Von Roberto de Mattei*
Die fahle Morgendämmerung des Jahres 2026 erhebt sich über einem Europa, das sich im Krieg befindet, ohne es zu wissen. Selbst jene, die es wissen – jene, die diesen Krieg begonnen haben –, vermeiden es sorgfältig, dies auszusprechen, und reden weiter von Frieden. Schließlich, so lehrt der heilige Augustinus, wünschen auch diejenigen, die Kriege führen, nichts anderes, als sich durch den Sieg den Frieden zu sichern (De Civitate Dei, Buch XIX, Kap. VII).
So erklärte Putin in seiner ausufernden Jahresendkonferenz, er wolle den Frieden, allerdings einen Frieden, der auf dem Respekt jener Prinzipien beruhe, die ihn nicht zu einem Krieg, sondern zu einer „Sonderoperation“ in der Ukraine geführt hätten.
Der Krieg betrifft inzwischen nicht mehr nur die Ukraine, sondern Europa und den Westen insgesamt. Es ist ein nicht erklärter, aber realer Krieg, der in der heutigen Sprache als hybrider Krieg bezeichnet wird. Verändert hat sich nicht das Wesen des Konflikts, sondern seine Formen, seine Instrumente und vor allem die Schwelle politischer Sichtbarkeit, ab der ein Staat bereit ist einzugestehen, daß er sich im Krieg befindet. Gekämpft wird durch Geheimdienstoperationen, Sabotageakte gegen die Infrastruktur des Gegners, durch Drohnen, schattenlose Schiffe, unsichtbare U‑Boote, während parallel dazu die Aufrüstung im Hinblick auf einen offiziellen Krieg weitergeht, den alle heraufbeschwören und niemand erklärt.
Stromnetze brechen aufgrund mysteriöser „technischer“ Störungen zusammen, IT-Systeme kollabieren unter „anonymen“ Angriffen, Luft- und Handelsrouten werden unsicher, Desinformationskampagnen verwirren die öffentliche Meinung bis zu dem Punkt, an dem sie nicht mehr zwischen Angreifern und Verteidigern unterscheiden kann. Und dennoch wird niemandem bewußt, daß Krieg herrscht. Man kämpft in einer permanenten Grauzone, in der der Krieg existiert, aber mit seiner eigenen Verneinung koexistiert.
Der nicht erklärte Krieg ist keine Erfindung unserer Zeit, sondern eine Konstante der internationalen Geschichte, auch wenn die Art und Weise, wie er heute geführt wird, neu ist. Ein emblematisches Beispiel sind die Vereinigten Staaten in den Jahren 1940 bis 1941. In Europa donnerten die Kanonen, und Präsident Franklin D. Roosevelt war überzeugt, daß ein Sieg des nationalsozialistischen Deutschlands eine Bedrohung für die Sicherheit Amerikas darstellen würde. Doch die öffentliche Meinung in seinem Land war mehrheitlich gegen einen Kriegseintritt.
Entschlossen zu intervenieren, ohne jedoch über den notwendigen Konsens für eine Kriegserklärung zu verfügen, setzte Roosevelt das um, was viele Historiker als einen „nicht erklärten Krieg“ gegen Deutschland bezeichnet haben. Es handelte sich um einen Krieg, der durch eine Abfolge militärischer, logistischer und politischer Maßnahmen geführt wurde und die Vereinigten Staaten immer näher an die direkte Konfrontation mit dem Dritten Reich heranführte.
Das Herzstück dieses nicht erklärten Krieges war der Atlantik. Amerikanische Schiffe begannen, britische Versorgungskonvois zu eskortieren, wohl wissend, daß sie sich damit Angriffen deutscher U‑Boote aussetzten. Im September 1941 kündigte Roosevelt nach dem Zwischenfall mit der USS Greer, einem amerikanischen Zerstörer, der in ein Gefecht mit einem deutschen U‑Boot verwickelt war, die Politik des „shoot on sight“ an: Deutsche Schiffe, die in den atlantischen Sicherheitszonen gesichtet wurden, konnten ohne Vorwarnung angegriffen werden. Parallel dazu unterstützte Washington die britischen Kriegsanstrengungen durch das Lend-Lease-Programm, das die Lieferung von Waffen und Material an Länder ermöglichte, die gegen die Achsenmächte kämpften. De facto hatte der Krieg bereits begonnen, auch wenn niemand ihn so nannte.
Diese Strategie rief scharfe Kritik des America First Committee hervor, der größten isolationistischen Bewegung der amerikanischen Geschichte, die Roosevelt vorwarf, das Land unter Umgehung des Volkswillens in den Konflikt hineinzuziehen. Die Wunden des Ersten Weltkriegs waren noch offen, und Millionen von Amerikanern fürchteten, ein neuer militärischer Einsatz in Europa würde nur Tod, Schulden und innere Instabilität bringen. Der Slogan „America First“ bündelte eine Weltanschauung, die auf den Prinzipien beruhte, den amerikanischen Kontinent zu verteidigen, die nationale Wirtschaft zu stärken und jede Verstrickung in den Alten Kontinent abzulehnen.
Die Bewegung fand ihr bekanntestes Symbol in Charles Lindbergh, dem berühmten Atlantiküberflieger von 1927. In seinen Reden erklärte Lindbergh, Deutschland sei militärisch unbesiegbar und ein amerikanisches Eingreifen wäre nutzlos und katastrophal. Einige seiner Aussagen, insbesondere jene, die der Roosevelt-Regierung sowie amerikanischen und britischen Juden die Verantwortung für den Drang in den Krieg zuschrieben, führten zu Antisemitismusvorwürfen, welche die Glaubwürdigkeit der Bewegung untergruben.
Am 11. Dezember 1941 griff Japan die Vereinigten Staaten in Pearl Harbor an. Wenige Tage später erklärte das Deutsche Reich den USA den Krieg und machte damit offiziell, was faktisch bereits seit Monaten im Gange war. Das America First Committee löste sich aufgrund der neuen Situatuon abrupt auf. Angesichts eines direkten Angriffs auf amerikanisches Territorium erkannten selbst die Führer der Bewegung an, daß von diesem Moment an die nationale Einheit über jeder ideologischen Spaltung stand.
Wenn das America First Committee in einem Kontext entstand, der vom Trauma des Ersten Weltkriegs und der Angst vor nutzlosen Opfern geprägt war, so kehrt der Isolationismus heute in den Vereinigten Staaten in Form einer Kritik an den wirtschaftlichen und menschlichen Kosten des globalen Engagements zurück. Es wäre jedoch ein Fehler, das jüngste Dokument der Vereinigten Staaten zur Nationalen Sicherheitsstrategie (National Security Strategy – NSS), das 2025 vom Weißen Haus veröffentlicht wurde, isolationistisch zu interpretieren. Der Text stellt das Interesse der Vereinigten Staaten als nationale Priorität heraus und bezeichnet Europa als einen Kontinent im Niedergang, doch Washington erklärt sich bereit, mit einem starken Europa zusammenzuarbeiten, das in der Lage ist, zur strategischen Konkurrenz beizutragen – auch militärisch. Die Möglichkeit einer Auslöschung der europäischen Identität, die das Dokument mit Besorgnis hervorhebt, ist eine reale Gefahr, die Europa nicht wahrzunehmen scheint. Der meistdiskutierte Satz des Textes, „We want Europe to remain European“, bedeutet, daß Europa dabei ist, aufzuhören, es selbst zu sein, und zu seinen Wurzeln zurückkehren muß. Es sind die europäischen Nationen, die die Verantwortung übernehmen müssen, das wiederzugewinnen, was das Dokument des Weißen Hauses als „zivilisatorisches Selbstwertgefühl“ bezeichnet: das Bewußtsein für das historische und kulturelle Erbe des Alten Kontinents. In einer nicht unähnlichen Perspektive hat Leo XIV. selbst in seiner „Urbi et Orbi“-Botschaft am Weihnachtstag die Notwendigkeit betont, daß Europa seinen christlichen Wurzeln und seiner Geschichte treu bleibt.
Der europäische Niedergang äußert sich heute in der Form eines „Neo-Pazifismus“, der ein von „fernen“ Kriegen müdes Wählerpotential anspricht. Doch der Pazifismus entspringt einer historischen Verdrängung: der Illusion, es genüge, sich „für den Frieden“ zu erklären, um den Krieg zu vermeiden. Diese Haltung legitimiert den hybriden Krieg, weil sie seine Erzählung akzeptiert. Eines der wichtigsten Instrumente des hybriden Krieges ist die Manipulation der öffentlichen Meinung. Dies geschieht durch Desinformationskampagnen und Friedensappelle, die faktisch mit der Forderung nach Kapitulation gegenüber einem Feind zusammenfallen, der sich nicht als solcher zu erkennen gibt.
Der Pazifismus, der die Existenz eines Konflikts nicht anerkennt, erweist sich so als unfähig, einem Krieg zu begegnen, der sich nicht als Krieg präsentiert. Der Frieden ist nicht länger das Ergebnis einer verteidigten Ordnung, sondern die Maske einer schrittweisen Kapitulation. Der hybride Krieg ist gerade deshalb tragisch, weil er die Tragödie leugnet: Er verlangt keine klaren Entscheidungen, sondern zehrt sie langsam auf, bis der schließlich erklärte Krieg nicht mehr als Entscheidung erscheint, sondern als unausweichliche Fatalität.
Die Geschichte zeigt, daß der Pazifismus kein neutraler Raum ist: Er ist das Terrain, auf dem sich jener durchsetzt, der bereit ist, Gewalt anzuwenden, ohne sie zu benennen. Und wenn der Frieden, wie der heilige Augustinus erklärt, die Ruhe der Ordnung ist, dann kann er nicht aus der Verdrängung des Konflikts entstehen, sondern aus dem Mut, ihn zu erkennen. Denn die wahre Alternative besteht heute nicht zwischen Krieg und Frieden, sondern zwischen einem verteidigten Frieden und einem vorgetäuschten Frieden. Und Europa, vor diese Wahl gestellt, wird sie nicht lange aufschieben können, ohne eines Tages festzustellen, daß das Aufschieben selbst eine verhängnisvolle Entscheidung war.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt in deutscher Übersetzung: Verteidigung der Tradition: Die unüberwindbare Wahrheit Christi, mit einem Vorwort von Martin Mosebach, Altötting 2017, und Das Zweite Vatikanische Konzil. Eine bislang ungeschriebene Geschichte, 2. erw. Ausgabe, Bobingen 2011.
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Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Corrispondenza Romana
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