Von Caminante Wanderer*
Für Bergoglio ist die Tradition nichts anderes als Tradition, d. h. es gibt kein Heilsereignis hinter der Tradition, sondern nur traditionelle Überzeugungen, was immer sie auch sein mögen. Für ihn sind sie alle nur willkürliche Ideen und Praktiken, insofern sie in einer bestimmten Kultur, in einem bestimmten Kontext und in einer bestimmten Geschichte entstanden sind. Es gibt nicht „die“ Tradition hinter den Traditionen und vor allem gibt es kein Ereignis, keine ontologische Dichte hinter der Tradition.
Dies erklärt viele der Haltungen, Äußerungen und Entscheidungen des Papstes, die jeden im Grundkatechismus geschulten Katholiken verblüffen. Franziskus wird beispielsweise nicht müde zu beteuern, daß die Priester allen in der Beichte vergeben müssen, unabhängig davon, ob sie die geforderten Bedingungen erfüllen oder nicht: Reue und Vorsatz zur Besserung. Wenn das nicht geschieht, so lehrt die Theologie, wird ein Sakrileg begangen, und das Sakrament ist ungültig. Aber vielleicht ist das Bußsakrament für Bergoglio nicht mehr als eine mittelalterliche Erfindung, wie viele Theologen behaupten. Wenn wir nur die überlieferten Urkunden berücksichtigen, stellen wir strenggenommen fest, daß das erste Zeugnis über die persönliche Privatbeichte (Ohrenbeichte) aus dem 8. Jahrhundert stammt und erstmals von einem Konzil von der Beichte als Sakrament auf dem Vierten Laterankonzil im Jahr 1215 gesprochen wird. Die Väter sprechen von einer Beichte oder Exomológesis, aber es wird nicht deutlich, daß es sich um ein Sakrament handelt. In der Tat konnte diese Offenbarung öffentlicher Fehler einst sogar vor einem Laien erfolgen. Es gibt keinen Beweis dafür, daß private Sünden „gebeichtet“ oder „offenbart“ wurden. Aus der Tradition wissen wir jedoch, daß es das Beichtsakrament in der Kirche immer gegeben hat, weil es von unserem Herrn eingesetzt wurde, unabhängig davon, ob es dafür schriftliche oder sonstige Belege gibt oder nicht.
Schauen wir uns ein anderes Beispiel an. Wenn Papst Franziskus „Bischöfe“ protestantischer Kirchen oder sogar Sekten empfängt, spricht er sie als „Brüder Bischöfe“ oder auch „Bischöfe“ an. Ein ungeheuerlicher Fall war der Umgang mit keinem Geringeren als Tony Palmer, einem Pfingstler-Prediger, der sich selbst für einen Bischof hielt. Seinen Freund, den Erzbischof von Canterbury, oder die schwedischen oder deutschen lutherischen „Bischöfe“ als „Brüder und Schwestern Bischöfe“ zu behandeln, bedeutet, einen bischöflichen Charakter anzuerkennen, der ihnen fehlt. Machen wir uns den Ernst der Lage klar: Der Bischof von Rom, Nachfolger Petri, erkennt stillschweigend die Gültigkeit von Bischofs- und Priesterweihen an, die völlig ungültig sind, weil das von der Kirche so festgelegt wurde. Auch hier ist die Situation die gleiche: Es gibt keinen urkundlichen Beweis für eine ununterbrochene „apostolische Sukzession“, außerdem gibt es keinen urkundlichen Beweis für eine „Priesterweihe“ in den ersten Jahrhunderten der Kirche. Daß die Priesterweihe ein Sakrament ist und daß es eine apostolische Sukzession gibt, wissen wir aus der Tradition. Wenn „die“ Tradition nichts anderes als eine Tradition ist, wie es für Bergoglio der Fall ist, dann bewahrt die Kirche von Rom eine Tradition des Weihesakraments, die in einem bestimmten kulturellen Milieu entstanden ist, und die Kirche von England oder die lutherische Kirche bewahren andere Traditionen, die ebenso gültig sind wie die unsere.
Das ist die Theologie von Papst Franziskus, wie sie aus seinen Äußerungen hervorgeht, und das ist die Theologie, die an einem großen Teil der katholischen Universitäten, auch der päpstlichen, gelehrt wird. Was bleibt dann noch von unserem Glauben? Was bleibt dann noch von der Kirche? Wenig bis nichts, nur eine Verlängerung des Alten Bundes, ein alttestamentlicher Rückschritt, der versucht, das Reich Gottes in dieser Welt zu errichten.
Es ist nicht neu, daß einige der heutigen Theologen das Neue Testament als eine bloße Neuschreibung des Alten Testaments betrachten, eine Art Alttestamentarisierung des Neuen Testaments. Das Ziel dieser Tendenz ist verständlich: „(…) die neutestamentlichen Heilsverheißungen ihres übernatürlichen und damit christologischen Charakters zu entkleiden und die überwiegend weltliche Religionsbeziehung Israels zu verabsolutieren. Im Alten Testament betrifft das Heilshandeln Gottes im wesentlichen innerweltliche Dimensionen: Der von Gott gesegnete Mensch hat ein langes irdisches Leben und hat männliche Nachkommen; dem Volk Israel wird ein bestimmtes geographisches Gebiet als Heimat gegeben; Gott verhängt über das ungehorsame Israel körperliche Strafen, ebenso wie er Israel aus der Knechtschaft der Sklaverei befreit; er steht dem Volk im Kampf gegen andere Völker bei usw. Folglich wird Jahwe in der jüdischen Theologie als der wahre Gott anerkannt, weil er im Gegensatz zu den Göttern der anderen Völker tatsächlich hilft und seine Macht empirisch demonstriert. Er ist der Gott der Juden, der denen hilft, die zu ihm gehören, und die anderen bestraft. Jesus, der ein Jude war, hat dieses Handeln Gottes, das nicht mehr nur innerhalb des jüdischen Volkes, sondern in der gesamten Menschheit erfahren wird, universalisiert. Mit anderen Worten: Die Heilsverheißungen des Neuen Testaments sind, wie gesagt, nichts anderes als die immanente Universalisierung der Verheißungen des Alten.“
Diese Novissima theologia steht eindeutig im Widerspruch zur katholischen Theologie. Es waren vor allem die Kirchenväter, die eine bahnbrechende christologische Hermeneutik des Alten Testaments entwickelt haben. Wir wissen, daß der Neue Bund ontologisch ausschließlich in Christus, d. h. in der Unio hypostatica konstituiert ist. Damit wird Israel als solches in der Kirche als dem mystischen Leib Christi aufgelöst. Es gibt einen Bezugskontext zwischen den beiden Testamenten, aber er ist streng christozentrisch organisiert.
Abgesehen von der Zerstörung, die der genannte Entwurf für die heilige und übernatürliche Dimension unseres Glaubens bedeutet, ist die Absicht dahinter nicht, wie manche vermuten könnten, eine Annäherung an das jüdische Volk durch eine Annäherung an dessen Glauben. Es geht darum, das Alte Testament zu instrumentalisieren, um die Definition des eigentlichen christlichen Glaubensgegenstandes zu verändern. Was Bergoglio und seine jesuitischen Theologen anstreben, ist, „das Gesicht der Kirche zu verändern“, um zu einem Christentum zu gelangen, das auf die Welt ausgerichtet ist und sich auf empirische, natürlich-moralische, psychologische und politische Zusammenhänge konzentriert. Wie er in seiner Fastenansprache sagte, erscheint Gott in diesem Horizont nur als derjenige, der diese neue Welt durch unseren Einsatz zur Verbesserung des irdischen Lebens verwirklichen will. Ein Beispiel dafür haben wir vor einigen Monaten in der Osterbotschaft des Erzbischofs von Buenos Aires Jorge García Cuerva gesehen, der die theologische Definition von Ostern unterschiedslos mit dem Exodus und dem Pessachfest des Alten Testaments verwechselt. Der Primas von Argentinien erwähnte den Herrn Jesus Christus mit keinem Wort, der damit aus dem Horizont der Religion verschwunden ist.
Die natürliche Schlußfolgerung dieser neutestamentlichen Theologie ist die berühmte „universelle Brüderlichkeit“, auf die Papst Franziskus so oft anspielt: Fratelli tutti, wir sind alle Brüder, ganz gleich, welcher religiösen Tradition wir angehören oder auch nicht. Christus, der jüdische Jesus, ist demnach erschienen, damit wir verstehen, daß das Reich Gottes auf Erden errichtet wird.
*Caminante Wanderer ist ein argentinischer Blogger
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Vatican.va (Screenshot)