(Jerewan) Am 9. November haben Armenien, Aserbaidschan und Rußland ein Waffenstillstandsabkommen zur Beendigung des Krieges in der Region Bergkarabach unterzeichnet. Viele Armenier sind enttäuscht und verärgert über die Bedingungen des Abkommens. Es sieht die dauerhafte Übertragung eines Großteils der Gebiete der 1991 ausgerufenen Republik Arzach an Aserbaidschan vor. Vor allem fühlen sich die Armenier von der westlichen Welt im Stich gelassen. Erinnerungen an den Genozid durch Türken und Kurden werden unter ihnen wach.
Der Bergkarabach-Konflikt ist ein vergiftetes Erbe der Sowjetunion. Da auch die Völker im Kaukasus zu „sowjetischen Menschen“ umgeformt werden sollten, wurden historische Einheiten zertrümmert und Bergkarabach der Sozialistischen Sowjetrepublik Aserbaidschan unterstellt. Als die Sowjetunion 1991 zerbrach, sahen die Armenier die Chance, diese Situation zu korrigieren, zumal in Aserbaidschan das Ende der kommunistischen Herrschaft einen anti-armenischen Nationalismus aufflammen ließ. In mehreren Städten, auch in der aserischen Hauptstadt Baku, kam es zu Pogromen gegen Armenier.
Da Aserbaidschan den Anschluß des von Armeniern bewohnten Autonomen Gebiets Bergkarabach an Armenien nicht anerkannte, kam es 1992 zum bewaffneten Konflikt. Er dauerte bis 1994 und wurde von den Armeniern gewonnen. Ihnen gelang es, aserisches Gebiet zu erobern, das dreimal so groß ist wie Bergkarabach, und eine breite Landverbindung zu Armenien herzustellen. Die internationale Staatengemeinschaft erkannte aber weder die Eroberungen noch die Republik Arzach an, die seither als zweite armenische Republik existiert. Obwohl Armenien und Arzach sehr eng zusammenarbeiten, wurde auf eine formale Angliederung verzichtet, um die Existenz der Republik Armenien nicht zu gefährden, solange die völkerrechtliche Frage ungeklärt ist.
Aserbaidschan startete am vergangenen 27. September mit Rückendeckung durch die Türkei eine großangelegte Offensive. Wie die Gefallenenlisten zeigen, läßt Aserbaidschan Dschihadisten aus Syrien und dem Irak für sich kämpfen, die über die Türkei angeworben wurden. Unterstützung aus dem Westen für die Armenier gab es umgekehrt keine, nur Frankreich verurteilte die Aggression Aserbaidschans – mehr auch nicht. Eine christliche Solidarität ist den Regierungen der post-christlichen Staaten ein Fremdwort.
Am 9. November wurde eine Waffenruhe unterzeichnet, die durch Vermittlung Rußlands zustandekam. Rußland ist die traditionelle Schutzmacht der christlichen Armenier inmitten ihrer muslimischen Umgebung. Wenn es überhaupt noch einen armenischen Staat gibt, dann ist es Rußland zu verdanken. Im Zuge seiner Expansion im 19. Jahrhundert in den Kaukasus gelang es dem Zarenreich, den Persern die Kontrolle über den Ostteil des armenischen Siedlungsgebiets abzunehmen. Dort überlebten die Armenier. Im weit größeren Teil, dem sogenannten Türkisch-Armenien, das dem Osmanischen Reich unterstand, kam es Ende des 19. und vor allem Anfang des 20. Jahrhunderts zu einem grausamen Völkermord an den christlichen Armeniern.
Nun sind es wieder die Russen, die armenisches Gebiet retten, diesmal die Republik Arzach. Der argentinische Missionar P. Bernardo Di Nardo lebt seit drei Jahren in Armenien, wo er die kleine katholische Gemeinschaft betreut. Gegenüber CNA/InfoCatolica schilderte er die Lage:
„Die Menschen sind sehr unzufrieden mit den Bedingungen des Waffenstillstands. Sie sehen sie als Verrat an Tausenden von Toten und als völlige Kapitulation der in Bergkarabach lebenden Armenier.“
Viele Armenier fühlen sich auch von den Russen hintergangen, weil Moskau nicht bereit war, ein Ultimatum zu stellen. Der Waffenstillstand hat weitreichende Auswirkungen auch auf Armenien selbst:
„Die Folgen für das Land sind derzeit eine sehr ernste politische Krise, da die Oppositionsparteien den Rücktritt des Premierministers fordern. In den nächsten Wochen kann es zu weiteren Protesten und Demonstrationen kommen.“
Rußlands Vermittlung
Ohne das Eingreifen Rußland hätten die für Aserbaidschan kämpfenden Dschihadisten noch größere Gebiete von Bergkarabach eingenommen. Das Waffenstillstandsabkommen ist hart für die Armenier, konnte aber den aserischen Vormarsch stoppen. Die Armenier müssen demnach die 1991–1994 besetzten Gebiete zurückgeben, was in Stufen geschehen soll. Ebenso sollen die aserischen Einwohner nach Bergkarabach zurückkehren dürfen. Beide Forderungen scheinen bei allem Sprengstoff, den sie bergen, nicht inakzeptabel. Die besetzten Gebiete waren von Aseris bewohnt. Eine halbe Million von ihnen wurde Anfang der 90er Jahre zu Flüchtlingen und Vertriebenen.
In den letzten Jahrzehnten der Sowjetunion hatte die aserische Bevölkerung in Bergkarabach zugenommen, was von den Armenien mit Argwohn beobachtet wurde. Zuletzt stellten sie mehr als 20 Prozent der Einwohnerschaft. Ein Vierteljahrhundert später dürfte aber nur mehr ein Teil von ihnen zurückkehren wollen.
Vor allem sichert das Abkommen den beiden armenischen Staaten eine Landverbindung, den sogenannten Lachin-Korridor, der von russischen Soldaten überwacht werden soll.
Das Kloster von Dadivank
Dennoch bleiben zahlreiche Fragen ungeklärt. Was ist mit den aserischen Gebieten, die im Norden und Osten von Arzach als armenisches Land beansprucht werden? Muß Aserbaidschan auch die in den vergangenen Wochen besetzten Gebiete von Bergkarabach zurückgeben? Ein weiterer Verlust armenischen Bodens ist für das Volk, das den ersten christlichen Staat der Weltgeschichte hervorbrachte, völlig inakzeptabel.
Die Armenier haben Dadivank im Norden von Bergkarabach, in der Berggegend von Kalbajar, geräumt. Das dortige Kloster gehört zu den wichtigsten heiligen Stätten der armenisch-apostolischen Kirche. Es liegt seit dem Abkommen auf der aserischen Seite. Im Norden sind die vorläufigen Grenzen bekannt. Im Süden nicht einmal das.
Die heutige Klosteranlage geht im Kern auf das 9. Jahrhundert zurück, ist aber wahrscheinlich noch älter. Der Überlieferung nach wurde sie vom heiligen Dad, einem Schüler des Apostels Judas Thadäus, gegründet. Einmal wurde das Kloster bereits zerstört, das war 1145 durch die islamischen Seldschuken. Nun fürchten die Armenier eine erneute Zerstörung, wieder durch Muslime.
Aserbaidschan verpflichtete sich, das Kloster nicht anzutasten, weder die Kreuze zu entfernen noch die Fresken zu zerstören. Die Armenier vertrauen den Zusagen aber nicht. Während die Bevölkerung den Ort evakuiert, bleiben einige Mönche als Wächter des Heiligtums zurück. „Wir werden ihnen nicht erlauben, unsere Kloster anzurühren“, erklärte der Klostervorsteher gegenüber Al Jazeera. Die Mönche wollen vor allem die kostbaren Chatschkar, die berühmten armenischen Kreuzsteine, verteidigen. Tausende von ihnen wurden von den Aseris in den 90er Jahren zerstört.
Erst 2005 kam es zur systematischen Zerstörung der Chatschkar auf dem Friedhof von Culfa in der zu Aserbaidschan gehörenden Autonomen Republik Nachitschewan. Die Täter waren Soldaten der aserischen Armee, die einen entsprechenden Befehl erhalten hatten. 5000 Kreuzsteine, von denen die ältesten aus dem 9./10. Jahrhundert stammten, fielen blinder Zerstörungswut zum Opfer. Das armenische Erbe, auch die Gräber, wurden beseitigt.
Der armenische Bevölkerungsanteil von Nachitschewan lag bis zum Ersten Weltkrieg bei 40 Prozent. Nach dem armenisch-aserbeidschanischen Kämpfen nach Kriegsende, die bereits damals um Bergkarabach geführt wurden, waren es nur mehr knapp 15 Prozent, die von den Aseris systematisch verdrängt wurden. Am Beginn des Zweiten Weltkrieges waren es noch zehn Prozent, am Ende der Sowjetherrschaft nur mehr ein Prozent. Heute gibt es keine Armenier mehr in Nachitschewan.
Am Tag vor der Evakuierung wurden in der Klosterkirche noch schnell zwölf Kinder getauft, als wollten die Bewohner damit sagen: Die armenische Zukunft des Ortes ist noch nicht zu Ende.
Die Fragen nach den genauen Grenzen drängen. Hinzu kommt die humanitäre Not: Wegen der Dschihadisten ist fast die Hälfte der armenischen Bevölkerung von Bergkarabach auf der Flucht. Pater Di Nardo sieht deshalb die Existenz von Bergkarabach noch nicht gesichert:
„Die Konsequenzen werden sein, daß sie angesichts der Bedrohung durch Völkermord in einem Klima ständiger Angst leben werden, sodaß die meisten Bewohner ihre Häuser verlassen und nach Armenien gehen werden. Das kulturelle und religiöse Erbe ist in Gefahr.“
Die Erinnerung an den Genozid
Vor allem werden unter den Armenien Erinnerungen an den Völkermord wach, der 1915 seinen Höhepunkt erreichte.
„Der Völkermord hat viele Spuren in der Bevölkerung hinterlassen. Besonders stark ist das schreckliche Gefühl der Ungerechtigkeit, solche Greueltaten zu erleiden, die zudem von den Tätern bis heute völlig bestritten werden. Das zeigt sich in einem ständigen Ruf nach Gerechtigkeit, ob in den täglichen Gesprächen oder in den Gedenkfeiern jedes Jahres.“
Die Wunden des Genozids seien noch nicht vernarbt, so P. Di Nardo. Es wurde keine Gerechtigkeit geschaffen, nicht einmal eine Entschuldigung ausgesprochen. Jede Leugnung des Völkermords durch die Türkei und jede Ablehnung seiner Anerkennung, die aus Rücksicht auf die Türkei und deren NATO-Mitgliedschaft irgendwo auf der Welt erfolgt, wird von den Armenien als großer Schmerz empfunden. Zu den alten Wunden kommen neue hinzu.
„Da ist die Zerstörung von Familien, deren Mitglieder im Bergkarabach-Krieg starben oder verstümmelt wurden. Die Armut nimmt wegen des Vorrangs der Militärausgaben und der Zahl der Vertriebenen aus Bergkarabach, besonders in den Städten, zu. Familien nehmen so viele Verwandte, Freunde oder Bekannte wie möglich auf, was die Not verschärft. Darüber hinaus gibt es wegen der Corona-Krise eine hohe Arbeitslosigkeit, besonders wegen der fehlenden Einnahmen aus dem Tourismus.“
„Wir helfen, so gut es geht“
Die katholische Kirche versuche, obwohl sie nur sehr klein ist, zu helfen, so gut es geht. Das Verhältnis der armenisch-apostolischen Kirche zur katholischen Kirche sei „von gegenseitigem Respekt und Zusammenarbeit in Dingen geprägt, die von gemeinsamem Interesse sind“.
„Wir helfen Menschen, die vom Krieg betroffen sind, indem wir die Familien besuchen, mit ihnen beten, sie trösten und wenn möglich materielle Unterstützung leisten. Wir tun das durch die Legio Mariae und die Missionarinnen der Nächstenliebe, die Schwestern von Mutter Teresa von Kalkutta.“
Auswärtige Regierungen seien mehr an den Bodenschätzen und an Waffenverkauf als am Leben der Menschen interessiert. P. Di Nardo sagt es ohne Umschweife:
„Wir erleben eine Politik der nationalistischen Expansion und den Wunsch, daß sehr alte christliche Völker wie die Armenier verschwinden.“
„Die Armenier fühlen sich von der internationalen Staatengemeinschaft, die sich mehr für geopolitische Spiele interessiert, vergessen und betrogen. Aber ich möchte mit einer Botschaft der Hoffnung schließen: Das armenische Volk ist inmitten unaussprechlicher Katastrophen immer wieder aufgestanden. Das wird es auch jetzt wieder tun.“
Die Taufe der zwölf Kinder in Dadivank ist ein Hoffnungsschimmer.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons/Tempi
Danke für diese wichtige Recherche!
Ich erlaube mir, zu einem russischen Analysten zu verlinken, der offenbar über nicht-öffentliche Informationen verfügt, vielleicht auch mit staatlichen Stellen verbunden ist: Die Seite The Saker ist pro-russisch und pro-orthodox, mit einem Anflug von anti-katholischen Ressentiments. Was die Fakten und die meisten Einschätzungen betrifft, scheint er mir aber durchaus glaubwürdig. Hier zum Thema Artsach und die Folgen des Krieges:
http://thesaker.is/understanding-the-outcome-of-the-war-for-nagorno-karabakh/
Armenien hat den Krieg im Jahr 2018 verloren. Damals haben sich die Armenier in einer Soros-Farbenrevolution die pro-russische Regierung gestürzt und sich dem Westen zugewand. Nicht nur war dies eine Entscheidung für Homosexualität, Abtreibung und allgemeine Degeneration, es hat Armenien auch seiner Schutzmacht beraubt. Die Konsequenzen sehen wir jetzt.
https://de.wikipedia.org/wiki/Revolution_in_Armenien_2018
Der jüngste armenische Krieg sollte eine wichtige Lektion für die Nationen sein. Den Westen interessiert sich nicht für christliche Solidarität oder die sogenannten Menschenrechte. Azerbaijan hat mit seinen natürlichen Ressourcen, wachsender Bevölkerung und Rückendeckung durch die Türkei einfach mehr zu bieten. Inbetracht dessen können die Armenier froh sein, dass Russland sich überhaupt bewegt und dass Kerngebiet von Artsakh gerettet hat.
Also wurden 2018 die Armenier von Soros und Co. in eine Falle gelockt.
Die Russen sind für die Armenier immer noch die einzig verbliebene Schutzmacht,
obwohl sie von diesen vor 2 1/2 Jahren vor den Kopf gestoßen wurden.
Ob den Armeniern wirklich bewusst ist, wem sie 2018 auf den Leim gegangen sind
und warum die Russen jetzt so zaghaft reagierten ?
Ich denke eher, dass es ihnen nicht klar ist, was ja auch aus dem obigen Bericht hervorgeht.
In dem von mir oben verlinkten Bericht auf The Saker sagt der Autor, daß Armeniens Präsident Paschinian tatsächlich das Produkt einer Farbenrevolution sei. In der US-Botschaft in Erevan arbeiteten 2000 Mitarbeiter (!). Wozu brauchen sie die?
Von daher haben
@Oberschlesien
und
@voltenauer
ziemlich sicher recht.
Die Armenier sind Christen, daher und nur deswegen werden sie verfolgt und grausam umgebracht.