(Rom) Fügung oder Zufall? Genau am Tag, an dem die Türkei heftige Angriffe gegen Papst Franziskus richtete und der türkische Staatspräsident Racep Tayyip Erdogan sich an die Spitze dieser Kritik gegen das katholische Kirchenoberhaupt stellte, veröffentlichte der Osservatore Romano auf der Titelseite in den Spalten, die sonst dem Leitartikel vorbehalten sind, den Artikel eines Muslimen.
Papst Franziskus hatte sich den türkischen Bannstrahl zugezogen, weil er es gewagt hatte, den Völkermord an den christlichen Armeniern auch einen Völkermord zu nennen. Genau das aber wird von der Türkei bis heute geleugnet. Und zwar nicht nur von der Türkei. Auch UNO-Generalsekretär Ban Ki-moon gibt sich wortkarg zum Aghet, der „Katastrophe“, wie die Armenier den Genozid an ihrem Volk nennen. US-Präsident Barack Obama, der sich an anderer Stelle gern in der Rolle des modernen Moralapostels sieht, spielt die Massaker und Deportationen der Jungtürken gegen die christlichen Armenier, Griechen und Syrer herunter.
Der Autor, dem die Tageszeitung des Vatikans einen Ehrenplatz einräumte, ist Zouhir Louassini. Der moslemische Journalist und Buchautor wurde in Tanger in Marokko geboren. Er war Gastprofressor an verschiedenen Universitäten, arbeitet mit RAI News zusammen und schreibt für arabische Tageszeitungen, darunter al-Hayat, Lakome und al-Alam.
„Wahrer“ Islam, „falscher“ Islam, Aufklärung als außerreligiöses Disziplinierungsmittel der Religion?
Es handelte sich nicht um seinen ersten Artikel im Osservatore Romano. Die drei vorhergehenden können auf ArabPress nachgelesen werden.
Sein aktueller Beitrag befaßt sich nicht mit dem Völkermord an den Armeniern, aber mit den Wurzeln der Abneigung gegen die „Ungläubigen“, die den jungen Menschen an den Koran-Schulen der islamischen Staaten, aber auch in Europa „systematisch eingeimpft“ (Sandro Magister) werde.
Es brauche in den islamischen Staaten eine „Revolution“ in der Glaubensvermittlung, so Louassini, wenn künftig tragische Ereignisse „wie wir sie in Garissa und in Kenia gesehen“ haben, vermieden werden sollen.
„Man muß es für das Wohl eines so großen Glaubens wie des Islams tun, der sich von den Ketten befreien muß, die Interpretationen darstellen, die anderen Epochen angehören“.
Der Osservatore Romano als Sprachrohr einer politisch-korrekten Islam-Interpretation, laut der nicht der Islam ein Problem sei, sondern lediglich eine inakzeptable Auslegung, die im Sinne der westlichen Aufklärung überwunden werden müsse?
So wünschen es die westlichen Regierungen. So erwarten sie es von den Religionsvertretern. Ist es der angemessene Ansatz? Es wird nicht gesagt, aber angedeutet: Die Aufklärung als außerreligiöses Disziplinierungsmittel aller Religionen?
Hier der Text von Zouhir Louassini, veröffentlicht auf der Internetseite des Osservatore Romano am 14. April und in der Druckausgabe vom 15. April.
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Diese Kinder von Tanger
von Zouhir Louassini
Es war Anfang der 70er Jahre in einem Tanger voll Leben und Hoffnung. Ich war noch keine acht Jahre alt. Die Erinnerung an jene Zeit erscheint mir verschwommen und wirr. Etwas aber ist mir noch heute ganz klar präsent: meine Ängste, von denen es viele gab. Mich ängstigte die Dunkelheit zum Beispiel. Später verstand ich, daß das mit Sicherheit keine Urangst war. Und sie war nichts im Vergleich zur Beklemmung, die ich damals jedes Mal verspürte, wenn ich an der Kathedrale vorbeikam.
Ich mußte jeden Tag an ihr vorbei, weil sie sich auf meinem Schulweg befand. Dort brachten mir die Lehrer für „religiöse Erziehung“ bei, daß die Christen, da Ungläubige, zur Hölle verdammt waren. Ihre Schuld? Weil sie die Worte Gottes „verfälscht“ hatten. Ich erinnere mich, wie traurig ich war wegen des Schicksals, das meine Freunde Jesús und Miguel, zwei christliche Freunde, erwartete, die oft zu mir nach Hause kamen und fast täglich meine Spielgefährten waren. Gewiß, ich tröstete mich mit der Illusion, daß die beiden spanischen Brüder im Laufe der Zeit, vielleicht mit meiner Hilfe, auch die „Wahrheit“ erkennen würden.
Alle diese Erinnerungen tauchten wieder ganz lebendig in mir auf, angesichts des Artikels von Hani Naqshabandi, der am 7. April von Elaph veröffentlicht wurde. Er erhob eindeutige Vorwürfe gegen jene, die an den Schulen Haß lehren und dazu die Religion mißbrauchen. Endlich! Was wir in Garissa in Kenia gesehen haben, wo 150 Kinder getötet wurden, nur weil sie Christen waren, ist auch einer Folge der Erziehung, die an den Schulen vermittelt wird.
Es genügt die Schulprogramme in fast allen islamischen Staaten zu lesen, um sich bewußt zu machen, daß wir vor einem ernsten Problem stehen, das angegangen werden muß, sofort und mit Mut. Schon als Kinder lernen die Moslems das Christentum nur aus dem Blickwinkel der Fuqaha, den Interpreten des Koran kennen. Nur die, wie Naqshabandi schreibt, „wissen vom Christentum und den anderen Religionen soviel, wie sie von der Relativitätstheorie wissen. Im Klartext: Nichts.“ Das hinderte sie aber nicht daran, „uns zu sagen, daß die Christen Ungläubige sind und wir haben ihnen geglaubt. Sie haben uns gesagt, daß die Christen das Volk der Hölle sind und daß das Paradies unser Monopol ist und wir haben ihnen beigepflichtet. Sie haben uns gesagt, daß die Christen die Feinde Allahs und des Islams sind und wir haben gesagt: ‚Allah soll sie verfluchen‘“. Eindeutiger geht es nicht mehr!
Es stimmt, daß einige arabisch-muslimische Staaten einige Reformen eingeleitet haben. Die Ergebnisse zeigen uns jedoch, daß die Versuche gescheitert sind. Der Mut heute besteht darin, das einzugestehen und sofort damit zu beginnen, die Gründe für das Scheitern anzugehen. Und es ist naheliegend, daß damit bei der Schule begonnen werden muß, indem die bestehenden Programme durch andere ersetzt werden, die den Respekt und die Achtung für andere Religionen lehren. Man muß es für das Wohl eines so großen Glaubens wie des Islams tun, der sich von den Ketten befreien muß, die Interpretationen darstellen, die anderen Epochen angehören.
Der syrische Dichter Adonis sagte auf der jüngsten Buchmesse in Kairo im vergangenen Februar: „Es gibt nicht einen wahren Islam und einen falschen Islam: es gibt nur gemäßigte Moslems und extremistische Moslems je nach ihrer Lesart und Interpretation des heiligen Textes. Der Islam ist aber immer nur einer“. Si parva licet componere magnis: auch im Namen jenes Kindes von Tanger und seiner kleinen Freunde, fällt es uns zu, jetzt, zu entscheiden, mit wem wir sprechen und mit wem wir die Zukunft bauen.“
Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Osservatore Romano (Screenshot)