Von Roberto de Mattei*
In den geschichtlichen Epochen, in denen Verwirrung herrscht, entspricht der Autoritätskrise eine Verdunkelung der Wahrheit. Ohne feste Bezugspunkte ersetzt der Normalbürger die Wahrheit durch seine eigene Meinung und lädt sie mit der ganzen Leidenschaft auf, zu der jede Seele, die das Absolute sucht, fähig ist. Die Wahrheit wird personalisiert. Einst, wie ein französischer Philosoph schon vor vielen Jahren feststellte, liebten sich die Menschen durch die Institutionen, während heute die Institutionen nur durch eine idolatrisierte Person ertragen werden (Gustave Thibon, Diagnostics. Essai de Physiologie Sociale, Malicorne-sur-Sarthe 1942). So geht das mit den Ideen.
Diese Verfinsterung der Wahrheit, die auf das Zweite Vatikanische Konzil und die Revolution von 1968 zurückgeht, wurde von vielen katholischen Schriftstellern angeprangert, heute aber kann jeder Gläubige ihre dramatischen Folgen selbst abschätzen. Man gibt sich zum Beispiel der Illusion hin, daß es, um die Kirchenkrise zu beenden, ausreicht, Papst Franziskus, der als der Hauptverantwortliche für diese Krise gilt, eine andere Gestalt, möglichst einen Bischof oder Kardinal, entgegenzusetzen. Und wer den Anti-Bergoglio verkörpert, wird nicht grundsätzlich, aber de facto ein „Gegenpapst“. Ein Gegenpapst natürlich ohne jeden kanonischen Anspruch, anders als jene, die uns die Geschichte kennenlernen hat lassen. Die Gegenpäpste der Vergangenheit suchten vor allem die juristische Legitimität, um jenen entgegnen zu können, die sie für Usurpatoren hielten, während die institutionelle Dimension der Kirche heute durch ein halbes Jahrhundert Anti-Juristizismus getrübt ist. So werden dem „falschen“ Papst Bergoglio alle Fehler und dem traditionstreuen Bischof, der sich ihm widersetzt, alle Tugenden zugeschrieben und jedes seiner Worte und jedes Verhalten mit Unfehlbarkeit aufgeladen.
Der Hinweis auf den Casus Msgr. Viganò ist offensichtlich, auch wenn ich, um jedes Mißverständnis auszuräumen, keineswegs behaupte, daß sich der italienische Erzbischof als Gegenpapst betrachtet. Ich schätze seine Treue zur wahren Lehre und freue mich, daß er nie behauptet hat, die apostolische Nachfolge sei unterbrochen. Vielmehr befürchte ich, daß einige seiner fanatischsten Anhänger ihn in den Abgrund treiben könnten, und das hat mich veranlaßt, mit zwei Artikeln in der Corrispondenza Romana vom 21. (hier) und vom 23. Juni 2021 (hier) einzugreifen. Die Artikel haben bei einigen Zustimmung gefunden, bei anderen Wut und bei wieder anderen Ratlosigkeit ausgelöst. Und es sind vor allem die Ratlosen, an die ich mich jetzt wende.
Vom Standpunkt der Doktrin aus bin ich besorgt über ein gewisses, von Msgr. Viganò verwendetes Verschwörungsdenken, um eine Erzählung ohne rationale Grundlage durchzusetzen, ähnlich wie jene, die sich angeblicher Privatoffenbarungen bedienen, um ihre Gesprächspartner zum Schweigen zu bringen. Das Verschwörungsdenken hat nichts mit dem ernsthaften und quellengestützten Studium der Geheimgesellschaften zu tun. Es ist vielmehr ein blindes Festhalten an der Ideologie der „permanenten Verschwörung“, für die, wie zu Recht angemerkt wurde, „jene, welche die Theorie der Verschwörung nicht teilen, selbst Teil der Verschwörung sind oder im Sold jener stehen, die sie anzetteln; während diejenigen, die die Verschwörung anprangern, als Propheten angesehen werden, auf die man sich verlassen kann, um aus ihr herauszukommen“.
In diesem konspirativen Rahmen versuchen einige, Msgr. Viganò zu einer „No-Vax-Religion“ [Anti-Impf-Religion] zu drängen, die bestimmte legitime Kritikpunkte, die an der weltweiten Impfkampagne geübt werden können, in Dogmen verwandelt. Für jeden, der den No-Vax-Glauben ablehnt, steht die Exkommunikation bereit.
Noch gravierender ist der Anspruch, Msgr. Viganò eine Heilsmission innerhalb der Kirche zuzusprechen, die in Wirklichkeit nur durch ihren Gründer Jesus Christus gerettet werden kann. Msgr. Marcel Lefebvre, mit dem einige Msgr. Viganò vergleichen wollen, blieb der Tradition in einer stürmischen Zeit treu, aber er war nie Verfasser von Proklamationen an Staatsoberhäupter, Bischöfe oder einfache Gläubige, noch hat er gegenüber Paul VI. Ausdrücke der Verachtung geäußert, wie Msgr. Viganò sie gegenüber Papst Franziskus gebraucht.
Aus diesem Grund schien ich eine Divergenz zwischen der Sprache und dem Inhalt des Msgr. Viganò erster Art (2018/2019) auszumachen, den ich kennengelernt und geschätzt habe, und dem beunruhigenden Msgr. Viganò zweiter Art (2020/2021). Manche sehen in dieser Veränderung eine „Reifung“ seiner Positionen. Ich hingegen hege den Verdacht, daß es das Ergebnis einer gewissen Manipulation sein könnte. Wir wissen wenig oder nichts über die aktuellen Mitarbeiter von Msgr. Viganò, weil der Erzbischof an einem unbekannten Ort lebt und fast nie in der Öffentlichkeit auftritt. Wir glauben jedoch, in Cesare Baronio alias Pietro Siffi, Autor des Blogs Opportune e importune, seinen wichtigsten „Ghostwriter“ identifiziert zu haben. Ich habe nichts Persönliches gegen Pietro Siffi, ich habe kein Detail seines Lebens preisgegeben, das nicht dokumentiert werden könnte, noch habe ich moralische Urteile über seine persönlichen Angelegenheiten geäußert. Ich habe mich darauf beschränkt, mich über die Zusammenarbeit von Msgr. Viganò mit diesem umstrittenen Charakter zu wundern, der außerhalb Italiens unbekannt, aber in traditionalistischen Kreisen Italiens bekannter ist, als es scheint.
Bischof Viganò wird von der traditionellen Welt applaudiert, wenn er Papst Franziskus beschuldigt, von einem „magischen Kreis“ von „Perversen“ umgeben zu sein, wie er es in der Erklärung an die Zeitung La Verità vom 3. November 2020 und in unzähligen anderen Schriften getan hat. Wenn jemand aber respektvoll Msgr. Viganò aufmerksam macht, daß er sich von Charakteren distanzieren sollte, die ihn umgeben, die der Gay-friendly-Welt verbunden sind, macht er sich des Crimen laesae maiestatis schuldig. Hier zeigt sich, ich sage nicht eine böse Absicht, aber zumindest ein schlechter Gebrauch der Vernunft durch einige meiner Kritiker.
Wie bereits geschrieben, hätten wir nie einen Fall daraus gemacht, wenn nicht so viele gute Traditionalisten die Erklärungen, nicht von Msgr. Viganò, sondern seines „Doppelgängers“, wie ein Quasi-Lehramt präsentieren würden. Unsere Bedenken sind nicht übertrieben. „Wenn wir uns nicht sorgen um ein Gewand, dessen Naht aufgeht, wird es sich am Ende überall auflösen; wenn sich niemand Gedanken macht, weil einige Dachziegel heruntergefallen sind, wird am Ende das ganze Haus einstürzen“ (Johannes Chrysostomus, Homelie zum ersten Brief an die Korinther, 8,4).
Auf unsere Bitte um Klarstellung hat Msgr. Viganò nach einer Woche noch nicht geantwortet. Dafür wurden wir von zahlreichen Blogs, die sein Denken verbreiten, hart angegriffen. Die Heftigkeit dieser Reaktionen bestätigt, wie notwendig unsere Intervention war. Ich beziehe mich nicht auf jene, die zu Verleumdungen und Beleidigungen gegriffen haben, die ob ihrer Absurdität keine Beachtung verdienen, sondern auf jene, die den Verdacht geweckt haben, daß ich ein verstecktes Interesse an dieser Kontroverse haben könnte. Heute ist die relativistische Mentalität so weit verbreitet, daß man sich offenbar nicht mehr vorstellen kann, daß es jemanden geben könnte, der aus reiner Liebe zur Wahrheit kämpft. Diejenigen, die glauben, daß jede Handlung durch niedrige Gefühle und dunkle Interessen erklärt werden muß, sind offensichtlich daran gewöhnt, so zu handeln und verstehen das Desinteresse erhabenerer Seelen, als es die ihren sind, nicht. Deshalb sagt der heilige Gregor von Nazianz: „Jene beurteilen Sensibilität und Verhalten anderer in der Regel aufgrund ihrer eigenen Art, zu handeln und zu fühlen“ (Sermo apologeticus de fuga, hier zitiert nach: Fuga e autobiografia, Città Nuova, Rom 1987, S. 33).
Schließlich gibt es jene, die mir vorwerfen, die traditionelle Welt spalten zu wollen. Das sind dieselben Vorwürfe, die während des Zweiten Vatikanischen Konzils gegen die Konzilsväter des Coetus internationalis erhoben wurden von gewissen konservativen Bischöfen, die die Einheit der Kirche über die Wahrheit des Evangeliums stellten, selbst dann noch, als der sichtbare Körper der Kirche objektiv bereits zertrümmert war.
In Italien wird der 700. Todestag von Dante Alighieri (1265–1321) begangen. Der große Dichter, der persönlich an den politischen und religiösen Kämpfen seiner Zeit teilnahm, hegte eine starke Verachtung für die Schüchternen und Kleinmütigen. „Die traurigen Seelen derer / die ohne Schande und ohne Lob lebten“ (Hölle III, 36), sind die erste Gruppe von Geistern, die er trifft, sobald er die Schwelle zur Hölle überschreitet. Sie sind eingemengt in den schlechten Chor „der Engel, die weder rebellisch noch Gott treu waren“. Das ist die „dritte Partei“ derer, die ihre Feigheit „Besonnenheit“ nennen und sich immer in den großen Lehrkonflikten der Geschichte einer Parteinahme enthalten.
Innere Kämpfe und Spaltungen haben die Geschichte der Kirche ständig begleitet. Warum läßt Gott sie zu? Der heilige Paulus schreibt im Ersten Brief an die Korinther: „Denn es muß Parteiungen geben unter euch; nur so wird sichtbar, wer unter euch treu und zuverlässig ist“ (1 Kor 11,19). Spaltungen, wie der heilige Vinzenz von Lérins erklärt (Commonitorium, XIX, 1), sind von der göttlichen Vorsehung erlaubt, denn: „Der Herr, euer Gott, stellt euch auf die Probe, um zu wissen, ob ihr Ihn von ganzem Herzen und mit ganzer Seele liebt“ (Deuteronomium 13,3). In der Tat, „der wahre und echte Katholik ist jener, der die Wahrheit Gottes und die Kirche, den Leib Christi, liebt, der nichts der göttlichen Religion und dem katholischen Glauben vorzieht, weder die Autorität eines Menschen noch die Liebe noch die Begabung noch die Beredsamkeit noch die Philosophie“ (Commonitorium, XX, 1).
Schließlich wird mir vorgeworfen, eine Kontroverse ad personam zu führen, aber es ist ein typisch liberaler Irrtum, sich dem kulturellen und religiösen Kampf zu stellen, indem man von denen abstrahiert, die die Ideen, die wir bekämpfen, fördern und verteidigen. Die meisten Werke des heiligen Augustinus waren eine persönliche und zugleich doktrinäre Kontroverse, wie die Titel vieler seiner Werke bezeugen: Contra Fortunatum; Adversus Adamantium; Contra Felicem; Contra Secundinum; Quis fuerit Petilianus; De gestis Pelagii; Contra Julianum (Don Felix Sarda y Salvany, Le libéralisme est un péché, Editions de la Nouvelle Aurore, Paris 1915, S. 116).
Deshalb werde ich weiterhin loyal und uneigennützig für die Wahrheit kämpfen, ohne vor persönlichen Kontroversen zurückzuscheuen. Ein großer konterrevolutionärer Historiker wie Jacques Crétineau-Joly (1803–1875) erinnert uns daran, daß „die Wahrheit die einzige Wohltat ist, die der Geschichte erlaubt ist“.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017 und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
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Einleitung/Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
Siehe zur Kontroverse auch: