff „Genozid“ vorwegnahm. (Der englische Begriff „genocide“ wurde erstmals 1944 vom polnisch-jüdischen Juristen Raphael Lemkin gebraucht, der 1943 für einen Gesetzentwurf der polnischen Exilregierung im Zusammenhang mit nationalsozialistischen Verbrechen in Polen den polnischen Begriff „ludobójstwo“ schuf, der einer wörtlichen Übersetzung des deutschen Begriffs „Völkermord“ entspricht. Der deutsche Begriff „Völkermord“ war erstmals 1831 von August Graf von Platen im Zusammenhang mit Polen gebraucht worden, das damals seiner Selbständigkeit beraubt war.) Die Jakobiner, die schnell in die Krise gerieten, erfanden ein nicht existentes, ausländisches Komplott. Sie behaupteten das Märchen von Geheimagenten, die unter dem Bett versteckt seien, um sich im September 1792 ungehemmt dem Massaker an Geisteskranken, Prostituierten, politischen Gefangenen und all den anderen, die ihnen gerade in die Hände kamen, hinzugeben. Einige Experten sprechen sogar von einem eugenischen Massaker. Dann stürzten sie sich auf die Vendée, die es gewagt hatte, inmitten des allgemeinen Elends, das durch die von Paris erklärten Kriege gegen die europäischen Mächte provoziert worden war, den Erleuchtungen der Revolution zu widersprechen. Die Jakobiner reagierte verängstigt und vor allem zornig und beschlossen den Holocaust, indem sie auf einen britischen Zeitgenossen beriefen, ohne ihn gelesen zu haben – den anglikanischen Reverend Thomas Robert Malthus, der predigte, daß sich die Menschen der Fortpflanzung enthalten sollten, um einer angeblichen (aber irrealen) Nahrungsmittelknappheit zu begegnen. Die monarchistischen Katholiken der Vendée waren überflüssiger Ballast. Im Frühling 2009 entdeckten Forscher in der Nähe von Le Mans Massengräber von einem der letzten Massaker dieses Völkermordes.

Seither weiß die Welt dank des „calvinistischen Vendéaners“ Chaunu Bescheid, der das Thema persönlich in Des curés aux entrepreneurs: la Vendée au XXe siècle behandelt, 1994 vom Centre Vendéen de Recherches Historiques di La Roche sur Yon veröffentlicht, einer Einrichtung, die aus einer Idee von Le Roy-Ladurie entstanden ist und von Alain Gérard geleitet wurde.
Als Chaunu im Oktober 2009 gestorben ist, sagte Frankreichs Staatspräsident Nicolas Sarkozy, daß er „einer der Ersten war, der mit Nachdruck die Aufmerksamkeit der öffentlichen Meinung in Frankreich und in Europa auf die Gefahren des Niedergangs gelenkt hat, zu denen die Schwäche der europäischen Demographie führen“. Er erwies damit einem Mann die Ehre, „dessen Leben und Werk […] den Kampf gegen den demographischen Niedergang bezeugen“.
*Marco Respinti, Jahrgang 1964, Journalist, Publizist und Übersetzer; Forschungsschwerpunkt: das angloamerikanische, konservative Denken; Senior Fellow des Russell Kirk Center for Cultural Renewal di Mecosta; Mitglied der Alleanza Cattolica; Gründer des Center for European Renewal de L’Aia in den Niederlanden; Lehrbeauftragter am The Leadership Institute (Arlington); Übersetzer von Werken ins Italienische von Edmund Burke, Russell Kirk, John R.R. Tolkien, Charles Dickens, Regine Pernoud, Gustave Thibon, Alejandro Bermudez u.a.m.
Übersetzung und Fußnoten: Giuseppe Nardi
Bild: Alleanza Cattolica/Contre-revolution/ZVAB/Google Books/Centro San Giorgio (Screenshots)
Deutsche Übersetzungen der Werke zu den Gräueln der Französischen Revolution sind überfällig und wären verdienstvoll und so dringend notwendig! Wir waren im Sommerurlaub an einigen historischen Orten des Völkermordes an den königstreuen Katholiken der Vendee und der Bretagne. Wir waren tief beeindruckt, sind aber auch enttäuscht, wie wenig, gerade in Deutschland, über die grausamen, oft geradezu sadistisch vollzogenen Verbrechen der Revolution bekannt gemacht wird. Der Mut und die Hingabe der Vendeeaner und auch der Bewohner der Bretagne für ihren Glauben nötigt gerade heute Bewunderung ab.
Es sei auch auf das Buch von Horst Gebhardt „Liberté, Egalité, Brutalité. Gewaltgeschichte der französischen Revolution“ hingewiesen.