Heilige Unnachgiebigkeit

Weder Intoleranz noch Toleranz sind eine Tugend


Maria, die heilige Unnachgiebigkeit, schützt das Jesuskind und bekämpft mit einem Knüppel den Teufel (Franceso Melanzio, 1494, Umbrien)
Maria, die heilige Unnachgiebigkeit, schützt das Jesuskind und bekämpft mit einem Knüppel den Teufel (Franceso Melanzio, 1494, Umbrien)

Von Rober­to de Mattei*

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Unnach­gie­big­keit ist die Ent­schlos­sen­heit, mit der man sei­ne Ideen ver­tei­digt. Sie ist hei­lig, wenn die­se Ideen reli­gi­ös sind. Nicht irgend­ei­ne Reli­gi­on, son­dern die wah­re, die von Jesus Chri­stus, dem Gott-Men­schen, dem Erlö­ser der Mensch­heit, begrün­det wur­de. Die größ­te Unnach­gie­big­keit, die man sich vor­stel­len kann, kommt in den Dog­men der katho­li­schen Kir­che zum Aus­druck, die so wahr sind, daß sie als unfehl­bar bezeich­net werden.

Um den Namen Chri­sti und sei­ne Leh­re zu ver­tei­di­gen, haben unzäh­li­ge Chri­sten im Lau­fe der Geschich­te Ver­fol­gung, Leid und Tod auf sich genom­men. Die Mär­ty­rer waren Zeu­gen von Chri­stus, dem ein­zi­gen Weg, der Wahr­heit und dem Leben (Joh 14,8). Im Zeit­al­ter des Römi­schen Rei­ches, wie auch im heu­ti­gen Zeit­al­ter des Rela­ti­vis­mus, glaub­te man, daß alle Reli­gio­nen gleich­wer­tig sein soll­ten. Im anti­ken Pan­the­on muß­ten sich alle Reli­gio­nen dem Kult der Göt­tin Roma unter­ord­nen. Im moder­nen Pan­the­on müs­sen sie sich dem Kult des Rela­ti­vis­mus unter­ord­nen, der jeder Reli­gi­on das Recht abspricht, sich als abso­lut wahr zu bezeich­nen, und sie fak­tisch alle für falsch erklärt. Aus die­sem Grund kann die moder­ne Gesell­schaft als inhä­rent athe­istisch bezeich­net wer­den, auch wenn die Dik­ta­tur des Rela­ti­vis­mus noch nicht die blu­ti­ge Ver­fol­gung der ersten Jahr­hun­der­te der Kir­che erreicht hat.

Die­je­ni­gen, die sich die Phi­lo­so­phie des Rela­ti­vis­mus voll zu eigen machen, sind eine Min­der­heit, eben­so wie die­je­ni­gen, die sich in der heu­ti­gen Stun­de mit hei­li­ger Unnach­gie­big­keit ver­hal­ten, eine Min­der­heit sind. Die Mehr­heit der Men­schen, damals wie heu­te, sind mit­tel­mä­ßi­ge Men­schen, die alles has­sen, was zum Zusam­men­prall der Ideen führt. Der mit­tel­mä­ßi­ge Mensch ist der­je­ni­ge, der die ihm über­le­ge­nen Men­schen haßt, weil ihre Anwe­sen­heit sei­ne Ruhe stört, die nicht die klas­si­sche Tran­quil­li­tas ordi­nis ist, d. h. die Ruhe, die durch die Ord­nung der abso­lu­ten Wer­te gewähr­lei­stet wird, son­dern die sei­nes eige­nen ego­isti­schen Inter­es­ses. Der über­le­ge­ne Mensch hin­ge­gen ist der­je­ni­ge, der einer hohen und unei­gen­nüt­zi­gen Lebens- und Denk­re­gel folgt. Er ist ein Mensch mit festen und kon­se­quen­ten Ideen, mit geleb­ten Prinzipien.

Der fran­zö­si­sche Schrift­stel­ler Ernst Hel­lo hat dem „mit­tel­mä­ßi­gen Men­schen“ denk­wür­di­ge Sei­ten gewid­met. „Der mit­tel­mä­ßi­ge Mensch“, schreibt Hel­lo, ist der­je­ni­ge, der in Angst davor lebt, sich in etwas zu ver­wickeln. Er hat Angst vor der Kon­tro­ver­se, vor der Aus­ein­an­der­set­zung. Er ver­ab­scheut Genie und Tugend, er liebt die Mäßi­gung und das, was er die ‚rech­te Mit­te‘ nennt. Cha­rak­te­ri­stisch für ihn ist die Ehr­furcht, die er vor der öffent­li­chen Mei­nung hat. Er spricht nicht, er wie­der­holt. Er respek­tiert die Erfolg­rei­chen, hat aber Angst vor den­je­ni­gen, die von der Welt ange­fein­det wer­den. Er wür­de so weit gehen, sei­nen ärg­sten Feind zu hofie­ren, wenn er dafür von der Welt geehrt wür­de, aber er ist bereit, sich von sei­nem besten Freund zu distan­zie­ren, sobald die Welt ihn angreift.

Der Durch­schnitts­mensch stellt sich ger­ne als „gemä­ßigt“ dar. Mäßi­gung, wenn sie wahr ist, ist eine Tugend, aber sie hat nichts mit dem soge­nann­ten Mode­ra­tis­mus zu tun, der viel­mehr eine Lebens­pra­xis ist, die sich gegen die Unnach­gie­big­keit der­je­ni­gen rich­tet, die für die Wahr­heit kämp­fen. Für die Über­mo­de­ra­ten ist die Wahr­heit ein Exzeß, eben­so wie der Irrtum.

In einem Arti­kel, der im Sep­tem­ber 1954 in der Zeit­schrift „Cato­li­cis­mo“ ver­öf­fent­licht wur­de, hat Prof. Pli­nio Cor­rêa de Oli­vei­ra gut erklärt, wie „das cha­rak­te­ri­sti­sche Merk­mal des Mode­ra­tis­mus dar­in besteht, daß er in der Pra­xis zu einer Posi­ti­on der ‚drit­ten Kraft‘ führt, die zwi­schen der Wahr­heit und dem Irr­tum, zwi­schen Gut und Böse liegt. Wenn auf der einen Sei­te die Stadt Got­tes steht, deren Kin­der danach stre­ben, das Gute und die Wahr­heit in allen For­men zu ver­brei­ten, und wenn auf der ande­ren Sei­te die Stadt Satans steht, deren Anhän­ger danach stre­ben, in allen For­men den Irr­tum und das Böse zu ver­brei­ten, dann ist es klar, daß der Kampf zwi­schen die­sen bei­den Städ­ten unver­meid­lich ist: Zwei Kräf­te, die auf dem­sel­ben Gebiet und in ent­ge­gen­ge­setz­ten Rich­tun­gen tätig sind, müs­sen not­wen­di­ger­wei­se gegen­ein­an­der kämp­fen. Dar­aus folgt, daß es kei­ne Aus­brei­tung der Wahr­heit und des Guten geben kann, die nicht den Kampf gegen den Irr­tum und das Böse ein­schließt. Umge­kehrt kann es kei­ne Aus­brei­tung des Irr­tums und des Bösen geben, die nicht den Kampf gegen die Wahr­heit und das Gute ein­schließt, gegen die­je­ni­gen, die die Wahr­heit ver­brei­ten und für das Gute arbei­ten.

Der Gemä­ßig­te, der Durch­schnitts­mensch ver­ab­scheut den Men­schen, der kohä­rent mit sei­nen Über­zeu­gun­gen lebt, und den er des­halb als into­le­rant bezeich­net. Into­le­ranz ist kei­ne Tugend, eben­so wenig wie Tole­ranz eine Tugend ist, doch kann Tole­ranz eine Fol­ge der Aus­übung von Tugend sein. Into­le­ranz kann mit Eigen­lie­be, Arro­ganz, ver­bit­ter­tem Eifer ver­bun­den sein, aber auch aus einer unnach­gie­bi­gen Wahr­heits­lie­be erwach­sen, so wie Tole­ranz aus Näch­sten­lie­be und Klug­heit erwach­sen kann, aber auch das Kind eines schuld­haf­ten Rela­ti­vis­mus und Kom­pro­miß­gei­stes sein kann.

Into­le­ranz ist die abfäl­li­ge Bezeich­nung, die Phi­lo­so­phen der Auf­klä­rung wie Vol­taire der hei­li­gen Unnach­gie­big­keit gaben. Wer sich zur hei­li­gen Unnach­gie­big­keit bekennt, hat sein Vor­bild in der hei­li­gen Jung­frau Maria. In einem wei­te­ren Arti­kel, der der Imma­ku­la­ta und der hei­li­gen Unnach­gie­big­keit gewid­met ist, schreibt Prof. Cor­rêa de Oli­vei­ra in „Cato­li­cis­mo“ vom März 1954, nach­dem er die Ära der Ver­wir­rung und der mora­li­schen Ver­derb­nis der Zeit vor Chri­sti Geburt beschrie­ben hat: „Wäh­rend die anti­ke Welt all die­se Umstän­de durch­leb­te, wer war da die Hei­li­ge Jung­frau, die von Gott in die­ser Ära der völ­li­gen Deka­denz geschaf­fen wur­de? Sie war die voll­kom­men­ste, unnach­gie­big­ste, kate­go­risch­ste, ein­deu­tig­ste und radi­kal­ste Anti­the­se ihrer Zeit. (…) ‚Unbe­fleckt‘ ist ein Eigen­schafts­wort. Es bedeu­tet ety­mo­lo­gisch die Abwe­sen­heit von Makel und damit von jedem noch so klei­nen und unbe­deu­ten­den Irr­tum und von jeder noch so klei­nen und unbe­deu­ten­den Sün­de. Sie ist Inte­gri­tät im Glau­ben und in der Tugend. Sie ist also abso­lu­te, syste­ma­ti­sche, nicht redu­zier­ba­re Unnach­gie­big­keit, sie ist die voll­stän­di­ge, tie­fe und dia­me­tra­le Abnei­gung gegen jede Art von Irr­tum oder Übel. Die hei­li­ge Unnach­gie­big­keit in der Wahr­heit und im Guten ist Ortho­do­xie und Rein­heit, im Gegen­satz zur Hete­ro­do­xie und zum Bösen. Um Gott ohne Maß zu lie­ben, lieb­te die Got­tes­mut­ter dem­entspre­chend alles von Gott von gan­zem Her­zen. Und weil sie das Böse ohne Maß haß­te, haß­te sie ohne Maß den Satan, sei­ne Pfrün­den und sei­ne Wer­ke; sie haß­te den Teu­fel, die Welt und das Fleisch [„Denn alles, was in der Welt ist, die Begier­de des Flei­sches, die Begier­de der Augen und das Prah­len mit dem Besitz, ist nicht vom Vater, son­dern von der Welt. Die Welt und ihre Begier­de ver­geht; wer aber den Wil­len Got­tes tut, bleibt in Ewig­keit“, vgl. Joh 2,16–17]. Unse­re Lie­be Frau von der Unbe­fleck­ten Emp­fäng­nis ist Unse­re Lie­be Frau von der hei­li­gen Unnach­gie­big­keit.

Und des­halb fol­gen wir mit Stolz der Schu­le der „hei­li­gen Unnachgiebigkeit“.

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017, und Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil. Eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, 2. erw. Aus­ga­be, Bobin­gen 2011.

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Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Wikicommons/​Francesco Melan­zio: Madon­na del Soc­cor­so (1494), Mas­sa Martana

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