Eine Sternstunde des Mittelalters: Der Dictatus Papae des heiligen Gregor VII.

Kirchenreform als echte geistliche und moralische Erneuerung


Der Dictatus Papae, mit dem Papst Gregor VII. das Verhältnis zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt definierte
Der Dictatus Papae, mit dem Papst Gregor VII. das Verhältnis zwischen geistlicher und weltlicher Gewalt definierte

Von Rober­to de Mattei*

Anzei­ge

Das Pon­ti­fi­kat des hei­li­gen Gre­gor VII. (1073–1085), mit bür­ger­li­chem Namen Hil­de­brand von Soa­na, stellt eine der Stern­stun­den des christ­li­chen Mit­tel­al­ters dar. Der Höhe­punkt sei­nes Pon­ti­fi­kats ist der Dic­ta­tus Papae, eine Samm­lung von 27 Leit­sät­zen, die die Vor­rech­te des Pap­stes und sein Ver­hält­nis zur welt­li­chen Gewalt fest­le­gen. Dabei wird die Über­ord­nung des Pap­stes über den Kai­ser in reli­giö­sen und mora­li­schen Belan­gen betont und dem Papst­tum die höch­ste und vor­nehm­ste Macht auf Erden zuge­schrie­ben. Die­ses Werk ent­stand ver­mut­lich zwi­schen 1075 und 1078, inmit­ten des schärf­sten Kon­flikts mit dem deut­schen König Hein­rich IV., der zu jener Zeit noch nicht zum Kai­ser des Hei­li­gen Römi­schen Rei­ches gekrönt war und den soge­nann­ten Inve­sti­tur­streit gegen die Kir­che ent­facht hatte.

Der römi­sche Papst“, so erklärt Gre­gor VII., „wird mit Recht uni­ver­sal genannt“ (Nr. 2); „sein Titel ist ein­zig­ar­tig auf der Welt“ (Nr. 11); „kein Mensch kann sei­ne Ent­schei­dung wider­ru­fen, hin­ge­gen kann er jede ande­re Ent­schei­dung auf­he­ben“ (Nr. 18); „nie­mand kann ihn rich­ten“ (Nr. 19); „die römi­sche Kir­che hat nie­mals geirrt und wird gemäß der Schrift auch ewig­lich nicht irren“ (Nr. 22); fer­ner steht es dem Papst zu, „Kai­ser abzu­set­zen“ (Nr. 12) und „die Unter­ta­nen von ihrer Treue­pflicht gegen­über Unge­rech­ten zu ent­bin­den“ (Nr. 27).

Auf theo­lo­gi­schem Gebiet weist Gre­gor VII. unter Beru­fung auf sei­ne Rol­le als uni­ver­sa­ler Hirt die Behaup­tung zurück, daß der Papst nicht berech­tigt sei, Köni­ge zu exkom­mu­ni­zie­ren und deren Unter­ta­nen vom Treue­eid zu ent­bin­den. Sei­ne Leh­re stützt sich auf die Wor­te Chri­sti an den hei­li­gen Petrus, dem die Voll­macht ver­lie­hen wur­de, zu bin­den und zu lösen, im Him­mel wie auf Erden, sowie auf ver­schie­de­ne Aus­sa­gen Gre­gors des Gro­ßen und ande­rer Kir­chen­vä­ter. Gre­gor fragt sich, wie man ernst­haft behaup­ten kön­ne, jemand, der über den Him­mel ent­schei­den darf, sei nicht befugt, irdi­sche Ange­le­gen­hei­ten zu rich­ten. Petrus, so Gre­gor, sei über die Rei­che der Erde gesetzt wor­den; Gott habe ihm alle Für­sten­tü­mer und Gewal­ten der Welt unter­wor­fen und ihm die Macht gege­ben, sowohl im Him­mel als auch auf Erden zu bin­den und zu lösen. Köni­ge und Kai­ser ste­hen nicht über dem gött­li­chen und natür­li­chen Gesetz, dem alle Men­schen unter­wor­fen sind und des­sen Hüte­rin die Kir­che ist.

In Kon­se­quenz die­ser Leh­re setz­te Gre­gor VII. auf der Syn­ode im Febru­ar 1076 König Hein­rich IV. ab und exkom­mu­ni­zier­te ihn, wobei er des­sen Unter­ta­nen vom Treue­eid ent­band. Die Exkom­mu­ni­ka­ti­on und Abset­zung Hein­richs wur­de auf der römi­schen Syn­ode von 1080 erneu­ert, auf der Gre­gor die Wahl Rudolfs von Schwa­ben zum Gegen­kö­nig bestätigte.

Als im Jahr 1119 in Clu­ny Gui­do von Bur­gund, der Erz­bi­schof von Vien­ne, unter dem Namen Calixt II. (1119–1124) zum Papst gewählt wur­de, berief er sich auf die Leh­ren Gre­gors VII. Am 29. und 30. Okto­ber des­sel­ben Jah­res ver­ur­teil­te ein gro­ßes Kon­zil in Reims, an dem über 400 Bischö­fe teil­nah­men, erneut den Kai­ser, nun­mehr Hein­rich V., den Sohn Hein­richs IV. Als der Papst die Exkom­mu­ni­ka­ti­on aus­sprach, zer­bra­chen die 400 Bischö­fe sym­bo­lisch die Ker­zen, die sie in den Hän­den hiel­ten. Das Worm­ser Kon­kor­dat von 1122, das den Inve­sti­tur­streit been­de­te, erkann­te die uni­ver­sel­le geist­li­che Ober­ho­heit der Kir­che an sowie ihre indi­rek­te Macht im welt­li­chen Bereich. Im März 1123 konn­te Calixt II. das neun­te Öku­me­ni­sche Kon­zil im Late­ran ein­be­ru­fen, das erste Gesamt­kon­zil der abend­län­di­schen Kir­che. Dort wur­de das neue Ein­ver­neh­men zwi­schen Kir­che und Reich fei­er­lich bestätigt.

Beson­de­re Beach­tung fand der ach­te Leit­satz des Dic­ta­tus Papae, dem zufol­ge „nur der Papst kai­ser­li­che Insi­gni­en tra­gen darf“. Die­ser Satz bringt die gesam­te mit­tel­al­ter­li­che poli­ti­sche Theo­lo­gie auf den Punkt. Die Kir­che ist nicht nur die höch­ste geist­li­che Auto­ri­tät, son­dern auch die Quel­le kai­ser­li­cher Macht. Sie besitzt zwei Zwangs­mit­tel: das geist­li­che – in Form kirch­li­cher Stra­fen – und das welt­li­che, näm­lich das Recht zur bewaff­ne­ten Gewalt (vis arma­ta), das die kano­nisch-recht­li­che Grund­la­ge der Kreuz­zü­ge bil­de­te, die im Namen die­ser päpst­li­chen Auto­ri­tät aus­ge­ru­fen wur­den. Die­se The­se for­mu­lier­te unter ande­rem der hei­li­ge Bern­hard von Clairvaux in sei­nem Trak­tat De con­side­ra­tio­ne, in dem er Papst Eugen III. dar­an erin­nert, daß bei­de Schwer­ter – das geist­li­che wie das welt­li­che – dem Papst und der Kir­che gehö­ren. In der Kunst jener Zeit wird der Papst stets an der Spit­ze dar­ge­stellt: Der Kai­ser steht zu sei­ner Lin­ken, eine Stu­fe unter ihm, dar­un­ter wie­der­um alle Köni­ge und Für­sten der Welt sowie schließ­lich die Mit­glie­der der geist­li­chen Hier­ar­chie, die den spi­ri­tu­el­len Bereich verwalten.

Aus die­ser Leh­re folgt das Recht, Köni­ge zu exkom­mu­ni­zie­ren und abzu­set­zen – eine Leh­re, die über das Mit­tel­al­ter hin­aus­wirkt. Im Jahr 1535 erklär­te Papst Paul III. den eng­li­schen König Hein­rich VIII. für abge­setzt. Und Papst Pius V. sprach am 25. Febru­ar 1570 gegen Köni­gin Eli­sa­beth I. von Eng­land eine Bann­bul­le aus, in der er sie als Häre­ti­ke­rin ver­ur­teil­te, exkom­mu­ni­zier­te und für unfä­hig erklär­te, den Thron zu bean­spru­chen. Ihre Unter­ta­nen sei­en nicht mehr an den Treue­eid gebun­den und dürf­ten ihr unter Andro­hung der Exkom­mu­ni­ka­ti­on kei­nen Gehor­sam leisten.

Der hei­li­ge Robert Bell­ar­min erläu­tert im fünf­ten Buch sei­nes Wer­kes De Roma­no Pon­ti­fi­ce, daß der Papst zwar nicht kraft gött­li­chen Rechts eine direk­te welt­li­che Gewalt aus­übt, wohl aber eine weit­rei­chen­de indi­rek­te Juris­dik­ti­on besitzt – eine Leh­re, die er eben­falls auf den Dic­ta­tus Papae Gre­gors VII. stützt. Die­se Posi­ti­on wur­de spä­ter vom kirch­li­chen Lehr­amt aner­kannt und fand sich auch in den Lehr­bü­chern des Kir­chen­rechts zwei­er bedeu­ten­der Juri­sten des 20. Jahr­hun­derts wie­der: von Pater Lui­gi Cap­pel­lo und von Kar­di­nal Alfre­do Otta­via­ni. Nach die­sen Wer­ken wur­den Gene­ra­tio­nen von Kle­ri­kern aus­ge­bil­det. Kar­di­nal Alfons Maria Stick­ler hat die­se Sicht­wei­se in sei­nen Stu­di­en zur Geschich­te des kano­ni­schen Rechts bestä­tigt. Das Recht, einen Für­sten zu exkom­mu­ni­zie­ren und abzu­set­zen, grün­det in der ple­ni­tu­do pote­sta­tis – der Fül­le der Voll­macht – der Kir­che, die sich auf ihr gött­li­ches Recht zu bin­den und zu lösen stützt.

Der Dic­ta­tus Papae Gre­gors VII. ist somit – neben ande­ren bedeu­ten­den Doku­men­ten wie der Bul­le Unam Sanc­tam von Boni­faz VIII. oder dem Syl­labus errorum von Pius IX. – ein Schlüs­sel­text zum Ver­ständ­nis der kirch­li­chen Leh­re über das Ver­hält­nis zwi­schen geist­li­cher und welt­li­cher Ordnung.

Der hei­li­ge Gre­gor VII. gab der tief­grei­fend­sten Kir­chen­re­form des Mit­tel­al­ters sei­nen Namen – eine ech­te geist­li­che und mora­li­sche Erneue­rung, die sich auch auf die ple­ni­tu­do pote­sta­tis, die Fül­le der Voll­macht des Stell­ver­tre­ters Chri­sti, grün­de­te. Gre­gor VII. hat­te den Wunsch, die­se Reform durch einen gro­ßen Kreuz­zug gegen die Ungläu­bi­gen zu voll­enden – doch die­ses Vor­ha­ben blieb sei­nem Schü­ler, dem seli­gen Urban II., einem Bene­dik­ti­ner aus Clu­ny, vor­be­hal­ten, der den Kreuz­zug schließ­lich aus­rief. Aus dem Geist der gre­go­ria­ni­schen und clunia­zen­si­schen Reform ent­stand – unter dem Ruf Deus lo vult („Gott will es!“) – das gro­ße Epos der Kreuz­zü­ge: eine der leuch­tend­sten Sei­ten der Kir­chen­ge­schich­te zwi­schen dem 11. und 13. Jahrhundert.

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017, und Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil. Eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, 2. erw. Aus­ga­be, Bobin­gen 2011.
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Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana

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