„1960 wurde unter dem Pontifikat von Johannes XXIII. ein für die Kirche sehr wichtiges Fest abgeschafft: Am 3. August wurde der wunderbaren Auffindung der sterblichen Überreste des heiligen Stephanus gedacht. Ein historisches und übernatürliches Ereignis von solcher Größe, daß des Protomärtyrers liturgisch sogar an zwei Festtagen gedacht wurde.“ Mit diesen Worten erinnert die Historikerin Cristina Siccardi an ein außergewöhnliches Ereignis in der Kirchengeschichte, das von ihre näher beleuchtet wird.
Stephanus, der erste Blutzeuge für Christus
Der heilige Stephanus, ein Diakon, wurde – wie die Apostelgeschichte berichtet – zum ersten Blutzeugen des Glaubens und der Liebe zu Christus. Die liturgische „Doppelung“ stellt ihn an Bedeutung dem heiligen Johannes dem Täufer gleich, dem Vetter Jesu, der dem Christus durch seine öffentlichen Predigten den Weg bereitete.
„Vergessen bedeutet, nicht mehr bezeugen“, so Siccardi. „Das Zeugnis der Ereignisse von 415 war von solcher Bedeutung, daß es selbstverständlich erscheint, daß es vom Vater auf den Sohn tradiert wurde.“ An jenem Tag, vielmehr in der Nacht, hatte der Priester Lucianus von Kaphargamal, einem Ort, der sechs Stunden von Jerusalem entfernt war, eine wunderbare Erscheinung, die er kurz danach in einem Brief für „die heilige Kirche und alle Heiligen in Jesus Christus auf der ganzen Welt“ aufzeichnete.
Darin ist vom ersten von vier „Gesichtern“ die Rede, die der Auffindung vorausgingen. Der Brief des Lucianus wurde von Avitus, einem spanischen Priester und Vertrauten des heiligen Hieronymus, der sich damals in Jerusalem aufhielt, aus dem Griechischen ins Lateinische übersetzt, um ihn auch im Westen bekanntzumachen. Dazu übergab er ihn seinem Landsmann Paulus Orosius, der gerade mit einem Schiff nach Westen aufbrach. Diese Übersetzung wurde lange Zeit den Werken des heiligen Augustinus zugerechnet. „Die zahlreichen griechischen Ausgaben des Briefes, aber auch Übersetzungen ins Syrische, Armenische, Georgische … bezeugen die enorme Verbreitung des Originaltextes“, so Siccardi.
Der Bericht des Priesters Lucianus
Es war der 3. Dezember 415, ein Freitagabend. Wie es damals üblich war, schlief der Priester Lucianus in seiner Kirche, um die Kirchengeräte zu schützen. Hören wir, was er in seinem außergewöhnlichen Brief über die erste Erscheinung berichtete:
Ich war nach Sonnenuntergang eingeschlafen am heiligen Ort des Taufbeckens, wo ich die Gewohnheit hatte, zu schlafen, um die heiligen Geräte meines Dienstes zu bewachen. Zur dritten Stunde fiel ich in eine Art von Ekstase, einen Halbschlaf. Ich sah einen Greis von hohem Wuchs, einen Priester von großer Würde mit weißem Haar und langem Bart, gekleidet in einem großen, weißen Gewand, das mit Goldknöpfen verziert war und mit einem goldenen Kreuz in der Mitte. In der Hand trug er einen goldenen Stab. Er näherte sich mir, stellte sich zu meiner Rechten und berührte mich mit seinem Stab. Nachdem er mich dreimal beim Namen gerufen hatte: „Lucianus, Lucianus, Lucianus“, sagte er mir auf griechisch: „Geh in die Stadt Aelia, das Jerusalem ist, und sag dem heiligen Bischof Johannes diese Worte: ‚Wie lange müssen wir noch eingeschlossen sein, und werdet ihr noch säumen, uns die Türen zu öffnen? Unter eurem Bischofssitz müssen wir offenbar werden. Säumt nicht das Grab zu öffnen, in dem unsere sterblichen Überreste ehrlos abgelegt wurden, damit durch unseren Gott, Seinen Christus und den Heiligen Geist die Pforten der Güte für die Welt geöffnet werden, weil das zahlreiche Hinfallen, deren Zeuge die Welt ist, sie jeden Tag in Gefahr bringt. Doch mehr als an mich, denke ich an jene Heiligen, die wirklich aller Ehren würdig sind.“ Ich antwortete ihm: „Wer seid Ihr, Herr, und wer sind jene, die mit Euch sind?“ So antwortete er mir: „Ich bin Gamaliel [vgl. Apg 5,34–39], der den heiligen Paulus im Gesetz von Jerusalem unterrichtet hat. An meiner Seite Richtung Morgen liegt Stephanus begraben, den die Ältesten und Priester der Juden vor dem Stadttor im Norden an der Straße nach Cedar gesteinigt haben. Sein Leib lag dort einen Tag und eine Nacht unbegraben, aber weder die Vögel noch vierfüßige Tiere wagten es, ihn zu berühren. Die Gläubigen nahmen ihn dann auf meine Mahnung während der Nacht und brachten ihn in mein Landhaus, wo ich ihn in mein eigenes Grabmal auf der Morgenseite legte, nachdem ich sein Leichenbegräbnis vierzig Tage lang gefeiert hatte. Nikodemus, der in der Nacht zu Jesus kam, liegt auch da, in einem andern Sarg. Da er wegen seines Glaubens an den Heiland von den Ältesten des Volkes seiner Würde entsetzt und aus Jerusalem verbannt wurde, nahm ich ihn in mein Landhaus auf, unterhielt ihn dort bis an sein Lebensende und begrub ihn nach seinem Tode bei Stephanus. An derselben Stelle habe ich meinen Sohn Abidas begraben, der vor mir, in seinem zwanzigsten Lebensjahr, gestorben ist. Sein Leichnam liegt im dritten Sarg, welcher der oberste ist und in welchen man mich selbst nach meinem Tode beigesetzt hat. Ethna, meine Frau und Semelias, meine Tochter, die nicht an Christus glauben wollten, wurden an einem andern Ort begraben, der Kapharsemilia heißt“ (Lucianus, Brief, 3. Dezember 415, XII).
Eine lange Suche und die Auffindung
Der Priester Lucianus bat einige andere Männer mit ihm zu kommen, um Zeugen zu haben und nicht als leichtgläubig dazustehen, aber auch um ihm bei der Suche zu helfen. Er begab sich mit ihnen noch in derselben Nacht zum Grab, das der Lehrmeister des heiligen Paulus genannt hatte. Die Suche zog sich jedoch hin. Zeit verging. Nach Grabungen fanden sie schließlich einen Grabstein, auf dem sie in großen Buchstaben folgende Namen lesen konnten: „KEAYEA CELIEL“, Diener Gottes, und „APAAN DARDAN“, was für Nikodemus und Gamaliel gedeutet wurde.
Zudem war dort auch Abibon begraben. Johannes II., Bischof von Jerusalem, übersetzte dem Priester Lucianus die Namen und wies sie den Gesuchten zu, als dieser ihn in Diospolis aufsuchte, um das Vorgefallene zu berichten. Diospolis war eine Stadt, in der Bischof Johannes gerade an einer Synode teilnahm. Der Bischof begab sich persönlich, zusammen mit zwei weiteren Bischöfen aus dem Kreis der Männer Gottes, Eusthonus von Sebaste (dem älteren Samaria) und Eleutherus von Jericho, an die Stelle. Als sie das Grab des Stephanus öffneten, bebte die Erde und ringsum breitete sich ein süßer, paradiesischer Duft aus, wie Lucianus berichtet.
Wie im Leben, so geschahen auch nach der Auffindung zahlreiche Wunder
Beim Ereignis war eine große Zahl von Menschen anwesend. Viele von ihnen waren leidend und krank. Sie alle waren mit einem Mal gesund. Wie schon im Leben („Stephanus aber, voll Gnade und Kraft, tat Wunder und große Zeichen unter dem Volk“, Apg 6,8), so folgten auch auf die Auffindung seiner Gebeine in der gesamten Katholizität zahlreiche Wunder.
„Im selben Augenblick vernahmen wir diesen süßen Duft, 73 der Anwesenden bekamen die Gesundheit zurück. Was andere betrifft, so wurden die Dämonen, die sich ihrer bemächtigt hatten, ausgetrieben. […] Es geschahen viele andere Heilungen, die alle an dieser Stelle einzeln aufzuzählen, viel zu lange dauern würde. Nachdem wir die heiligen Reliquien geküßt hatten, haben wir das Behältnis wieder verschlossen und die Reliquien des heiligen Stephanus unter Gesang von Psalmen und Hymnen in die heilige Kirche auf den Sion gebracht, wo er zum Erzdiakon geweiht wurde (Lucianus, Brief, XXVII).
Vorbild der Feindesliebe
Die Kirchenväter haben zur Gestalt des Stephanus Erhabenes gelehrt, vor allem weil er das Vorbild der Feindesliebe ist. Die Freundschaft mit Gott, die Adoptivkindschaft gegenüber dem Vater hat diesen Preis, so der heilige Maximus von Turin (Hom. 64 in St. Steph.). Alle Apologeten des heiligen Stephanus stimmen mit dieser Feststellung des Maximus überein: Gregor von Nazianz, Johannes Chrysostomos, Caesarius von Arles, Anselm …
Der heilige Augustinus predigte:
„Jesus thronte auf dem Lehrstuhl seines Kreuzes und lehrte dem Stephanus die Regel des Erbarmens. Oh guter Meister, du hast gut gesprochen, gut gelehrt. Sieh: dein Jünger bittet für seine Feinde, bittet für seine Henker“ (Sermon, 315,8).
Stephanus rief, bevor er starb:
„Herr, rechne ihnen diese Sünde nicht an“ (Apg 7,60).
Der heilige Thomas Morus bezog sich auf das Beispiel des heiligen Stephanus, wenn er schrieb, er hoffe, im Himmel seinen Richter zu begegnen, die ihn zum Tode verurteilt haben, so wie Paulus an der Steinigung des Stephanus mitwirkte und ihm dann in die Ewigkeit Gottes nachfolgte.
Kirche versteckt verschämt die übernatürliche Wirklichkeit für den „Dialog“
„Was in jenem Jahr 415 der Kirche geschehen ist, interessiert aber nicht mehr. Verschämt wird die übernatürliche Wirklichkeit in einem ungezähmten Drang, der Welt zu gefallen, versteckt. Mit dem Ziel, mit den Neopositivisten – den Verleumdern von Visionen, Erscheinungen und himmlischen Phänomen – mit den Liberalen, den Kommunisten, den Radikalen … kurz, allen ‚Fernen‘, wie Paul VI. sie bezeichnete (die vor Johannes XXIII. und dem Zweiten Vatikanischen Konzil von der Kirche noch ‚Feinde‘ genannt wurden), in einen Dialog zu treten, hat sich die Kirche sich selbst entfremdet und vergißt ihr immenses und mächtiges Erbe, ein Erbe des Guten, des Schönen und des Wahren, das universell für jeden bestimmt ist“, so Cristina Siccardi.
Die lange Rede, die Stephanus (Apg 7,1–53) vor dem Synedrion hielt, das ihn verurteilte, so wie es Jesus verurteilt hatte, zeigt seine Geistgewirktheit und seinen Glauben aus Granit. Der Inhalt erschüttert noch heute wegen seiner Aktualität und läßt den Puls höher schlagen:
„Ihr Halsstarrigen, ihr, die ihr euch mit Herz und Ohr immerzu dem Heiligen Geist widersetzt, eure Väter schon und nun auch ihr.
Welchen der Propheten haben eure Väter nicht verfolgt? Sie haben die getötet, die die Ankunft des Gerechten geweissagt haben, dessen Verräter und Mörder ihr jetzt geworden seid, ihr, die ihr durch die Anordnung von Engeln das Gesetz empfangen, es aber nicht gehalten habt“ (Apg 7,51–53).
Am 3. August gedenken wir erneut dessen, was im Lager der Gottesmänner geschehen ist. Dabei bitten wir mit dem heiligen Stephanus für die inneren und äußeren Feinde der Kirche.
Text: Cristina Siccardi, Correspondenza Romana
Bild: Corrsipondenza Romana/MiL (Bernardus Daddi, um 1345, Vatikanische Museen)
Dieser Gedenktag (3.8.) an den hl. Stephanus, einen echten Christusgläubigen, wurde 1960 abgeschafft. Welche Motive bewegten die dafür Zuständigen in Rom, das Andenken an einen solchen (in Wort und Tat) vorbildlichen Menschen ausgerechnet zu Beginn einer Zeit des Umbruchs zu schmälern?
Um jene Zeit konnten doch gebildete Amtsträger ‑sofern sie nicht blind waren- zumindest erahnen, dass die Bedeutung des echten christlichen Glaubens für die Lebensgestaltung der Menschen, z.B. angesichts der zunehmenden allgemeinen technischen Fortschrittsgläubigkeit etc., immer mehr marginalisiert werden würde.
Gerade die Person des hl. Stephanus veranschaulicht die Ernsthaftigkeit, die das „Jünger Jesu sein“ eben auch beinhaltet.
Es erscheint mir deshalb nicht glaubensfördernd, in einer solchen Umbruchsituation die Bedeutung des Erzmärtyrers Stephanus durch Streichung jenes zweiten Gedenktages zu schmälern.
Welch wunderbaren Worte zur Feindesliebe, heut so oft geschmäht und vergessen. Die Feinde des Glaubens scheinen heute von selbstgerechten Gläubigen schnell ausgemacht, im Verurteilen ist man grad in unseren traditionellen Kreisen so schnell. Die Feindesliebe wird einfach vom Tisch gewischt um Platz zu schaffen für das Richterpult, an dem sich so viele drängen und dem einzigen wahren Richter den Platz stehlen.