Von Roberto de Mattei*
Zu den verheerendsten Folgen des Pontifikats von Papst Franziskus gehören zwei, die eng miteinander verbunden sind: die erste ist die Entstellung der typisch christlichen Tugend des Gehorsams; die zweite ist der Mißkredit, in den die Gesellschaft Jesu [Jesuitenorden] und ihr Gründer, der heilige Ignatius von Loyola, gebracht werden.
Der Gehorsam ist eine hohe Tugend, die von allen Theologen anerkannt und von allen Heiligen praktiziert wird. Sie hat ihr vollkommenstes Vorbild in Jesus Christus, von dem der heilige Paulus sagt:
„Er war gehorsam bis zum Tod, bis zum Tod am Kreuz!“ (Phil 2, 8).
Gehorsam sein bedeutet, in Christus sein (2 Kor 2, 9) und das Evangelium ganz leben (Röm 10, 16; 2 Tess 1, 8). Deshalb haben die Väter und die Kirchenlehrer den Gehorsam als Bewahrer und Mutter aller Tugenden bezeichnet (Augustinus, De Civ. Dei, Liber XIV, c. 12).
Das Fundament des Gehorsams ist die Unterordnung unter die Oberen, weil sie die Autorität Gottes repräsentieren. Sie repräsentieren diese Autorität, weil und sofern sie das göttliche Gesetz bewahren und anwenden. Dieses göttliche Gesetz steht über der menschlichen Macht, die jene ausüben, deren Aufgabe es ist, für seine Einhaltung zu sorgen. Der Gehorsam stellt für einen Ordensmann sogar die höchste moralische Tugend dar (Summa theologica 2–2ae, q. 186, aa. 5, 8). Man sündigt aber gegen diese Tugend nicht nur durch Ungehorsam, sondern auch durch Unterwürfigkeit und die Anpassung an Entscheidungen der Oberen, die offenkundig ungerecht sind.
Die Entstellung des Gehorsams erfolgt, unter dem Pontifikat von Papst Franziskus, wenn die Bischöfe oder der Papst selbst ihre Autorität mißbrauchen, indem sie von den Gläubigen eine unterwürfige Unterordnung unter Dokumente verlangen, die zur Häresie oder zur Unmoral verleiten. Solche pastoralen Anweisungen können nicht akzeptiert werden.
Dadurch besteht aber auch die Versuchung, für jene, die in dieser verwirrenden Situation treu im Glauben verharren wollen, nicht nur die mißbräuchliche Ausübung der Autorität in Frage zu stellen, sondern die Autorität an sich. Dies wird durch eine gewisse psychologische Neigung zum Anarchismus begünstigt, durch die jene geprägt siind, die nach 1968 geboren wurden. Durch die Geringschätzung der Autorität geht auch die Bedeutung der Tugend des Gehorsams verloren, mit schwerwiegenden Schäden für das geistliche Leben.
Aus dieser Perspektive wird den Jesuiten manchmal eine Schuld angelastet, wie die Einführung eines überzogenen und voluntaristischen Gehorsamsverständnisses in die Kirche, die sie nicht trifft. Man zitiert dazu die Aufforderung des heiligen Ignatius von Loyola zu „blindem Gehorsam“, übersieht dabei aber die Bedeutung, die der Gründer der Gesellschaft Jesu dieser Tugend zuschreibt. Das Wort „blind“ legt nämlich Irrationalität nahe, doch der heilige Ignatius war unter den Heiligen gerade ein Meister der Rationalität. Seine Geistlichen Exerzitien sind ein Meisterwerk der Logik, die auf der Anwendung des Grundsatzes vom ausgeschlossenen Widerspruch auf den geistlichen und moralischen Bereich des Exerzitanten gründen.
Die Behauptung von Wilhelm von Ockham, daß alles richtig sei, was Gott anordnet, aber Gott auch Unrecht anordnen könne (iustum quia iussum), legte die Fundamente zum Voluntarismus Luthers, zu dem das Ignatianische Verständnis die Antithese darstellt. Der blinde Gehorsam, den der heilige Ignatius meint, wäre irrational, wenn er von der Vernunft losgelöst wäre. Diese bildet aber, wie der Heilige betont, vielmehr dessen Voraussetzung, weil er das Ergebnis einer gründlichen und abgewogenen Reflexion ist (Monumenta Ignatiana, Gabriel Lopez del Horno, Madrid 1903ff, 4, S. 677ff). Der Ignatianische Gehorsam hat nichts mit dem Voluntarismus zu tun, gerade weil er auf der Logik und dem Respekt gegenüber einem objektiven göttlichen und natürlichen Gesetz gründet, dem sich der Vorgesetzte unterzuordnen hat.
Der heilige Ignatius behandelt den Gehorsam in den Konstitutionen der Gesellschaft, im Brief über den Gehorsam, den er am 26. März 1553 an die Jesuiten Portugals richtete, und in zahlreichen anderen Briefen, wie jenen an die Scholastiker von Coimbra, die Gemeinschaft von Gandia, die Jesuiten von Rom, an Andrés Oviedo und an Pater Urbano Fernandez. In diesen Dokumenten erklärt er gut, daß und welche klaren Grenzen der Gehorsam hat: die Sünde und der offensichtliche Widerspruch. In den Konstitutionen, zum Beispiel, erklärt der heilige Ignatius, daß die Jesuiten dem Oberen „in allen Dingen, in denen keine Sünde ist“ (Nr. 284) gehorchen müssen; „in allen Dingen, die der Obere anordnet und in denen man keine Art von Sünde ausmachen kann“ (Nr. 547); in allen Dingen, „in denen keine Sünde erkennbar ist“ (Nr. 549). Wenn also die Anordnung des Oberen zur Sünde verführt, muß sie zurückgewiesen werden. Natürlich sind damit sowohl Todsünde als auch läßliche Sünde gemeint und sogar die Gelegenheit zur Sünde, wenn derjenige sich darin subjektiv sicher ist, der sich einem ungerechten Befehl gegenübersieht.
Neben den Grenzen, die dem Gehorsam willentlich durch die Sünde gesetzt sind, gibt es auch jene, die vom Urteil abhängen, wie aus dem Brief an die Jesuiten von Coimbra vom 14. Januar 1548 hervorgeht. Darin führt der Gründer der Gesellschaft aus, daß der Gehorsam nur bis dahin gilt, wo er etwas betrifft, was Sünde ist oder was offenkundig als falsch erkannt wird (MI, I, 1, S. 690). Diese Einschränkungen finden sich auch in der Gehorsamscharta, in der der Jesuit zum Gehorsam aufgefordert wird „in vielen Dingen, in denen ihn nicht die Offensichtlichkeit der bekannten Wahrheit zwingt“ (MI, I, 4, S. 674). Pater Carlos Palmés de Genover SJ, der dieses Thema studierte, schrieb:
„Es ist klar, daß die Offensichtlichkeit des Gegenteils eine natürliche Beschränkung des Gehorsams darstellt wegen der psychologischen Unmöglichkeit, die eigene Zustimmung zu dem zu geben, was sich als offensichtlich falsch zeigt“ (La obediencia religiosa ignaciana, Eugenio Subirana, Barcelona 1963, S. 239).
Wenn die Grenzen des Gehorsams durch die Sünde moralischer Natur ist, so ist sie durch die Offensichtlichkeit psychologischer Natur. Der Gehorsam ist also unter bestimmten Bedingungen „blind“, aber nie irrational.
Wenn das Offensichtliche zeigt, daß ein päpstliches Dokument wie Amoris laetitia die Sünde begünstigt, kann ein wahrer Sohn des heiligen Ignatius gar nicht anders, als es abzulehnen. Die Tatsache, daß es gerade ein Sohn des heiligen Ignatius ist, der dieses Dokument herausgegeben hat, bedeutet nicht, daß Papst Bergoglio das Ergebnis der Ignatianischen Spiritualität ist, sondern beweist vielmehr die Gültigkeit des Sinnspruchs corruptio optimi pessima.
Die intellektuelle und moralische Entartung der Gesellschaft Jesu in den vergangenen fünfzig Jahren darf nicht ihre außergewöhnlichen Verdienste in der Vergangenheit vergessen machen. Zwischen der protestantischen und der französischen Revolution bildeten die Jesuiten den unüberwindbaren Wall, den die Vorsehung gegen die Feinde der Kirche errichtet hatte. Der Damm brach 1773, als ausgerechnet ein Papst, Clemens XIV., die Gesellschaft Jesu aufhob und die Kirche ihrer besten Verteidiger beraubte.
Pater Jacques Terrien legte eine gründliche historische Studie über eine Überlieferung vor, die auf die Frühzeit der Gesellschaft zurückgeht, laut der die Bewahrung der Berufung innerhalb des vom heiligen Ignatius gegründeten Ordens das sichere Heilspfand sei (Recherches historiques sur cette tradition que la mort dans la Compagnie de Jésus est un gage certain de prédestination, Oudin, Paris 1883). Unter den zahlreichen Zeugnissen, die der Ordensmann anführt, von den Bollandisten bis zur heiligen Teresa von Avila, ist vor allem eine Offenbarung von besonderem Interesse, die der heilige Franz von Borja, der Generalobere des Ordens, 1569 hatte.
„Gott hat mir geoffenbart, daß für den Zeitraum von 300 Jahren keiner von denen, die in der Gesellschaft gelebt haben, leben oder leben werden und in ihr sterben, verdammt wird. Das ist dieselbe Gnade, die bereits dem Orden des heiligen Benedikt gewährt wurde“ (Terrien, s.o., S. 21f).
Da die Jesuiten 1540 gegründet wurden, galt das Heilsprivileg, für jene, die in der Gesellschaft gestorben sind, bis 1840, während die folgenden Generationen davon ausgenommen sind. Und tatsächlich beginnt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts der langsame Verfall des vom heiligen Ignatius gegründeten Ordens, wenn auch mit vielen Ausnahmen. Dieser Verfall fand seinen vielsagenden Ausdruck in den Jahren des Zweiten Vatikanischen Konzils, in denen der Jesuit Karl Rahner eine entscheidende Rolle spielte, und vor allem in den darauffolgenden Jahren unter der Leitung von Pater Arrupe, als die Jesuiten unter verschiedensten Formen in Lateinamerika die Befreiungstheologie förderten. Heute schürt ein Jesuiten-Papst, der in der Schule der Befreiungstheologie geformt wurde, die Krise in der Kirche.
Um gegen eine mißbräuchlich ausgeübte Autorität standzuhalten, erbitten wir die Fürsprache und Hilfe jener heiligen Jesuiten, die in ihren Schriften oder ihrem Lebenszeugnis die Grenzen des Gehorsams aufgezeigt haben: vom heiligen Robert Bellarmin, der ermahnte, daß die regula fidei nicht im Oberen, sondern in der Kirche ist, bis zum seligen Miguel Pro, der vor 90 Jahren, am 23. November 1927, das Martyrium erlitt, weil er der freimaurerischen Regierung Mexikos widerstanden hat.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt erschienen: Vicario di Cristo. Il primato di Pietro tra normalità ed eccezione (Stellvertreter Christi. Der Primat des Petrus zwischen Normalität und Ausnahme), Verona 2013; in deutscher Übersetzung zuletzt: Das Zweite Vatikanische Konzil – eine bislang ungeschriebene Geschichte, Ruppichteroth 2011.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: MiL