Von Don Michael Gurtner*
Lesen wir die Evangelienberichte, und ganz besonders die Passionsgeschichte unseres lieben Heilandes, so werden wir auf nicht wenige Stellen stoßen, die uns vordergründig zunächst als ein nebensächliches Detail am Rande dünken, auf welche die heiligen Evangelisten aber merkwürdigerweise ganz speziell aufmerksam zu machen scheinen. Sie halten es offensichtlich für wichtig darauf hinzuweisen. Für gewöhnlich handelt es sich dabei tatsächlich um Bedeutsamkeiten, welche für die Menschen der ersten Jahrzehnte und Jahrhunderte Stichwörter waren, die genügten, um ihnen sofort die Zusammenhänge zu erschließen. Jeder wußte damals, was die Charakteristika der Tunika des Hohenpriesters waren, so wie wir heute sofort verstehen, wer gemeint ist, wenn wir von jemandem in einer „weißen Soutane“ sprechen. Ebenso war es jedermann sofort offenkundig, was der „Vorhang des Tempels“ bedeutete, und von daher auch das Ereignis seines Entzweireißens.
Das Gewand des Hohenpriesters Kaiphas
„Jene aber, welche Jesus ergriffen hatten, führten ihn zu Kaiphas, dem Hohenpriester, wo sich die Schriftgelehrten und Ältesten versammelt hatten. Petrus aber folgte ihm von ferne bis zu dem Hofe des Hohenpriesters. Und in das Innere eingetreten, setzte er sich zu den Dienern, um den Ausgang zu sehen. Die Hohenpriester aber und der gesamte Rat suchten falsches Zeugnis wider Jesus, damit sie ihn in den Tod brächten; doch sie fanden keines, obwohl viele falsche Zeugen aufgetreten waren. Zuletzt aber kamen zwei falsche Zeugen, und sprachen: Dieser hat gesagt: Ich kann den Tempel Gottes abbrechen, und nach drei Tagen ihn wieder aufbauen. Da stand der Hohepriester auf, und sprach zu ihm: Du antwortest nichts auf das, was diese gegen dich bezeugen? Jesus aber schwieg. Und der Hohepriester sprach zu ihm: Ich beschwöre dich bei Gott, dem Lebendigen, daß du uns sagest, ob du Christus, der Sohn Gottes, bist! Jesus sprach zu ihm: Du hast es gesagt! Ich sage euch aber: Von nun an werdet ihr den Menschensohn sehen, sitzend zur Rechten der Kraft Gottes, und kommend auf den Wolken des Himmels. Da zerriß der Hohepriester seine Kleider und sprach: Er hat Gott gelästert! Was haben wir noch Zeugen nötig? Siehe, nun habt ihr die Gotteslästerung gehört“ (Mt 26,57–65).
Das Zerreißen des Gewandes war ein Zeichen des Zornes, aber auch der Buße: Gemäß rabbinischem Brauch war jeder dazu verpflichtet, sein Gewand zu zerreißen, wenn er eine Gotteslästerung hörte.
Fragen wir uns an dieser Stelle, was das Besondere am Gewand des Hohenpriesters war, durch das es sich von allen anderen Gewändern unterschied. Wir werden bei Flavius Josephus fündig, einem jüdischen Geschichtsschreiber, der etwa zur Zeit Jesu lebte. In seinem Werk „Jüdische Altertümer“ berichtet er uns im siebten Kapitel des dritten Buches in Absatz vier, neben der Zier, welche die Tuniken des jüdischen Hohenpriesters schmückte, auch noch folgendes Detail, in welchem sich die hohepriesterliche Tunika von allen übrigen Tuniken – auch jenen der übrigen Priester des Tempels – unterschied:
„Der Rock besteht nicht aus zwei Stücken und hat also keine Nähte auf den Schultern und in der Seite, sondern er ist aus einem einzigen Faden gewebt; am Halse aber hat er eine Öffnung nicht der Quere nach, sondern einen Schlitz der Länge nach, der von der Brust bis zum Rücken zwischen die Schulterblätter reicht und von einer Borte eingefaßt ist, damit man das Unschöne des Schlitzes nicht sieht.“
Das Gewand Jesu
Mit diesem Hintergrundwissen erhellt sich bereits ein wenig der Hinweis des St. Johannes, wenn er betont, daß die Tunika des Heilandes ohne Naht war:
„Nachdem nun die Soldaten Jesus gekreuzigt hatten, nahmen sie seine Kleider und machten vier Teile daraus, für jeden Soldaten einen Teil, und den Rock. Der Rock aber war ohne Naht, von oben bis unten ganz gewebt“ (Joh 19,23).
Damit sagt uns der Evangelist: Jesus, der bereits durch den Einritt auf einem Esel in Jerusalem für sich beansprucht hatte, der eigentliche König und Richter zu sein, und der von sich ebenso behauptete, der verheißene Messias, der Sohn Gottes zu sein, kleidete sich auch, für alle sichtbar, als Hoherpriester und beanspruchte somit auch, der eigentliche, wahre Hohepriester zu sein. Er stand Kaiphas mit der hohepriesterlichen Tunika gegenüber, die allein dem Hohenpriester zustand. Doch Kaiphas hatte seine zerrissen, als er Jesus sprechen hörte: Nun war Jesus, der einzige und wahre Hohepriester, tatsächlich auch der einzige, der noch im Rock des Hohenpriesters dastand.
Das vorübergehende Hohepriestertum des Tempels wurde somit auch sichtbar durch das einzige, ewige und wahre Hohepriestertum dessen abgelöst, der den Tempel seines Leibes in drei Tagen wiedererrichtet, wenn dieser durch die Juden abgerissen wird:
„Jesus antwortete und sprach zu ihnen: Brechet diesen Tempel ab, und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufrichten. Da sprachen die Juden: In sechsundvierzig Jahren ist dieser Tempel gebaut worden, und du wirst ihn in drei Tagen aufrichten? Er aber redete von dem Tempel seines Leibes. Als er nun von den Toten auferstanden war, erinnerten sich seine Jünger daran, daß er dies gesagt hatte, und sie glaubten der Schrift und der Rede, welche Jesus gesprochen hatte“ (Jo 2,19–22).
Die Tunika Jesu ist ein Gewand, das den Leib Christi verhüllt, von dem es die Form nimmt, das aus einem einzigen Faden besteht und das aus diesem einen Faden von oben nach unten gewoben ist. Dies symbolisiert eindeutig die Kirche: Sie ist eine, vom Oben des Himmels her kommend, auf das Unten der Erde hin entstanden, ohne Naht, d. h. nicht aus zusammengesetzten Teilen und Schwachstellen bestehend, sondern in sich einheitlich und dem Leibe Christi angepaßt, der ihr Form und Maß setzt, auf dessen Schultern sie aufliegt, der sie somit durch die Welt und ihre Wirrungen trägt und dem sie ganz gehört.
Diese Kirche und das Hohepriestertum Christi bleiben intakt, während der Tempelkult und das damit verbundene Hohepriestertum abgelöst werden und nicht mehr fortbestehen – verdeutlicht durch das Zerreißen des hohepriesterlichen Rockes des Kaiphas, der dieses Gewand nicht auf Grund einer Blasphemie zerriß, sondern auf Grund der Wahrheit. Jesus steht nun als einziger mit intakter hohepriesterlicher Tunika da, während jene des Hohenpriesters Kaiphas zerstört ist.
Der Vorhang des Tempels
Zuletzt bedenken wir noch den Vorhang des Tempels, der entzweiriß. Dieses Entzweireißen steht in kausalem Zusammenhang mit dem Kreuzestod Jesu. St. Markus weiß uns zu berichten:
„Jesus aber rief mit lauter Stimme, und gab den Geist auf. Da riß der Vorhang des Tempels entzwei von oben bis unten“ (Mk 15,37f)
St. Matthäus betont ebenfalls, daß der Riß von oben ausging und bis nach unten führte:
„Jesus aber rief wiederum mit lauter Stimme und gab den Geist auf. Und siehe, der Vorhang des Tempels zerriß in zwei Stücke von oben bis unten; und die Erde bebte, und die Felsen spalteten sich“ (Mt 27,50f).
Lukas hingegen betont, daß der Riß in der Mitte erfolgte:
„Die Sonne verfinsterte sich, und der Vorhang des Tempels riß mitten entzwei. Und Jesus rief mit lauter Stimme, und sprach: Vater, in deine Hände empfehle ich meinen Geist. Und indem er dies sagte, verschied er“ (Lk 23,45f)
Zusammengenommen verstehen wir also, daß der Riß in der Mitte erfolgte, von oben ausgehend und nach unten führend – genau so, wie der Rock des Hohenpriesters Kaiphas in der Mitte von oben nach unten zerrissen wurde.
Bleiben wir aber nach diesen ersten exegetischen Hinweisen vorerst noch beim Tempelvorhang, dem sogenannten Parochet, in seiner materiellen Eigenschaft stehen, von der aus sich dann die wirkliche Tragweite dieser unscheinbaren Notiz der Evangelisten erschließen wird.
Der Tempelvorhang war nicht ein zufälliges Dekor. Gott selbst gab in Ex 26 genaue Anweisungen, wie der Parochet gefertigt zu sein hatte. Für unsere Zwecke ist jedoch besonders interessant, wie Flavius Josephus ihn an mehreren Stellen beschreibt: Er war zwanzig Meter hoch, zehn Zentimeter dick, es bedurfte siebzig starker Männer, um ihn abzunehmen und zusammenzurollen, und zwei kräftige Pferde hätten ihn nicht zu zerreißen vermocht, hätte man sie eingespannt und voneinander weggetrieben. Besonders interessant ist, daß auf ihm das Universum, speziell das Himmelszelt abgebildet war, darauf werden wir nochmals zurückkommen.
Der Zweck des Vorhanges war, das Allerheiligste vom Heiligen abzugrenzen:
„[…] innerhalb des Vorhanges sollst du die Lade des Zeugnisses setzen, und durch ihn soll das Heiligtum vom Allerheiligsten abgegrenzt werden. Setze auch den Gnadenthron auf die Lade des Zeugnisses im Allerheiligsten“ (Ex 26,33f).
Das Allerheiligste war ein eigener, nochmals eigens abgetrennter Bereich im heiligen Bezirk des Tempels.
Im Allerheiligsten war die gemäß den Anweisungen Gottes (Ex 25,10–20) angefertigte Bundeslade aufbewahrt, es galt als die physische Wohnstatt Gottes. Niemand hatte Zutritt in das Allerheiligste, einzig der Hohepriester, und das nur ein einziges Mal im Jahr, um den großen Versöhnungsritus darin zu vollziehen. Der Allgemeinheit war das Allerheiligste absolut unzugänglich, es war streng verborgen, sogar der jüdischen Priesterschaft.
Von daher wird einleuchtend, daß das Zerreißen eines solch massiven, mächtigen Vorhanges ebensowenig natürlich erklärbar ist, wie die Verfinsterung der Sonne (Mk 15,33; Mt 27,45; Lk 23,44f), von welcher es begleitet war, mit einer natürlichen Sonnenfinsternis erklärt werden kann: Eine solche dauert maximal knapp sieben Minuten, aber niemals drei Stunden, und ebenso kann diese nur bei Neumond stattfinden, und nicht bei Vollmond, was am 14. bzw. 15. Nisan jedoch der Fall ist.
Das Entzweireißen des Tempelvorhanges ist also durch Gott selbst gewirkt, zu einer Zeit, in der Jerusalem voll von gläubigen Juden war, die gekommen sind, um das Paschafest zu halten, im Augenblick, in dem der Sohn Gottes des Opfertodes am Kreuz gestorben ist. Das Zerreißen des Vorhanges ist das Gegenstück zu dem Zerreißen der Tunika des Hohenpriesters: Es zeigt die wahre Gotteslästerung an: Gottes Sohn wurde getötet. Hat der Hohepriester sein Gewand zerrissen, als er die Wahrheit hörte, die er als Gotteslästerung bezeichnete, bestätigt Gott Vater nun, daß Jesus tatsächlich der Sohn Gottes war und ist: Gerade weil dies eben keine Gotteslästerung, sondern die Wahrheit ist, ist das Töten des Gottessohnes die wahre Gotteslästerung, und so zerreißt Gott im Tempelvorhang, der den Ort seiner Gegenwart umhüllt wie der Rock den Leib Jesu, deshalb gleichsam sein Gewand und bestätigt so die behauptete Gottessohnschaft Jesu.
Der Tempelvorhang, auf dem nach Flavius Josephus das Himmelsgewölbe dargestellt war, öffnet sich somit, und das Allerheiligste wird sichtbar. So, wie sich bereits vorher zweimal der Himmel auftat und Gott Vater Jesus als seinen Sohn offenbarte: nach der Taufe Jesu im Jordan (Mt 3,16f) sowie bei der Verklärung auf dem Berge Tabor, als die Stimme aus der Wolke – ein Zeichen der Gottesgegenwart – erscholl und nämliches verkündete (Mt 17,5). Es sind drei Momente der Theophanie.
Und schließlich zeigt sich in diesem Zerreißen des Vorhanges, daß sich Gott wieder allen Menschen zugänglich gemacht hat: Der Opfertod des Sohnes hat die unzugängliche Schranke aufgehoben, die den Menschen von Gott seit der Ursünde Adams trennte, das Heil – Gott selbst – steht nun wieder allen offen, Juden wie Heiden: wie ein Ochs und ein Esel (vgl. Jes 1,3), die sich beide im Bethlehem – dem Haus des Brotes – (den Kirchen) aus derselben Futterkrippe (den Altären) speisen, in welche Christus, der sich zur Speise gibt, sich einst gelegt hat. Der Tempelkult ist nun überflüssig, er ist abgelöst, seines Opfers bedarf es nun nicht mehr, weil Christus, der wahre Opferpriester, der zugleich das wahre Opferlamm ist, das wahre Opfer ein für alle Male vollzogen hat und er sein blutiges Kreuzesopfer auf allen Altären der Welt von nun an auf unblutige Weise gegenwärtig hält:
„Christus aber erschien als Hoherpriester der zukünftigen Güter und ging durch das höhere und vollkommenere Zelt, das nicht mit Händen gemacht, d. i. nicht von dieser Schöpfung ist, auch nicht durch Blut von Böcken und Kälbern, sondern durch sein eigenes Blut ein für allemal in das Allerheiligste ein, nachdem er eine ewige Erlösung gefunden“ (Heb 9,11).
*Mag. Don Michael Gurtner ist ein aus Österreich stammender Diözesanpriester, der in der Zeit des öffentlichen Meßverbots diesem widerstanden und sich große Verdienste um den Zugang der Gläubigen zu den Sakramenten erworben hat. Aktuell veröffentlicht er auf Katholisches.info die Kolumne „Zur Lage der Kirche“, die jeden Samstag erscheint.
Bild: Wikicommons
Siehe auch: Die Kreuzesinschrift bekennt Jesus nicht nur als König, sondern auch als wahren Gott
Diese Evangelienberichte sind sicherlich u.a. auch dazu mit diesen genauen Beschreibungen abgefaßt worden, um den Christen das Neue durch und mit Jesus Christus nochmals zu verdeutlichen. Diese Details richten sich wahrscheinlich insbesondere an die „Judenchristen“, denn die meisten Christen aus den Völkern konnten damit wohl kaum etwas anfangen. Für die sog. Heiden war die Frohe Botschaft leichter anzunehmen als für das Volk Israel. In gewisser Weise leben wir in einer ähnlichen Zeit. Das „alte“ christianisierte Europa ist glaubensmüde, aber die Bekehrten in Afrika und anderswo sind voller Elan und Glut.
Die Apostel und die bekehrten Judenchristen gingen in den ersten Jahren und Jahrzehnten bekanntlich noch oft in den Tempel, um zu beten. Für sie war der jüdische Tempel offenkundig immer noch ein großes Heiligtum.
Ein wunderbares Exempel, wie man an die Evangelien herangehen kann. Es darf aber nicht vergessen werden, daß der Tempel und sein Vorhang auch eine symbolische Dimension haben.
Die Juden sind ja dabei, die Wiederaufnahme des Tempeldienstes vorzubereiten. Seit Jahrhunderten wartet das Judentum auf makellose Opfertiere. Nun sind rote Jungkühe, die sogenannten Red Heifer, in Texas gefunden und eingeflogen worden. Wenn die Kühe das richtige Alter erreicht haben, kann begonnen werden.
Wie wunderschön die Gottessohnschaft Jesu bezeugt ist, bis in die Details. Welch ein Drama, daß Gottes auserwähltes Volk den Messias bis heute nicht erkannt hat. Die Karfreitagsfürbitte für die Juden ist ein Akt der Nächstenliebe
Bis auf die Tatsache, dass man hinsichtlich des sprachlichen Gewandes, in welches er seine interessanten Ausführungen kleidet, stellenweise meinen könnte, der hochwürdige Verfasser habe dieselben ohne Kennzeichnung bei einem Confrater aus dem 19. Jahrhundert abgeschrieben, ein inhaltlich wertvoller Beitrag.