Die Ausstellung NUMBER 207 von Reza Aramesh in der Kirche San Fantin in Venedig wird als eines der interessantesten Projekte der Kunstbiennale von Venedig 2024 angepriesen. Doch es stellt sich die Frage: Warum in einer Kirche?
Die von Serubiri Moses kuratierte Ausstellung präsentiert eine Reihe von Arbeiten aus Carrara-Marmor, die, laut Katalog,
eine „tiefgreifende Reflexion über den Einsatz von Macht und Brutalität verkörpern“.
Der Künstler Reza Aramesh stammt aus dem Iran, den er mit seiner Familie im Alter von fünfzehn Jahren verließ, aber nicht aus politischen Gründen, wie es scheint, und der seither in Großbritannien lebt. Nach seiner Teilnahme am iranischen Pavillon auf der 56. Biennale im Jahr 2015 präsentiert er in diesem Jahr seine erste Einzelausstellung, die vom gegannten Serubiri Moses kuratiert ist.
In Zusammenarbeit mit dem Patriarchat Venedig, der Dastan Gallery in Teheran und Stjarna.art wird NUMBER 207 seit dem 16. April in der Kirche San Fantin gezeigt und dort noch bis zum 2. Oktober 2024 zu sehen zu sein.
Die Skulpturenreihe NUMBER 207 präsentiert drei Serien von Werken aus Carrara-Marmor, der im Steinbruch von Polvaccio gewonnen wurde, also derselben Quelle, die Michelangelo Buonarroti für seine Meisterwerke nutzte. Damit enden allerdings auch schon die Analogien. Man könnte von einer findigen PR-Aktion ausgehen. Die Sache geht jedoch tiefer und wiegt wohl auch schwerer.
Im Mittelpunkt der Ausstellung steht die Serie „Study of Sweatcloth“ („Studie der Schweißtücher“), die aus 207 aus Carrara-Marmor gefertigten Herrenunterhosen besteht, die auf dem Boden der Kirche angeordnet sind. Daher auch der Ausstellungstitel. Im Katalog heißt es dazu:
„Diese minimalen Kleidungsstücke, die ihres Trägers beraubt wurden, werden zu greifbaren Symbolen der Identität und des Verlusts, wobei der Körper als politischer Ort hervorgehoben und das unsichtbare Leben, das von Krieg und Terror betroffen ist, humanisiert wird.“
Aha.
Arameshs Werk sei deshalb „interessant“, weil es:
„das Paradox von Schönheit und Brutalität offenbart und historische Themen und Bilder von Konflikten in skulpturale Formen verwandelt, die den Kanon der westlichen Kunst in Frage stellen“.
Hier klingt offenbar die eigentliche Intention und auch die Gemeinsamkeit zwischen Reza Aramesh und Serubiri Moses an, einem ugandischen „Schriftsteller und Kurator“, der in New York lebt, wo er Assistenzprofessor für Kunstgeschichte am Hunter College der staatlichen City University of New York ist: Es geht um das Infragestellen der westlichen Kunst und Kultur. Das Denken des Kurators trieft von wenig konstruktiven woken Ideen. Auch Reza Aramesh arbeitet sich an der Kultur des Westens ab, den aber beide, konkret die angelsächsische Welt, als ihren Lebensmittelpunkt gewählt haben.
Serubiri Moses zeigt sich in einem Interview als überzeugter Marxist und Sozialist, was seinen Weg von Kampala an eine staatliche New Yorker Universität erklärt. Reza Aramesh scheint, zumindest auf kultureller Ebene, mehr ein eigenes gespanntes Verhältnis zum Westen als zum Iran zu haben. Die Gefangenen, die er als bevorzugtes Objekt seiner Kunst zeigt, sollen vor allem „muslimische Gefangene“ zeigen. Der Rückgriff auf den Carrara-Marmor aus Polvaccio will nicht nur ein werbeträchtiges Kokettieren sein, um sich in die Nähe Michelangelos zu rücken, sondern dient in der konkreten Ausführung dazu, um einen Kontrapunkt zur „westlichen Kultur“ zu setzen, für die der unübertroffene große Renaissance-Meister steht.
Was aber hat das Patriarchat von Venedig mit Aramesh, Moses und ihrem „postkolonialen“ Gegenmodell zu tun? Religiöse Bezüge sind entweder nicht zu finden oder stehen in keinem Zusammenhang mit dem Christentum.
„Alle Werke der Ausstellung beziehen sich auf Archivbilder und Kriegsreportagen aus dem 20. Jahrhundert bis in die Gegenwart.“
Der Wiedererkennungswert fehlt allerdings, da der Betrachter hauptsächlich 207 Unterhosen sieht. Wer eine solche aus der Nähe betrachten will, kann dies hier tun.
Kurator Serubiri Moses nennt als einzigen Brückenschlag zur Kirche, daß in San Fantin einst die in Venedig zum Tode verurteilten Gefangenen auf ihre Hinrichtung „warteten“.
„Hier verbindet sich der historische Kontext mit Arameshs zeitgenössischer Bildsprache und erzeugt einen kraftvollen Appell an die Menschlichkeit und deren Gleichgewicht zwischen Empathie und Grausamkeit“, kann man lesen, muß man lesen, denn der Anblick erschließt es nicht.
Wie so oft in unserer Zeit, hat man es mit einer Kunst mit zwingend notwendigem Anleitungsbedarf zu tun. Ohne ausführliche, meist akrobatische Erläuterungen bleibt alles im dunkeln.
Das gezwungenermaßen lesende, weniger betrachtende Publikum erfährt so, daß der Künstler mit NUMBER 207 dazu einlädt:
„über die Komplexität des menschlichen Daseins nachzudenken und sich mit den Folgen von Gewalt und Macht auseinanderzusetzen. Diese harmonische Ausstellung in den Räumen der Kirche San Fantin bietet einen tiefgründigen und provokativen Blick auf das Wesen des Menschen und wirft Fragen nach der Würde, der Autonomie und der Verantwortung des einzelnen auf. NUMBER 207 wird so zu einem Moment der Begegnung zwischen Vergangenheit und Gegenwart, zwischen Schönheit und Brutalität und lädt das Publikum ein, seine eigene Wahrnehmung und seine Rolle in der heutigen Welt zu hinterfragen.“
Was täte man ohne solche „hilfreichen“ Erklärungen?
Die Kunstzeitschrift arte.it erklärt den Brückenschlag zwischen Ausstellung und der Kirche wie folgt:
„Sitz des Ordens von San Fantin, eines nachmittelalterlichen kirchlichen Ordens, der verurteilte Gefangene, die auf ihre Hinrichtung warteten, beherbergte und verwaltete. Die moderne Bildsprache des Künstlers wird durch die überwältigende Realität von Krieg und Konflikten, die hier als ständiger Aspekt der menschlichen Existenz verstanden wird, universell. In NUMBER 207 trifft der jahrhundertealte historische Kontext von Bestrafung und Besserung, der der Geschichte der Kirche von San Fantin innewohnt, auf Arameshs Bilder von heutigen Gefangenen und deren Folter in einem intensiven Appell an die Menschlichkeit und ihr prekäres Gleichgewicht zwischen Empathie und Grausamkeit.“
In Wirklichkeit geht es um keinen „Orden“, sondern um eine Bruderschaft, die Bruderschaft vom guten Tod, die in Venedig auch als Bruderschaft der Picai (der Impiccati), also der Hingerichteten, bekannt war. Zu den tätigen Werken der Barmherzigkeit, wie sie nur das Christentum kennt, gehört es auch, die Gefangenen zu besuchen und die Toten zu begraben. Die Bruderschaft der Picai war eine freiwillige Vereinigung frommer Männer, die sich dieser Aufgabe annahmen. Sie sorgten dafür, daß die zum Tode Verurteilten einen geistlichen Beistand hatten, einen Priester, der sie auch zur Hinrichtung begleitete. Die Bruderschaft sorgte auch für ein christliches Begräbnis der Exekutierten. Weder „verwaltete“ noch „beherbergte“ die Bruderschaft Gefangene oder zum Tode Verurteilte. Das war Aufgabe des Staates, mit dem sie in keiner institutionellen Verbindung stand. Anders als im Zusammenhang mit der Ausstellung dargestellt, hielten sich die zum Tode Verurteilten auch nie in der Kirche San Fantin auf. Diese war vielmehr das geistliche Zentrum der Bruderschaft, wo sich diese zu heiligen Messen und Andachten versammelte. Zugleich war San Fantin auch Pfarrkirche.
Die Kirche steht an prominenter Stelle, nämlich genau gegenüber dem Haupteingang des berühmten Teatro La Fenice, während sich der einstige Sitz der Bruderschaft etwas seitlich daneben befindet. Die über tausend Jahre alte Kirche ist Kulturfreunden ein Begriff wegen einiger Kunstwerke von Giovanni Bellini (Heilige Familie) und Tintoretto (Mariä Heimsuchung) u. a. Die Entstehung von San Fantin geht zumindest auf das 10. Jahrhundert zurück. Im 12. Jahrhundert wurde sie nach einem Brand neu errichtet und beherbergt seither eine wundertätige byzantinische Marienikone, die durch die Jahrhunderte hier verehrt wurde, weshalb die Kirche den Namen Santa Maria delle Grazie di San Fantino erhielt. 1506 wurde mit dem Neubau begonnen, der von den Renaissance-Baumeistern Scarpagnino und Sansovino ausgeführt und 1564 abgeschlossen wurde. Der namengebende Heilige, San Fantin, ist als Marmorstatue des Barockbildhauers Giuseppe Bernardi, genannt Torrettino, auf dem Hochaltar dargestellt.
Dieser heilige Fantino, auf venezianisch Fantin genannt, stammte aus dem antiken Kalabrien und stand in den Diensten eines wohlhabenden römischen Patriziers. Fantino war Christ, konnte den Glauben wegen der diokletianischen Christenverfolgung aber nur geheim praktizieren. Er half aufgrund seiner besseren Stellung besonders den Armen, bis er entdeckt wurde und fliehen mußte. Verfolgt von seinem Dienstherren, schied Fantino, wie Moses, das Wasser des Flusses Matauros (heute Petrace genannt). Dieses Wunder führte zur Bekehrung seines Dienstherren, weshalb Fantino, im Gegensatz zu vielen Glaubensbrüdern seiner Zeit, nicht als Märtyrer endete. Die Biographie des Heiligen, die Bischof Petrus von Taureana im 8. Jahrhundert verfaßte, überliefert mehr als 20 ihm zugeschriebene Wunder. Bestattet wurde Fantino an einem Ort in Kalabrien, an dem sich heute die ihm geweihte Kirche San Fantino in Taureana bei Palmi erhebt.
1952 war in der damals verlassenen und dem Verfall preisgegebenen Kirche eine Krypta entdeckt worden. 1980 wurde in dieser Krypta, einem römischen Hypogäum, das Grab des Heiligen wiederentdeckt. Ausgrabungen in den 90er Jahren brachten schließlich die Reste einer byzantinischen Basilika aus dem 6. Jahrhundert zum Vorschein, die über seinem Grab errichtet worden war. Das römische Mauerwerk unterhalb der Basilika, in dem der Heilige bestattet wurde, stammt aus dem 2. Jahrhundert.
Die venezianische Bruderschaft der Picai wurde unter Napoleon aufgehoben und ihr Sitz, die 1600 fertiggestellte Scuola della Buona Morte, enteignet. Seit 1812 befindet sich dort der Sitz des Ateneo Veneto di Scienza, Lettere e Arte, der von Napoleon errichteten örtlichen Akademie der Wissenschaften.
Die Kirche San Fantin gehört zu den mehr als 30 Kirchen Venedigs, in denen heute nicht mehr zelebriert wird. Napoleon hob die Pfarrei auf und degradierte die Kirche zu einer Hilfskirche der, seither territorial zuständigen, benachbarten Pfarrkirche. Dessen ungeachtet handelt es sich noch heute um eine geweihte Kirche. Eine einmal geweihte Kirche bleibt dies für alle Zeit. Eine Kirche kann profaniert, aber der Weiheakt nicht mehr rückgängig oder aufgehoben werden. Von einer Profanieung von San Fantin war bisher nichts bekannt.
San Fantin birgt sogar eine seltene Rarität in Venedig, einer auf dem Wasser gebauten Stadt: Die Kirche verfügt über eine Krypta.
2017 wurde San Fantin, nachdem die Kirche mehrere Jahrzehnte geschlossen war, nach Restaurierungsarbeiten wieder öffentlich zugänglich gemacht. Für den Kultus wird sie auch weiterhin nicht genutzt. San Fantin gehörte zu etwa zehn Kirchen, die ausgewählt wurden, um sie
„mit Funktionen wiederzueröffnen, die den Sinn der Orte nicht verraten, und für Projekte, die auch vom Patriarchat mitgetragen werden“.
Zu diesen neuen „Funktionen“ und „Projekten“, die den Sinn des Ortes „nicht verraten“ und vom Patriarchat „mitgetragen“ werden, gehört offensichtlich auch die Unterhosen-Ausstellung von Reza Aramesh. Es ist nicht die erste Grenzüberschreitung, die im Zuge der Biennale stattfindet.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Artslife.com/Wikicommons
Die Welle perverser Anti-Kunst, die vom Anti-Logos zeugt, ergießt sich derzeit immer stärker in den Kirchenraum. An vielen Stellen sitzen Kleriker, die solchen Unsinn fördern. Vielleicht ist das eine Art Ritual, um ggf. in ihrer masonischen Hierarchie aufzusteigen.
Vielen Dank für die (auf dieser Seite überhaupt sehr zahlreichen) Hintergrundinformationen zur Geschichte der Kirche und ihres Patrons. So etwas bekommt man nur selten zu lesen.
Furchtbar, was heute aus dem Haus Gottes gemacht wird.