Von Abbé Claude Barthe*
Vier Jahre vor dem Zweiten Vatikanischen Konzil, im Jahre 1958, befand sich in den Apostolischen Palästen ein letztes antimodernes päpstliches Dokument in Vorbereitung – eine Enzyklika. Der Tod des Papstes unterbrach die Schlußedaktion und die Veröffentlichung. Dies wurde durch die Öffnung der Archive des Pontifikats von Pius XII. im Jahre 2020 bekannt, die inzwischen bis zum Jahre 1958 – dem Todesjahr dieses Papstes – eingesehen werden können.
Diese Öffnung hatte einen Ansturm von Forschern auf die vatikanischen Archive ausgelöst, die hofften, belastende Schwächen des Pontifex gegenüber dem Hitler-Regime nachweisen zu können und – wie es zu erwarten war – enttäuscht wurden, als sie sämtliche Belege für das Gegenteil fanden. Seriöse Historiker hingegen sahen sich mit weitreichenden neuen Perspektiven zu Fragen von größtem Interesse konfrontiert.
Man wußte, daß Pius XII. im Jahre 1948 die Vorbereitung eines ökumenischen Konzils in Angriff genommen hatte, an dem bis 1951 intensiv gearbeitet wurde. Bezeichnenderweise war dabei nicht von der Einberufung eines neuen Konzils die Rede, sondern davon, das von Pius IX. 1869 einberufene Konzil „fortzusetzen“, das 1870 auf Grund des Deutsch-Französischen Krieges hatte unterbrochen werden müssen. Dieses Projekt wurde jedoch aufgegeben.1
Was hingegen weithin unbekannt war, machte bereits im März 2020 der deutsche Historiker Matthias Daufratshofer bekannt. Als er in den Archiven des ehemaligen Heiligen Offiziums die Arbeiten untersuchen wollte, die der Verkündigung des Dogmas von der Aufnahme der allerseligsten Jungfrau Maria in den Himmel vorausgegangen waren, entdeckte er dort die vorbereitenden Texte, die Entwürfe („Schemata“) einer antimodernen Enzyklika, die in den letzten Jahren des Pacelli-Pontifikats ausgearbeitet worden waren. Diese Enzyklika hätte die Enzyklika Humani generis von 1950 – „über einige falsche Meinungen, die die Grundlagen der katholischen Lehre zu untergraben drohen“2 – weiterentwickelt und präzisiert.
Zwei Forscher, Schwester Sabine Schratz OP vom Institutum Historicum Ordinis Praedicatorum und Daniele Premoli vom Archivum Generale Ordinis Praedicatorum, haben sich der Untersuchung dieses Projekts gewidmet. Sie bereiten die Veröffentlichung des Schemas in seinen verschiedenen Entwicklungsstufen vor, das von einer Kommission erarbeitet worden war, und veröffentlichten am 3. Januar 2024 im Journal of Modern and Contemporary Christianity einen Artikel über den Stand ihrer Arbeiten: „L’Enciclica Pascendi dei tempi moderni. Il progetto per l’ultima enciclica di Pio XII (1956–58)“ („Die Enzyklika Pascendi der modernen Zeiten. Das Projekt für die letzte Enzyklika Pius’ XII. (1956–58)“).
Das ursprüngliche Projekt: eine Enzyklika zum 50. Jahrestag der Verurteilung des Modernismus durch Pascendi
Während des Pontifikats Pius’ XII. wuchs in Rom die Besorgnis über die Verbreitung neuer Strömungen, die man im Umfeld des Papstes unter der Sammelbezeichnung Nouvelle Théologie („Neue Theologie“) zusammenfaßte. Der Ausdruck stammt von Pius XII. selbst aus einer Ansprache an die Generalkongregation der Jesuiten am 19. September 19463. In der Folge veröffentlichte Pater Réginald Garrigou-Lagrange OP im Oktober 1946 in der Zeitschrift Angelicum einen vielbeachteten Artikel mit dem Titel: „La nouvelle théologie, où va-t-elle?“ („Die neue Theologie – wohin führt sie?“).
Die Kritik richtete sich vor allem dagegen, daß diese Neue Theologie im Namen einer ideologisch geprägten „Rückkehr“ zur Theologie der Kirchenväter die scholastische Theologie abwertete – und mit ihr dogmatische Formulierungen, die in hohem Maße von dieser Scholastik geprägt waren. Über diese neue Art, von der Lehre zu sprechen, wird Humani generis im Jahre 1950 sagen, man wolle „eine immer genauere Darstellung der Glaubenswahrheiten“ aufgeben, um sie „durch bloß vermutete Begriffe sowie durch schwankende und unklare Ausdrucksweisen zu ersetzen“.
Besonders beunruhigt war Rom über die theologische Unruhe in Frankreich. Im Vorfeld der im April 1957 stattfindenden Vollversammlung der französischen Bischöfe bereitete Erzbischof Joseph Lefebvre von Bourges – aus derselben nordfranzösischen Industriellenfamilie wie Erzbischof Marcel Lefebvre und später von Johannes XXIII. zum Kardinal erhoben – einen dokrtinären Bericht vor, der auf Antworten auf einen an alle französischen Bischöfe versandten Fragebogen beruhte.4
Der Bericht stellte fest, daß Relativismus, Rationalismus, Naturalismus und atheistischer Humanismus zu einer „Verstümmelung unserer Natur“ geführt hätten, welche die Bezugnahme des Menschen auf Gott zerstöre; Idealismus und Existentialismus verschließen den Menschen in sich selbst, der Marxismus führt ihn zu Determinismus und Materialismus. Daraus resultiere bei nicht wenigen Katholiken ein Verlust des Sinnes für Gott, für die Sünde und für die Kirche sowie eine Reihe von Fehlentwicklungen: Schwäche oder falsches Verständnis des Glaubens, Berufung auf persönliche Freiheit, Unkenntnis der Natur der kirchlichen Autorität, Trennung der sichtbaren von der unsichtbaren Kirche, Ausklammerung der Kirche aus Staat und Gesellschaft und schließlich die Reduktion des christlichen Zeugnisses auf reine Innerlichkeit. Der Bericht sprach von einer „Art Neuprotestantismus“ und von der Abhängigkeit mancher Theologen von den Ideen ihrer Zeit.
Nach dieser Kritik des „Progressismus“ verurteilte der Lefebvre-Bericht auch den „Integralismus“ jener, die sich zu Zensoren französischer Bischöfe aufschwangen, weil sie ihnen gegenüber den neuen theologischen Positionen zu nachgiebig erschienen. Er warf Priestern und Gläubigen „unzulässige Eingriffe“ vor, durch die sie sogar der Hierarchie Lektionen in Orthodoxie erteilen wollten.
In dieser Hinsicht erinnerte der Lefebvre-Bericht an den Hirtenbrief des Pariser Erzbischofs Kardinal Suhard mit dem Titel Essor ou déclin de l’Église („Aufschwung oder Niedergang der Kirche“), der zur Fastenzeit 1947 veröffentlicht worden war. Darin hatte der Kardinal beide Optionen, die den erhofften Aufschwung verzögerten – den „Modernismus“ und den „Integralismus“ – gleichermaßen zurückgewiesen. Der Lefebvre-Bericht betonte zudem, daß die aufgezählten modernen Irrtümer nicht als allgemein verbreitet betrachtet werden dürften; manche Bischöfe versicherten sogar, sie seien im Rückgang begriffen. Jedenfalls müsse man sich – unausgesprochen an die „Integralisten“ gerichtet – davor hüten, „aus ein paar Wolken an einem ansonsten heiteren Himmel einen schwarzen, von Gewittern beladenen Horizont zu machen“.
Dieses Motiv findet sich später auch in der Eröffnungsansprache des Zweiten Vatikanischen Konzils durch Johannes XXIII., Gaudet Mater Ecclesia, vom 11. Oktober 1962, mit der berühmten Kritik an jenen „Unglückspropheten, die unheilvolle Vorzeichen ankündigen, als stünde das Ende der Welt bevor“.
All dies zeigt, daß die Lage des französischen Katholizismus unter Pius XII. bereits das ankündigte, was sie zur Zeit des Konzils und danach sein sollte.
Auf der einen Seite ein „Progressismus“ mit vielfältigen Nuancen: ökumenische Bewegung, teilweise liturgische Bewegung, die Angelegenheit der Arbeiterpriester, Zeitschriften mit unterschiedlich starker Faszination für den Marxismus (Esprit, Témoignage chrétien, La Quinzaine), Veröffentlichungen, die unter verschiedenen Aspekten die traditionelle Theologie in Frage stellten – etwa durch die Dominikaner Congar und Chenu (letzterer prägte den Ausdruck „école du Saulchoir“), durch Pater de Lubac und die Jesuiten der sogenannten Schule von Fourvière sowie durch andere.
Auf der anderen Seite bildete sich eine Art „integralistische“ Minderheit heraus, Erben des kompromißlosen Katholizismus, wie Abbé Luc Lefèvre, Gründer von La Pensée catholique, Abbé Victor Berto – später der Theologe Marcel Lefebvres während des Konzils –, die Abbés Alphonse Roul und Raymond Dulac sowie Pater Fillère und Abbé Richard, die Gründer von L’Homme Nouveau.
Diese in Frankreich marginalisierten Geistlichen standen jedoch im Einklang mit dem theologischen Umfeld von Pius XII.: den Dominikanern Réginald Garrigou-Lagrange, Marie-Rosaire Gagnebet und Luigi Ciappi; den Jesuiten, darunter der Moraltheologe Franz Hürth und Sébastien Tromp; dem Franziskaner Ermenegildo Lio; dem Stigmatiner Cornelio Fabro; dem Karmeliten Philippe de la Trinité; sowie Weltpriestern wie Pietro Parente, Pietro Palazzini, Dino Staffa und Antonio Piolanti, der 1957 Rektor der Lateranuniversität wurde. Sie bildeten das, was man die Römische Schule der Theologie genannt hat, zu der auch die Kardinäle Pizzardo und Ottaviani – aufeinanderfolgende Sekretäre des Heiligen Offiziums – sowie Ruffini, Erzbischof von Palermo, und Siri, Erzbischof von Genua, gehörten.
Aufgrund der besonderen Aufmerksamkeit der Kurie für die Vorgänge in Frankreich und angesichts der bevorstehenden Vollversammlung des Episkopats, die eine Bestandsaufnahme der Lehrsituation vornehmen sollte, wurde 1956 beschlossen, das Thema der Kritik an der Neuen Theologie in einem päpstlichen Dokument wieder aufzugreifen. Die vorbereitende Kommission der Bischofsversammlung hatte Pater Paul Philippe OP, Kommissar des Heiligen Offiziums und später Kardinal, um einen Bericht gebeten. Auf rund sechzig Seiten stellte Paul Philippe die Neue Theologie in Zusammenhang mit dem Modernismus, erklärte jedoch, daß ihre Abweichungen nicht den rationalistischen Charakter der 1907 in der Enzyklika Pascendi verurteilten Häresie hätten, sondern sich eher „mystisch“ präsentierten und ausgesprochen optimistisch seien. Kardinal Ottaviani hielt den Philippe-Bericht für geeignet, als Grundlage für die Vorbereitung des für 1957 geplanten päpstlichen Dokuments zu dienen.
Die Vorarbeiten zur Enzyklika (1956–1958)
Pius XII. genehmigte das Projekt offiziell zu Weihnachten 1956. Unmittelbar darauf wurde Ende Dezember eine Ad-hoc-Kommission innerhalb des Heiligen Offiziums eingesetzt (das nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil zur Kongregation für die Glaubenslehre wurde). Diese für die Glaubenslehre zuständige römische Kongregation – damals die angesehenste der Kurie und „Suprema“ genannt – stand direkt unter dem Vorsitz des Papstes selbst (sie hatte keinen Präfekten, sondern wurde von einem Sekretär geleitet). Die Kommission konnte ihre Arbeiten bis 1957 nicht abschließen und setzte sie noch fort, als Pius XII. im Oktober 1958 starb.
Sie trat erstmals Anfang 1957 zusammen. Zu ihren Mitgliedern gehörten einige der herausragendsten Persönlichkeiten des Heiligen Offiziums: die Dominikaner Paul Philippe (Vorsitzender), Gagnebet und Garrigou-Lagrange, alle drei dem Ordensmeister Michael Browne eng verbunden und mit ihm ein äußerst einflußreiches dominikanisches Quartett bildend; die Jesuiten Tromp und Bea, die an der Abfassung von Humani generis beteiligt gewesen waren – Bea war zudem Beichtvater Pius’ XII. und sollte nach 1958 die Richtung wechseln; der große Mariologe Karlo Balić OFMCap; der französische Karmelit Philippe de la Trinité sowie Antonio Piolanti.
Der an das Heilige Offizium übersandte Bericht von Erzbischof Joseph Lefebvre wurde zusammen mit dem Philippe-Bericht zu einer wichtigen Quelle für die geplante Untersuchung der zeitgenössischen Lehrirrtümer. Seine Kritik an den „Integralisten“ wurde hingegen als völlig kontraproduktiv beurteilt.
Am 20. März 1958 legte Pater Tromp einen ersten Entwurf vor, ein 64seitiges Schema, das mit den Worten Instaurare omnia in Christo begann – dem Wahlspruch des heiligen Pius X. Auch Pater Philippe legte einen eigenen Entwurf vor. Beide werden von Schwester Sabine Schratz und Daniele Premoli veröffentlicht werden.
Im Mai 1958 mußte das Heilige Offizium entscheiden, ob angesichts der Fülle des gesammelten Materials ein einziges Dokument oder mehrere veröffentlicht werden sollten. Kardinal Ottaviani wollte die Frage der Beziehungen zwischen Kirche und Staat einem eigenen Dokument vorbehalten, das seit 1950 in Vorbereitung war (Hauptverantwortlicher war Pater Gagnebet) und das die traditionelle Lehre gegen Vorstellungen verteidigen sollte, die der späteren Doktrin der Religionsfreiheit vorgriffen, wie sie von dem amerikanischen Jesuiten Courtney Murray und dem französischen Philosophen Jacques Maritain vertreten wurden.
Dieses Dokument des Heiligen Offiziums diente während der Vorbereitung des Zweiten Vatikanischen Konzils als Grundlage für das Kapitel 9 des Schemas De Ecclesia, das von der Theologischen Kommission ausgearbeitet und von Pater Gagnebet überarbeitet worden war.5 Das gesamte Schema wurde später verworfen und durch jenes ersetzt, das zur Konstitution Lumen gentium führte; der Inhalt von Kapitel 9 wiederum wurde durch die Erklärung Dignitatis humanae aufgehoben.
Hinsichtlich aller von der Kommission gesammelten Materialien ließ Pius XII., der über die Vorbereitungsarbeiten Schritt für Schritt informiert wurde, wissen, daß er einen einzigen Text veröffentlichen wolle und nicht mehrere Enzykliken.
Die Kommission, nunmehr auf Philippe, Piolanti, Bea, Tromp, Balić und Gagnebet reduziert, trat am 10. Juni 1958 ein drittes Mal zusammen und formulierte Empfehlungen, die Pater Tromp in seine zweite Fassung des vorbereitenden Schemas einarbeitete. Dieses begann nun mit den Worten Cultum Regi Regum („Dem König der Könige den Kult darbringen“). Dieses letzte Schema wurde den übrigen Kommissionsmitgliedern am 27. September 1958 übermittelt. Doch zwölf Tage später, am 9. Oktober, starb Pius XII. Da spätere Archive nicht zugänglich sind, weiß man nicht, ob das Enzyklika-Projekt Johannes XXIII. vorgelegt wurde – was sehr wahrscheinlich ist. Jedenfalls wurde es nicht weiterverfolgt.
Der Inhalt des Schemas Cultum Regi Regum
Tatsächlich hatte das Projekt die Gestalt einer Fortführung und Vertiefung von Humani generis angenommen. Der Text behandelte alle Bereiche des kirchlichen, moralischen und gesellschaftlichen Lebens und entfaltete fünfzig Jahre nach Pascendi die „globale Häresie der Moderne“6, nämlich die Akzeptanz eines Bruchs der Gesellschaft mit Gott. Dies geschah in sechs Kapiteln:
– Die Natur der Religion
– Der liturgische Kult und die privaten Andachten7
– Die Moraltheologie
– Das Glaubensbekenntnis
– Das Verhältnis von Autorität und Freiheit in der Kirche
– Die Beziehungen zwischen religiöser Ordnung und weltlicher Ordnung
Das Schema erinnerte daran, daß Religion eine Tugend ist, durch die der Mensch die göttliche Vollkommenheit anerkennt und Gott, dem Schöpfer und Herrn der gesamten natürlichen Ordnung, die er übersteigt, Verehrung erweist. Sie ist keine rein affektive oder emotionale Realität und auch kein „Opium des Volkes“.
Die Behandlung der liturgischen Frage im zweiten Kapitel griff Themen der Enzyklika Mediator Dei von 1947 auf und richtete sich gegen verschiedene Irrtümer, unter anderem gegen die Ansicht, „daß die Feier einer einzigen Messe, der hundert Priester andächtig beiwohnen, dasselbe sei wie hundert getrennte Messen, die von hundert Priestern einzeln zelebriert werden“.8 Das Schema betonte auch die Schwere und den gesellschaftlichen Schaden der Mißachtung der Heiligung des Sonntags durch Gottesdienst und Ruhe.
Im moralischen Teil wurde die traditionelle Lehre vom Naturgesetz in Erinnerung gerufen und die umstrittensten Fragen behandelt: die Gefahren des Materialismus, sowohl des kommunistischen als auch des kapitalistischen; der souveräne Charakter des Urteils der Kirche, deren Autorität von Gott selbst eingesetzt wurde und die sie befähigt, schwierige moralische Fragen zu erhellen und in heutigen Streitfragen zu entscheiden – etwa über den Vorrang der Fortpflanzung in der Hierarchie der Ehezwecke, wobei die Jungfräulichkeit um des Reiches Gottes willen ein vollkommenerer Stand bleibt als die Ehe.
Im vierten Kapitel wurde das Thema des Ökumenismus behandelt, unter dem Gesichtspunkt der Zusammenarbeit mit Christen anderer Konfessionen im Widerstand gegen den atheistischen Kommunismus. Problematisch erschien dabei, daß man das ausklammerte, was die Katholizität von diesen Konfessionen trennt, insbesondere das, was sie in Feindschaft zur Kirche begründet hat. Allgemeiner formuliert wurde betont, daß eine Zusammenarbeit zwischen Katholiken und Nichtkatholiken zu ehrenwerten Zielen zwar grundsätzlich möglich sei, jedoch erhebliche Vorbehalte gebiete:
„Wenn ein gesunder Arzt mit einem an Lepra erkrankten Arzt zusammenarbeitet, um die Lepra zu bekämpfen, wird er seinen Kollegen ehren; doch je enger die Zusammenarbeit mit seinem Partner ist, desto wachsamer muß er sein, damit er sich nicht selbst mit der Krankheit ansteckt.“
Das fünfte Kapitel behandelte das Verhältnis von Autorität und Freiheit, das heißt zwischen Lehramt und Theologen. Man könne das Reich Gottes nur „auf dem Wege der Autorität und des Gehorsams“ erreichen; dieser sei jedoch – insbesondere nach dem Zusammenbruch der totalitären Regime im Deutschen Reich und in Italien – nicht nur in den Staaten, sondern auch innerhalb der katholischen Kirche in eine Krise geraten. Cultum Regi Regum bekräftigte nachdrücklich, daß das munus docendi, der Auftrag zu lehren, ausschließlich in der Hierarchie liege, bestehend aus dem römischen Pontifex und dem Episkopat.
Der Text fügte hinzu:
„Fern sei von uns der Gedanke, zu leugnen, daß die Theologen eine besondere Berufung im Mystischen Leib Christi haben, der Gnade und Licht des Heiligen Geistes entsprechen. Ihnen vertraut die Braut Christi die Ausbildung des künftigen Klerus an; sie werden vom heiligen Lehramt selbst berufen, die lehramtlichen Dokumente vorzubereiten; ihnen obliegt es, die vom authentischen Lehramt gegebenen Entscheidungen zu vertiefen und zu präzisieren; vor allem aber ist es ihre Aufgabe, der Welt die wunderbare und göttliche Harmonie aufzuzeigen, in der die geoffenbarten Wahrheiten untereinander und mit den verschiedenen Humanwissenschaften übereinstimmen. Ebenso ist es Pflicht der Theologen festzustellen, aus welchen Gründen und in welchem Maße bestimmte Wahrheiten im Glaubensgut enthalten sind oder vom Lehramt als zu glauben oder zu bekennen vorgelegt werden, und folglich, in welchem Sinne und in welchem Maße gegenteilige Irrtümer zu qualifizieren sind. Handeln die Theologen so unter der Wachsamkeit der Hirten, so maßen sie sich keineswegs die Kompetenz des Lehramtes an, sondern tragen wesentlich zur Bewahrung der Reinheit des Glaubens bei.“
Das letzte Kapitel des Dokuments trug den Titel Ordo religiosus et ordo profanus und war faktisch eine Vorwegnahme des seit 1950 im Heiligen Offizium vorbereiteten Dokuments über die Beziehungen zwischen den beiden „vollkommenen Gesellschaften“ – der Kirche und dem Staat –, die jeweils alles besitzen, was zur Erfüllung ihres Zweckes notwendig ist, verschieden sind, aber miteinander verbunden.9
Pius XII. wollte sein Pontifikat offenbar mit einer Art großem testamentarischen Text krönen, der die in seinen verschiedenen Enzykliken behandelten Themen noch einmal zusammengeführt und dem heraufziehenden Sturm, den er nach sich kommen sah, Einhalt geboten hätte. Unsere Anspielung auf das Ludwig XV. zugeschriebene Wort „Nach mir die Sintflut“ ist bewußt gewählt. Die Vertiefung und Verteidigung der Lehre durch eine Reihe großer Enzykliken – Mystici Corporis (1943) über den Mystischen Leib Christi, Divino afflante (1943) über die Bibelwissenschaften, Mediator Dei (1947) über die Grundsätze der Liturgie, Humani generis (1950) über die Irrtümer der Zeit –, dazu die gegen den Zeitgeist gerichtete Definition der leiblichen Aufnahme Mariens in den Himmel sowie die Heiligsprechung Pius’ X. im Jahre 1954, erinnern – bei aller Verschiedenheit – an den Versuch einer Konsolidierung dessen, was am Ende der Herrschaft Ludwigs XV. zum Ancien Régime werden sollte, ein Versuch, der durch den Tod des Monarchen 1774 unterbrochen wurde.
Wenn er schon das von Pius IX. einberufene Erste Vatikanische Konzil nicht fortgesetzt hatte, so hätte Pius XII. sein Pontifikat durch die Fortführung von Pascendi Pvon Pius X. besiegelt, begleitet von einem Dokument des Heiligen Offiziums, das den Weg zu jenen Thesen versperrt hätte, die später zur Lehre von der Religionsfreiheit wurden. Doch Gott hatte in den geheimnisvollen Fügungen seiner Vorsehung beschlossen, sein Volk zu züchtigen.
*Abbé Claude Barthe, geistlicher Assistent der internationalen Wallfahrt Populus Summorum Pontificum. Der Artikel wurde gleichzeitig von L’Homme nouveau und Res Novæ am 14. Dezember 2025 veröffentlicht.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: VaticanNews (Screenshot)
1 Patrick Descourtieux: La preparazione del mancato Concilio ecumenico del 1951 secondo l’Archivio del Sant’Uffizio, auf dem Symposi: L’Inquisizione romana (Die römische Inquisition), Nuove ricerche, nuove prospettive, 22.–24. November 2023.
2 Kathpress, 10. März 2020.
3 Ansprache, angeregt durch einen Artikel von Pietro Parente in L’Osservatore Romano aus dem Jahr 1942 „Neue theologische Tendenzen“.
4 Rapport doctrinal vorgelegt der Vollversammlung des französischen Episkopats am 30. April 1957 (édition Tardy, 1957).
5 Claude Barthe: Quel avenir pour Vatican II, François-Xavier de Guibert, 1999, S. 163–179.
J. A. Komonchak, in Giuseppe Alberigo (Hrsg.): Histoire du Concile Vatican II (1959–1965), Bd. 1, Cerf, 1997, S. 336. Siehe auch: Philippe Chenaux: Maritain devant le Saint-Office : le rôle du père Garrigou-Lagrange, OP, Archivum Fratrum Praedicatorum, Neue Serie, Bd. 6, 2021, S. 401–420.
6 Claus Arnold, Giovanni Vian: La Redazione dell’Enciclica Pascendi. Studi e documenti sull’antimodernismo di Papa Pio X, Anton Hiersemann, 2020.
7 Deren gesellschaftliche Bedeutung den Titel der Enzyklika erklärt hätte.
8 Dès les années 1940 apparurent en effet des anticipations de la concélébration : des prêtres en aube et étole, rangés en demi-cercle devant l’autel où célébrait l’un d’entre eux, assistaient à sa messe et communiaient de sa main. (Bereits in den 1940er Jahren tauchten tatsächlich Vorformen der Konzelebration auf: Priester in Albe und Stola, in einem Halbkreis vor dem Altar aufgestellt, an dem einer von ihnen die Messe zelebrierte, nahmen an seiner Messe teil und empfingen die Kommunion aus seiner Hand).
9 Le document du Saint-Office, tel qu’il avait été introduit dans le schéma préparatoire à Vatican II De Ecclesia disait : « De même que le pouvoir civil estime qu’il lui revient de prendre soin de la moralité publique, de même, afin de garder les citoyens des séductions de l’erreur et pour que l’État soit conservé dans l’unité de la foi, ce qui est le bien suprême et la source d’une multitude de bienfaits y compris dans l’ordre temporel, le pouvoir civil peut de lui-même régler les manifestations publiques des autres cultes, et défendre ses citoyens contre la diffusion des fausses doctrines par lesquelles, au jugement de l’Église, leur salut éternel est mis en péril » („Das Dokument des Heiligen Offiziums, wie es in das vorbereitende Schema für das Zweite Vatikanische Konzil De Ecclesia aufgenommen worden war, besagte: ‚So wie die staatliche Gewalt es für ihre Aufgabe hält, für die öffentliche Moral zu sorgen, ebenso kann sie, um die Bürger vor den Verführungen des Irrtums zu bewahren und damit der Staat in der Einheit des Glaubens erhalten bleibt – was das höchste Gut ist und die Quelle mannigfaltiger Wohltaten auch in der zeitlichen Ordnung –, von sich aus die öffentlichen Äußerungen anderer Kultreligionen regeln und ihre Bürger gegen die Verbreitung falscher Lehren verteidigen, durch die nach Urteil der Kirche ihr ewiges Heil gefährdet wird.‘“, Claude Barthe, Quel avenir pour Vatican II ?, op. cit., p. 174f).

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