
Gestern veröffentlichte Diane Montagna, seit einigen Jahren schon die interessanteste und mutigste beim Heiligen Stuhl akkreditierte Journalistin, weitere Auszüge aus ihrem vor kurzem geführten ausführlichen Gespräch mit Kardinal Gerhard Müller, dem ehemaligen Glaubenspräfekten der heiligen Kirche. Kardinal Müller gehört zu den profiliertesten Vertretern der Weltkirche. Darin geht es um die ersten Monate im Pontifikat von Papst Leo XIV., aber auch um das irritierende Spektakel zum dritten Welttreffen der „Brüderlichkeit aller Menschen“. Bei diesem Ereignis wurde mit Hunderten Drohnen das Bild des verstorbenen Papstes Franziskus in den römischen Himmel über der Peterskuppel projiziert.
Ausgangspunkt war die 2019 von Franziskus in Abu Dhabi unterzeichnete, aber sehr umstrittene Dokument über die Brüderlichkeit aller Menschen. Der österreichische Philosoph Joseph Seifert bezeichnete eine Passage in dem Dokument als „Häresie aller Häresien“, da darin – entgegen der göttlichen Offenbarung und der beständigen Lehre der Kirche – alle Religionen „gottgewollt“ behauptet werden. Hören wir zunächst Diane Montagnas Ausführungen:
„Eminenz, kommen wir zum kürzlich abgehaltenen Welttreffen der Brüderlichkeit aller Menschen, das am 12. und 13. September in Rom stattfand. Veranstaltet wurde es von Kardinal Mauro Gambetti, dem Erzpriester des Petersdoms, der Fratelli Tutti Foundation und der Initiative Be Human.
Im Zentrum des Programms am Freitag standen fünfzehn thematische Gesprächsrunden zu Themen wie Künstliche Intelligenz, Landwirtschaft, Kinderschutz und kommunale Selbstverwaltung. Am Samstag folgte eine „Versammlung der Menschheit“ auf dem römischen Kapitol sowie das abendliche Konzert Grace for the World auf dem Petersplatz. Die Veranstaltung wurde auf Disney+, Hulu und ABCNews übertragen.
Das musikalische Programm umfaßte Künstler wie Andrea Bocelli und Jennifer Hudson, aber auch umstrittenere Figuren, etwa die kolumbianische Reggaeton-Sängerin Karol G – die 2022 beim CSD [Homo-Parade] in Madrid auftrat und deren Werke queere Themen enthalten –, das US-amerikanische Hip-Hop-Duo Clipse sowie den thailändischen Rapper BamBam.
Der Vatikan kündigte an, der Abend werde ‚einzigartig bereichert durch eine spektakuläre Drohnenshow mit 3.500 Drohnen, die den Himmel über der Kuppel des Petersdoms erleuchten‘. Kardinal Gambetti erklärte, die Drohnen würden das Gesicht von Papst Franziskus sowie Bilder aus der Sixtinischen Kapelle auf die Kuppel projizieren. Letztlich wurde das Gesicht des Papstes jedoch nicht auf die Kuppel selbst, sondern in den Himmel rund um sie herum projiziert.“

Kardinal Müller: Das ist kaum zu fassen. Wie das zunächst präsentiert wurde, erinnerte es an die Apotheose der Antike, wenn der römische Senat einen Kaiser zum Gott erklärte – oder an den Roten Platz in Moskau, auf dem die übergroßen Bilder von Stalin und Lenin als neue Götzen auftauchten.
Letztlich hatte das Ganze jedoch etwas anderes: Es rief das beklemmende Gefühl hervor, von „Big Brother“ überwacht zu werden.
Man sollte Papst Franziskus in Frieden ruhen lassen. Wir Christen beten für die Verstorbenen, daß ihre Seelen aus dem Fegefeuer in den Himmel gelangen. Selbst heiliggesprochene Päpste werden nicht um ihrer postumen Berühmtheit willen verehrt, sondern zur Ehre Gottes. Jeglicher Personenkult ist ein heidnisches Verhalten und zu vermeiden.
Der Petersdom ist Symbol der Weltkirche Jesu Christi, die auf dem Felsen Petri gegründet wurde. Der Bischof von Rom ist als Nachfolger Petri berufen, ein demütiger Stellvertreter Christi zu sein – nicht, wie es der Osservatore Romano einmal fälschlich schrieb, ein „Nachfolger Christi“, der die göttliche Offenbarung durch eigene Ideen oder Lehren ergänzt.
Welche Botschaft sendet die Projektion des Gesichts von Papst Franziskus – anstelle des Antlitzes Christi – an die Welt? Eine solche Darstellung ist völlig unangemessen. Auch das Bild heiliger Päpste sollte niemals wie ein Götzenbild einer Klimareligion oder einer humanitären Brüderlichkeit ohne Gottes Vaterschaft und ohne Seinen eingeborenen Sohn, Jesus Christus, verwendet werden – den einzigen Erlöser der Welt.
Diane Montagna: Als katholische Missionare in heidnische Länder kamen, zerstörten sie oft als erstes die Götzen. Denken Sie, daß auch in der Kirche heute eine Art „Götzensturz“ notwendig ist?
Kardinal Müller: Unbedingt. Der Petersdom wurde erneut mißbraucht – diesmal nur eine Woche nach der sogenannten „LGBT-Heilig-Jahr-Pilgerfahrt“.
Der Petersdom ist eine christliche Kirche, das sichtbare Zentrum der Katholizität. In seiner Mitte steht Gott selbst – die reale Gegenwart Jesu Christi im Allerheiligsten Sakrament. Doch die Organisatoren haben ihn einer säkularisierten Welt überlassen und ihn zur Bühne für eine Ideologie gemacht, die der von Gott offenbarten katholischen Lehre letztlich widerspricht. Solche Kompromisse mit der Welt stehen im offenen Widerspruch zur Offenbarung Gottes in Jesus Christus. Denn der Herr selbst sagte: „Wenn euch die Welt liebt, seid ihr nicht meine Jünger“ (vgl. Joh 15,18–19).
Das Konzert „Grace for the World“ beinhaltete zwar Aufführungen des Ave Maria, des Magnificat und von Rossinis Domine Deus, aber diese wurden mit weltlicher Musik und verwirrenden Aussagen vermischt. In einer vorab geschriebenen Rede, die vom Teleprompter abgelesen wurde, sagte Pharrell Williams:
„Was ist Gnade? Gnade ist ein Licht, das in jedem von uns lebt und darauf wartet, geteilt zu werden – nicht nur ein Segen, den wir empfangen, sondern eine Kraft, die wir einander weitergeben. Unter jeder Kultur, jeder Sprache, jeder Geschichte ist derselbe Atem, derselbe Geist, dasselbe Licht – das Licht des Universums, das ‚Alles, was ist, alles, was jemals sein wird‘. […] Können wir für einen Moment die Hände halten und das Licht sehen, das wir haben? Leute, haltet eure Handys in die Luft und schaltet eure Lichter ein.“
Doch die Gnade ist ein übernatürliches Geschenk, das nur von Gott, unserem Vater, durch Jesus Christus kommt – sie vereint uns mit Ihm und untereinander in Ihm. Wir müssen jeden Gebrauch christlicher Begriffe vermeiden, der sie von ihrem Ursprung und Ziel trennt – nämlich von der Heiligsten Dreifaltigkeit und vom menschgewordenen Wort Gottes. Solche Aussagen – insbesondere vor der Kulisse des Petersdoms – führen zu Verwirrung und enden im Pelagianismus oder in einem bloß horizontalen Humanismus. Jesus sagte: „Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben. Wer in mir bleibt und ich in ihm, der bringt reiche Frucht; denn getrennt von mir könnt ihr nichts tun“ (Joh 15,5).
Was hat die Basilika der Heiligen Römischen Kirche mit all diesen Programmen der Selbsterlösung zu tun? Diese Veranstaltungen scheinen eher darauf abzuzielen, die katholische Kirche als eine Art Führungsinstanz der UNO zu präsentieren – mit dem Papst als säkularisiertem „Kaplan“ –, anstatt das Evangelium zu verkünden und allein unter dem Kreuz Jesu Christi zu stehen.
Und wann haben diese Gruppen je ihre Stimme gegen die Verfolgung von Christen weltweit erhoben oder gegen die systematische Entchristlichung ehemals christlicher Nationen? Es gibt keinen Protest – nur Schweigen.
Diane Montagna: Auf der Pressekonferenz im Vatikan vor dem Event wies ich Kardinal Gambetti auf die kürzliche Ansprache von Papst Leo an politische Führer hin. Darin betonte der Papst die Zentralität Christi und sagte, es sei nicht verwunderlich, dass die Förderung von „Werten“ – selbst wenn sie evangeliumsgemäß klingen –, die jedoch „entleert“ seien von Christus, der ihr Urheber ist, machtlos bleibe, die Welt zu verändern.
Ich stellte dem die Pressemitteilung zur Veranstaltung gegenüber, in der kein einziges Mal Jesus Christus erwähnt wurde – sie ging sogar so weit zu erklären: „Wir müssen auf den einzigen Horizont blicken – den der von Brüderlichkeit genährten Menschheit.“ Als ich fragte, wie diese beiden Sichtweisen miteinander vereinbar seien, antwortete Kardinal Gambetti, sie seien durch die Inkarnation miteinander vereinbar. Wir müßten „das Göttliche im Leben jedes Menschen neu entdecken“. Manche empfanden diese Antwort als ausgesprochen rahnersch.
Kardinal Müller: Ich glaube nicht, daß Karl Rahners transzendentale Theologie so weit verbreitet ist. Der Kardinal scheint zu glauben, daß überall dort, wo Menschen nach Wahrheit und Gutem streben, Gottes Gnade bereits in Christus am Werk sei – selbst wenn sie sich dessen nicht bewußt sind.
Doch die Offenheit der Natur für die Gnade steht im Gegensatz zur Naturalisierung der übernatürlichen Gnade – wie sie in einem Humanismus ohne Gott und ohne Jesus Christus geschieht. Die Kirche muß überall und immer Christus bekennen und die Menschen guten Willens zu Ihm führen. Die Erlösung der Welt ist nur in Jesus Christus möglich – Er zerstört die Natur nicht, sondern erhebt sie zu Gott durch die Sendung Seiner sakramentalen Kirche.
Die Kirche darf sich niemals instrumentalisieren lassen – weder von Programmen der Selbsterlösung noch von liberalen oder sozialistischen Visionen einer Neuen Weltordnung, die dem Glauben an Jesus Christus, den einzigen Erlöser der Welt, widersprechen.
Diane Montagna: Das Welttreffen für die Brüderlichkeit aller Menschen wurde noch vor der Wahl von Papst Leo XIV. geplant. Wie bewerten Sie seine Ansprache an die Teilnehmer?
Kardinal Müller: Ich denke, Papst Leo hat eine wirksame pastorale Methode angewandt. Er hat seine Ansprache in der natürlichen Theologie und in gemeinsamen Überzeugungen verankert – ähnlich wie es der hl. Thomas von Aquin in der Summa contra Gentiles tat –, um dann zur göttlichen Offenbarung in der Heilsgeschichte überzuleiten, bezeugt im Alten und Neuen Testament und gipfelnd in Jesus Christus, der uns das neue Gebot der universalen Liebe gegeben hat.
Indem er seine Rede mit einem Zitat aus dem Johannesevangelium schloß, öffnete der Papst auch jenen, die den christlichen Glauben noch nicht angenommen haben, den Horizont zum Vater und zu Seinem Sohn Jesus Christus, dem menschgewordenen Wort. Die gegenseitige Liebe in dieser universalen Brüderlichkeit ist nicht die eindimensionale, sentimentale Liebe der Freimaurer oder Sozialisten, sondern jene Liebe, die aus dem dreieinen Gott fließt. Das ist der entscheidende Unterschied zwischen den Christusgläubigen und Menschen bloßen guten Willens – und mehr noch zwischen Christen und jenen, die eine Neue Weltordnung nach ihrer eigenen Ideologie errichten wollen.
Deshalb sagte Jesus zu seinen Jüngern: „Wenn ihr mich liebt, werdet ihr meine Gebote halten. Und ich werde den Vater bitten, und er wird euch einen anderen Beistand geben, der für immer bei euch bleibt – den Geist der Wahrheit, den die Welt nicht empfangen kann, weil sie ihn weder sieht noch kennt. Ihr aber kennt ihn, denn er bleibt bei euch und wird in euch sein“ (Joh 14,15–17).
*Diane Montagna, studierte Italianistik und Theologie (unter anderem im österreichischen Gaming): ihre berufliche Laufbahn begann sie in Rom bei der Nachrichtenagentur Zenit, arbeitete als Übersetzerin für die englische Ausgabe des Osservatore Romano und war schließlich Rom-Korrespondentin verschiedener Medien wie Aleteia, Catholic Herald und LifeSiteNews. Internationale Bekanntheit erlangte sie sie vor allem durch ihre Anfragen an den Vatikan zur Pachamama und dem Gesprächsbuch Christus VINCIT: Der Triumph Christi über die Finsternis dieser Zeit (mit Athanasius Schneider, dt. Ausg. 2020). 2022 veröffentlichte sie Calming the Storm: Navigating the Crises Facing the Catholic Church and Society (mit Pater Gerald E. Murray).
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: MiL/Wikicommons
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