Von Agostino Nobile*
Noch heute beharren einige Autoren darauf, die Schwarze Legende von der Frau auf dem Stuhl Petri als unumstößliche Wahrheit darzustellen. Offensichtlich ist das gepaart mit einem weiteren Schwindel, dem vom „dunklen“ Mittelalter.
Was die angebliche katholische Frauenfeindlichkeit des Mittelalters betrifft, genügt es, das Buch „La Femme au temps des cathédrales“ („Die Frau zur Zeit der Kathedralen“) von Régine Pernoud über „weibliche Zivilisation und Kultur im Mittelalter“ zu lesen. Pernoud war unter anderem Konservatorin an den Archives Nationales und Kuratorin des Dokumentations- und Forschungszentrums Centre Jeanne d’Arc. Im Jahr 1978 erhielt sie den Grand Prix de la Ville de Paris und 1997 wurde sie von der Académie Française für ihr Lebenswerk geehrt. Wir haben es also nicht mit irgendeinem Schreiberling oder einer glänzenden Romanautorin für Leichtgläubige zu tun.
Seit Jahrhunderten haben die Historiker die Legende über eine Päpstin als haltlos zurückgewiesen, aber billige Romanciers machen aus Geldnot oder aus unbändiger Abneigung gegen die Kirche mit dem anrüchigen Geschwätz weiter.
Schauen wir uns kurz an, was es damit auf sich hat.
„Papst Johanna“ ist eine legendäre Päpstin, die unter dem Namen Johannes VIII. etwas mehr als 25 Monate lang, von 855 bis 858, zwischen den Pontifikaten von Leo IV. (847–855) und Benedikt III. regiert haben soll. In Wirklichkeit konnten Historiker schnell klären, daß zwischen den beiden Pontifikaten, dem Tod Leos und der Wahl Benedikts, nur acht Wochen der Sedisvakanz lagen, und die Geschichte von einem angeblichen Papst Johannes VIII., der zudem noch eine Frau gewesen sein soll, erfunden ist. Das allein sollte schon genügen, um die Schwarze Legende auf Nimmerwiedersehen zu entsorgen. Doch kommen wir nun zu dem, was wir heute als Fake News bezeichnen würden.
Eine der frühesten Quellen für die Legende der „Päpstin Johanna“ ist das Werk „De septem donis Spiritu Sancti“ („Über die sieben Gaben des Heiligen Geistes“) des französischen Dominikaners Stephan von Bourbon aus dem 13. Jahrhundert, das die Wahl der „Päpstin Johanna“ allerdings auf das Jahr 1100 datiert, also 250 Jahre später als die vorhin genannte Version. Zudem war seine „Päpstin“ noch namenlos, dafür aber eine geschickte Schreiberin, die es zum päpstlichen Notar gebracht habe und schließlich zum Papst gewählt worden sei. Damit nicht genug der Phantasie: Zum Zeitpunkt ihrer Wahl sei sie schwanger gewesen und habe ihr Kind während der Prozession zum Lateran zur Welt gebracht, woraufhin sie nach verschiedenen Theorien entweder an der Geburt gestorben oder von der empörten Masse erschlagen worden sei.
Die Geschichte fand Ende des 13. Jahrhunderts durch andere Vertreter von Bettelorden und vor allem durch nachträgliche Interpolationen in Handschriften des „Chronicon pontificum et imperatorum“ („Chronik der Päpste und Kaiser“) des Dominikaners Martin von Troppau, genannt Polonus, Verbreitung. Über die Motive, ob zur moralischen Erbauung, aus Mißgunst oder Gutgläubigkeit der Autoren kann nur spekuliert werden. Neben einigen Bettelbrüdern gab es eine ganze Reihe von Gegnern der römischen Kirche, die sich der Geschichte bereitwillig annahmen, von den Schismatikern des Ostens bis zu den Häretikern des 15. Jahrhunderts, von Martin Luther und anderen Protestanten bis zu den Marxisten.
Die Version, daß die namenlose „Päpstin“ bei der Geburt ihres Kindes gestorben und an Ort und Stelle begraben worden sei, habe, so das Narrativ, „Bestätigung“ gefunden, weil bei päpstlichen Prozessionen eine bestimmte Straße gemieden worden sei, eben jene, in der sich das schändliche Ereignis zugetragen habe. Der Name Johanna setzte sich erst im 14. Jahrhundert durch, während bis dahin auch Agnes oder Gilberta für die angebliche „Päpstin“ gebräuchlich waren.
Späteren Ausschmückungen zufolge, insbesondere jenen, die nachträglich Martin von Troppau untergeschoben wurden (der als erster ihre Wahl auf 855 datiert und sie Johannes Angelicus genannt haben soll), war Johanna dann eine Engländerin. Als Geburtsort wurde allerdings Mainz angegeben. Eine der zahlreichen Ungereimtheiten. Einige Autoren, nicht verlegen, erklärten dies damit, daß ihre Eltern aus England in die deutsche Stadt ausgewandert seien. Zudem wußte man nun auch zu berichten, daß sie sich in einen englischen Benediktinermönch verliebt und sich deshalb als Mann verkleidet habe, um ihn nach Athen begleiten zu können. Dadurch kam sie offensichtlich nicht nur auf den Geschmack, sich als wen auszugeben, der sie nicht war, sondern habe sich in Griechenland, dem kulturellen Zentrum der antiken Welt, auch eine so große Kultur angeeignet – man ahnt, in welcher Zeit dieser Teil hinzugefügt wurde –, daß sie dann noch Rom zog und dort zum Kardinal und schließlich zum Papst wurde.
Nach 1300 taucht die offenbar wegen ihrer Anrüchigkeit besonders reizvoll empfundene Geschichte in der Literatur auf, unter anderem in den Werken des englischen Benediktiners Ranulf Higden und der italienischen Humanisten Giovanni Boccaccio und Francesco Petrarca. Zur Verteidigung letzterer könnte man sagen, daß die beiden Dichter, da es noch kein Internet und keine ehrlichen Blogger gab, wohl an den Schwindel glaubten. Oder auch nicht. Wenn man bedenkt, daß heute, trotz der riesigen Menge an digitalen Informationen, Milliarden von Menschen, darunter große Schriftsteller und Philosophen, an Covid-19 und den Impfstoff geglaubt haben, besteht kein Anlaß, sich über die beiden toskanischen Dichter des 14. Jahrhunderts zu wundern.
Die offizielle Geschichte der „Päpstin Johanna“, die auch in den Vatikan gelangte, ist jedoch Bartolomeo Sacchi (1421–1481), genannt Platina, geschuldet, der von Sixtus IV. beauftragt wurde, eine neue Chronik mit dem Leben der Päpste zu schreiben. Da Sacchi, sagen wir, kein Adler war, stützte er sich bei seinen Nachforschungen auch auf historisch wertlose Quellen, die allerdings von damals anerkannten Chronisten wie den genannten Dominikanern Stephan von Bourbon und Martin von Troppau stammten. So überlebte der Schwindel sogar innerhalb des Vatikans. Sacchi unterschätzte offensichtlich die Eifersüchteleien und Dramen, die sich zu jener Zeit in Rom und außerhalb abspielten, wo unterschiedliche päpstliche Fraktionen allerlei Unfug trieben mit Päpsten, Gegenpäpsten und Fake News, was nicht wenige, auch prominente Opfer forderte.
Gelehrte wie Aeneas Silvius Piccolomini, der spätere Papst Pius II. (1458–1464), und Kardinal Cesare Baronio (1538–1607) hielten die Geschichte der „Päpstin“ schlichtweg für das, was sie war, nämlich für haltlos, doch es war der antikatholische Calvinist David Blondel, der in seiner Schrift „Éclaircissement familier de la question: si une femme a été assise au siège papal de Rome“ (1647) die Frage klärte, „ob eine Frau auf dem päpstlichen Stuhl in Rom gesessen hat“, und damit den ersten entschlossenen Versuch unternahm, den Mythos zu zertrümmern.
Gönnen wir es uns für einen Augenblick: Ein ideologiefreier, unbeeinflußter und minimal rationaler Mensch würde fragen, wie es denn möglich sein hätte können, daß während des mehr als zweijährigen angeblichen weiblichen Pontifikats niemand im Vatikan den „Schwindel“ bemerkt hätte? Der Papst ist faktisch nie oder fast nie allein, weshalb es für ihn sehr schwierig wäre, auch nur einen Brief zu verstecken. Aber die Menstruation? Damals gab es noch keine Wegwerftampons. Hatte die „Papessa“ keine Brüste? Wie auch immer, doch spätestens als sie schwanger war, mußte sie etwas mehr auf der Brust haben. Was für eine Stimme hatte sie? Und was war mit dem Adamsapfel? Mit ihrer Körperhaltung und ihren Bewegungen? Wie war ihr Gang? Spätestens an diesem Punkt muß man sich eingestehen, daß die Geschichte Lug und Trug ist, oder wider jede Vernunft felsenfest überzeugt sein, daß im Vatikan, wo es nie an Spionen, Intrigen und Klatsch fehlte, die Kardinäle und Horden von Mitarbeitern, Höflingen und Personal eine gigantische Bande von Idioten war.
Trotz dieser Offensichtlichkeit hat sich die Legende über Jahrhunderte gehalten und das hat wohl mit dem speziellen Reiz zu tun, der sich auf der Bühne und in allerlei Geschichten schon immer großer Beliebtheit erfreute, dem komödiantischen Rollenspiel mit Verkleidung und Verwechslung. Bedenklicher ist, daß sie auch heute noch von Laizisten und allerlei anderen antikatholischen Gestalten im Gefolge des „Da Vinci Code“ wiederbelebt wurde. Wie einst einige Bettelbrüder, so gibt es auch heute wieder sogar innerhalb der Kirche eine Gruppe, die den Schwindel fördert, nämlich jene, die darauf abzielen, die kirchliche Lehre über das Weihesakrament zu ändern, um das Frauenpriestertum durchzusetzen. Wie auch andere, die im Laufe der Jahrhunderte an der Päpstin-Johanna-Legende gesponnen haben, handeln auch sie aus recht durchsichtigen Gründen. Andernfalls lassen sich Produkte wie beispielsweise die Ende 2005 von ABC Primetime Live ausgestrahlte leidenschaftliche Dokumentation mit dem Titel „Auf den Spuren der Päpstin Johanna“ nicht erklären. Auch mehrere neuere Bücher haben das Thema entweder als „Wahrheit“ oder zumindest ernsthafte historische Möglichkeit behandelt. Es war wohl auch kein Zufall, daß der 2009 erschienene Film „Die Päpstin“, der von Klischees nur so strotzt, zwar auf dem Roman einer US-amerikanischen Autorin beruht, aber in Deutschland produziert und uraufgeführt wurde.
Glücklicherweise scheren sich maßgebliche und ernsthafte Wissenschaftler nicht um ideologische Zugehörigkeiten, denn eines steht eindeutig fest: Die Päpstin Johanna hat nie existiert.
Jenen, die sich in die Frage vertiefen wollen, seien einige Publikationen empfohlen, darunter vor allem jene des Mediävisten Agostino Paravicini Bagliani, der akribisch alle Texte sammelte, in denen von 1250 bis 1500 diese Legende wiedergeben wurde:
- Agostino Paravicini Bagliani: La papessa Giovanna. I testi della leggenda (1250–1500), Florenz 2021
- Alain Boureau: La Papesse Jeanne, Paris1988
- Cesare D’Onofrio: Mille anni di leggenda: una donna sul trono di Pietro, Rom 1978
- derselbe: La Papessa Giovanna. Roma e Papato tra storia e leggenda, Rom 1979
*Agostino Nobile unterrichtete Geschichte und Musik, gab dann seinen Beruf auf und zog als Musiker durch die Welt, um die nichtchristlichen Kulturen zu studieren. Dafür verbrachte er zehn Jahre in der islamischen, hinduistischen und buddhistischen Welt. Eine Erfahrung, die seinen katholischen Glauben stärkte. Heute lebt er mit seiner Familie auf Madeira, wo er sich vorwiegend dem Studium des christlichen Glaubens widmet und bis vor kurzem als Pianist und Sänger arbeitete. Heute ist er publizistisch tätig.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons/Simel (Screenshot)
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Der Hype um die „Päpstin Johanna“ feiert ja seit der „Wiederentdeckung der Apostelin Junia“ im Zuge der neuen Einheitsübersetzung der Hl. Schrift eine Art Neuauflage. Das ist ein ähnlicher Schwindel. Im Römerbrief 16,7 schreibt der Hl. Paulus:
Ἀσπάσασθε Ἀνδρόνικον καὶ
Ἰουνίαν τοὺς συγγενεῖς μου καὶ
συναιχμαλώτους μου, οἵτινές εἰσιν
ἐπίσημοι ἐν τοῖς ἀποστόλοις, οἳ
καὶ πρὸ ἐμοῦ γεγόνασιν ἐν χριστῷ.
„Grüße an Andronikus und Junia, Verwandte von mir, die mit mir im Gefängnis waren. Sie sind unter den Gesandten wohlbekannt;
auch haben sie zum Vertrauen in den Messias gefunden, bevor ich es tat.“
Liest man den Römerbrief im Zusammenhang, so fällt auf, dass der Hl. Paulus sich hier NICHT zu den Gesandten zählt, zu denen
Andronikus und Junia gehörten (wenn man den Ausdruck „unter den Gesandten“ inklusiv interpretiert).
Am Anfang seines Römerbriefs schreibt Paulus nämlich:
1.4 τοῦ ὁρισθέντος υἱοῦ θεοῦ ἐν
δυνάμει, κατὰ πνεῦμα ἁγιωσύνης,
ἐξ ἀναστάσεως νεκρῶν, Ἰησοῦ
χριστοῦ τοῦ κυρίου ἡμῶν,
1.5 δι᾽ οὗ ἐλάβομεν χάριν καὶ
ἀποστολὴν εἰς ὑπακοὴν πίστεως
ἐν πᾶσιν τοῖς ἔθνεσιν, ὑπὲρ τοῦ
ὀνόματος αὐτοῦ,
1.6 ἐν οἷς ἐστὲ καὶ ὑμεῖς, κλητοὶ
Ἰησοῦ χριστοῦ
1.7 πᾶσιν τοῖς οὖσιν ἐν Ῥώμῃ
ἀγαπητοῖς θεοῦ, κλητοῖς ἁγίοις·
χάρις ὑμῖν καὶ εἰρήνη ἀπὸ θεοῦ
πατρὸς ἡμῶν καὶ κυρίου Ἰησοῦ
χριστοῦ.
„… nach dem Geist wurde er auf mächtige Weise als Sohn Gottes erwiesen, ausgesondert durch seine Auferweckung von den Toten; er ist Jescha der Messias, unser Herr. Durch ihn haben wir Gnade empfangen und ist uns das Werk aufgetragen, ein Gesandter für seine Sache zu sein, um unter allen Heiden einen auf Vertrauen gegründeten Gehorsam zu wecken, auch unter euch, die ihr durch Jeschua den Messias berufen seid.“
Paulus zählt sich hier zu denjenigen Gesandten, die Gnade und Werkauftrag erhalten haben. Was das genau heißt, erläutert er im 1. Brief an die Korinther 4,1:
4.1 Οὕτως ἡμᾶς λογιζέσθω
ἄνθρωπος, ὡς ὑπηρέτας
„So sollt ihr uns also als Knechte des Messias ansehen, als Verwalter der geheimen Wahrheiten Gottes.“ (Damit sind die Sakramente gemeint, die nur von einem von Jesus Christus ausgewählten und dazu geweihten Apostelkreis und deren rechtmäßige Nachfolger gespendet werden können.)
Andronikus und Junia gehören eindeutig NICHT zu diesem inneren Kreis der geweihten Amtsträger.
Genau so verhält es sich auch mit der in Röm 16,1 lobend erwähnten „Schwester Phöbe, Schamasch der Gemeinde in Kenchreä“ (οὖσαν διάκονον
τῆς ἐκκλησίας τῆς ἐν Κεγχρεαῖς), Schamsch (hebräisch) ist eine Diakonisse ohne Weiheamt im Gegensatz zu den in Apg 6,2 – 7 zu Diakonen geweihten 7 Männern.
Leider werden viele Bibeltexte weder sorgfältig im Zusammenhang gelesen noch kompetent übersetzt und interpretiert.
Dadurch entstehen dann immer wieder die abenteuerlichsten Irrtümer, Täuschungen und Schwindeleien.
Es ist wahrlich ein Jammer.