Von Wolfram Schrems*
Es war für den Rezensenten eine große Überraschung, daß ausgerechnet aus dem freikirchlich-protestantischen Bereich eine ausgezeichnete Abhandlung über die Septuaginta erschien. Ing. Alexander Basnar BEd ist Lehrer an einer Höheren Technischen Lehranstalt (HTL) in Wien und gehört zu einer im niederösterreichischen Krumau am Kamp ansässigen „Täufergemeinde“ (auch „Wiedertäufer“ oder „Anabaptisten“ genannt, in der Tradition von Menno Simons). Er veröffentlichte im Jahr 2020 im Selbstverlag ein fünfhundert Seiten starkes Werk über die ursprüngliche griechische Übersetzung des Alten Testaments aus der Mitte des dritten vorchristlichen Jahrhunderts. Es ist hochspannend und von großer Tragweite.
Septuaginta im Neuen Testament und den Kirchenvätern
Seine These ist, daß die Septuaginta, die „Übersetzung der siebzig Gelehrten“ (im folgenden LXX abgekürzt), im Plan der göttlichen Vorsehung den ursprünglichen hebräischen Text der alttestamentlichen Schriften in griechischer Übersetzung wiedergebe und daher dem mittelalterlichen Masoretentext (im folgenden MT) vorzuziehen sei.
Basnar hält den Bericht des Aristeasbriefs über die Übersetzung des Pentateuchs ins Griechische (die auf Anregung des ägyptischen Königs Ptolemäus II. Philadelphos, 284–246 v. Chr., erstellt wurde) für im wesentlichen historisch. Die anderen Teile der LXX seien später übersetzt worden. Die ursprünglichen hebräischen Textzeugen, also die „Vorlage“ der LXX, seien während der Verfolgung unter Antiochus IV. Epiphanes (215–164 v. Chr.) vernichtet worden.
Die protestantischen Bibeln, etwa von Martin Luther und King James, neuerdings aber auch die katholisch-protestantische „Einheitsübersetzung“, legten ihren Übersetzungen aber den MT zugrunde (letztere freilich mit den deuterokanonischen Schriften). Das sei falsch, da dieser Text durch antichristlich inspirierte jüdische Gelehrte, eben die sog. „Masoreten“, bearbeitet sei. Schon die Vokalisierung des hebräischen Konsonantentextes durch die Masoreten sei problematisch und führe auch zu Unsinnigkeiten (etwa in Ps 21 [22], 17; vgl. 221, 344, 346). Der Zusammenhang von AT und NT werde durch den MT stark getrübt.
Da Unser Herr Jesus Christus, die Autoren der neutestamentlichen Schriften und etwa der Diakon Stephanus (in seinem Disput mit dem Hohen Rat: Apg 7), und übrigens auch die frühen Kirchenväter, weitaus überwiegend den Wortlaut der LXX zitieren oder auf ihn anspielen (und nicht auf den sog. „proto-masoretischen Text“), solle die Christenheit doch die LXX ihren Bibelübersetzungen zugrunde legen und damit dem ostkirchlich-orthodoxen Gebrauch folgen. Das nachalttestamentliche und antichristliche Judentum liege darüber hinaus mit der Ablehnung der nur auf griechisch vorliegenden „deuterokanonischen“ Schriften falsch, die es zu Zwecken der Abgrenzung gegenüber der Kirche aus seiner Bibel tilgte (um ca. 90 n. Chr., „Synode von Jamnia“).
Jüdische Autorität über die Bibel?
Nach Röm 3,2 besitzt das Volk Israel „die Aussprüche Gottes“. Basnar konkretisiert das:
„Den Juden insgesamt, dem ganzen Volk Gottes, wurde das Wort Gottes anvertraut, und von ihnen hat die Gemeinde [Basnars üblicher Sprachgebrauch für die Kirche, Anm.] es übernommen. … [G]emeint ist hier der Textbestand des Alten Testaments zur Zeit der Apostel und nicht jener, den später die masoretische Tradition der von Gott beiseitegesetzten Juden ab der Zerstörung des Tempels hervorgebracht hat“ (20).
Kritisch gegenüber dem rabbinischen Judentum und Luther sagt Basnar in bezug auf die griechischen Spätschriften:
„Die ersten Christen übernahmen von den Juden jedenfalls einen Kanon des Alten Testaments, der umfangreicher war als der, den die Juden später gelten ließen, denn nach der Zerstörung des Tempels und ihrer Verwerfung durch Gott sonderten sie in eigenmächtiger Deutung alle Schriften, die nach Maleachi entstanden, aus. Weil Martin Luther den Juden darin folgte, klafft in den protestantischen Alten Testamenten eine 400jährige Lücke, in denen Gott angeblich geschwiegen hätte“ (25).
Und sehr wichtig in Zeiten des – sinnlosen – „christlich-jüdischen Dialogs“:
„Paulus sagte in Röm 3,2 zwar, den Juden seien die Aussprüche Gottes anvertraut worden, doch galt das nur für die frühere Zeit, denn sobald die Juden den Messias verworfen haben, gingen das Reich Gottes und das Wort Gottes auf die Gemeinde über (Mat 21,43; 1 Kor 4,1). Die Pharisäer nun gingen daran, das Wort Gottes in Abgrenzung von den Christen neu zu ‚standardisieren‘. Sie machten sich Gedanken darüber, was nun zum Kanon gehöre und ob man die griechische Sprache weiter verwenden dürfe. Ihre durchaus seltsam anmutenden Diskussionen im Talmud offenbaren die tiefe Finsternis, in der sie mittlerweile herumtappten“ (27).
LXX und MT sind also einerseits vom Textbestand und andererseits vom Umfang verschieden:
Erhebliche Abweichungen in Text und Umfang
Basnar hält fest, daß es um zwei Sachverhalte geht: Der Text der LXX unterscheidet sich vom hebräischen Text, den wir heute verwenden, an „vielen wesentlichen Stellen“ (41). Der Text der LXX ist zudem umfangreicher gegenüber dem hebräischen Text.
Oft ist es so, daß gerade messianische Stellen der LXX im MT anders lauten: Basnar führt Amos 4,13 an, wo im LXX-Text die messianische Verheißung deutlich ausgesprochen wird. Basnar bringt auch Amos 9,11f mit Referenz zu Apg 15,16–17 in die Erörterung und kommentiert:
„Die Aussage ist völlig anders, denn anstelle der Bekehrung der Heiden wird hier von der Unterwerfung der Heiden durch die Juden geredet. Mit dem hebräischen Text des Amos kann man nicht wirklich begründen, dass Gott den Nationen Gnade schenken will“ (99).
Bekannt ist auch die Stelle in Ps 16 nach dem MT, in der es heißt, daß der Fromme das Grab nicht schauen werde. In der LXX heißt es allerdings (dort ist es Ps 15), daß der Fromme nicht die Verwesung (diaphthorá, corruptio in der Vulgata) schaue. In Apg 2,25ff bezieht sich Petrus ausdrücklich auf den Text der LXX, um zu beweisen, daß Jesus eben nicht die Verwesung schaute (263).
Muß man hier und anderswo nicht eine bewußte Verfälschung durch die Masoreten vermuten?
Basnar verteidigt mit hochinteressanten Argumenten die Spätschriften des AT (Judit, Tobit, Baruch, Sirach, Weisheit Salomons, 1 und 2 Makkabäer), besonders ausführlich Sirach, Tobit und Weisheit.
Das rabbinische Judentum konnte nach Basnar kein Interesse an einer Prophetie wie Weish 2,12ff haben, die allzu offenkundig auf Jesus Christus vorausverweist (336, 365). Darum waren die Rabbiner gerne bereit, die „deuterokanonischen“ Bücher aus ihrem Schriftkanon zu streichen.
Basnar für Katholiken: für und wider
Nach eigenen Angaben schreibe Alexander Basnar „als Protestant für Protestanten“. Das muß man nach Ansicht des Rezensenten relativieren, denn Basnars Positionen sind kaum in einem relevanten Sinn „protestantisch“: Er kritisiert Martin Luther und dessen Glaubensbegriff mit Hinweis auf den Gebrauch von pístis (Glaube, Treue) und pistós (gläubig, treu) in der LXX (vgl. etwa 310). Das Sola-fide-Prinzip lehnt er ab (392). Desgleichen wird die protestantische Auffassung von Gnade (charis) kritisiert. Basnar nimmt auch die typisch evangelikale Phraseologie und Mentalität aufs Korn (305, 498).
Im Gegenzug greift Basnar unbefangen die frühen Kirchenväter auf und gelangt bis an die Schwelle der katholischen Eucharistie- und Fegfeuerlehre (letztere im Zusammenhang mit 2 Makk 12). Für den freikirchlichen Hauptstrom undenkbar wäre die Aufforderung, daß „bibeltreue Christen hier eigentlich auf Seiten Justins, Irenäus‘ und Chrysostomus‘ stehen sollten“ (425).
Kritisch spricht er auch über „reformatorische Mythen“ (347), nämlich im Zusammenhang der protestantischen Option für den textus receptus hebraicus des AT von Ben Ascher.
Basnars antikatholische Spitzen sind wenige:
Basnar zitiert etwa aus Irenäus, Adversus haereses: „Daher muss man vor ihren Lehren (denen der gnostischen Irrlehrer) fliehen, und sorgfältigst müssen wir achtgeben, dass wir nicht irgendwo von ihnen Schaden nehmen; zu der Kirche aber muss man seine Zuflucht nehmen, in ihrem Schoß sich erziehen und von den Schriften des Herrn sich ernähren lassen“, und folgert daraus unzutreffend: „[Die Katholische Kirche] gab es damals noch gar nicht in dieser Form. Irenäus geht von der damals noch vorhandenen Einheit der Kirche auf Basis der Heiligen Schrift aus. Diese Einheit hat die römisch-katholische Kirche jedoch verlassen“ (22). Der zweite Satz kann auch nach den sonstigen Ausführungen Basnars nicht stimmen, weil er selbst schreibt, daß man sich in der Kirche bzw. in der „Gemeinde“ erst gegen Ende des 4. Jahrhunderts über den Umfang des neutestamentlichen Kanons klar wurde.
Prozessionen „in unseren Breiten“ mit Perchtenaufmärschen oder mit dem Herumtragen von „bunten Götzenstatuen in Indien“ gleichzusetzen, ist falsch, wenn etwa Marienprozessionen gemeint sein sollen (267).
Daß die Fegfeuerlehre nicht biblisch wäre (396), kann man nicht sagen (vgl. 1 Kor 3,15). An dieser Stelle lobt Basnar Martin Luther für seine 95 Thesen (was der einzige positive Luther-Bezug im Buch ist). Das ist etwas voreilig, da diese Thesen in ihrer Gesamtheit problematisch und unklar sind. Die Ablehnung der „Seelenmessen“ durch Basnar (399) ergibt sich aus einer protestantischen Vorentscheidung. Basnars Argumentation ist hier allerdings wohltuend zurückhaltend und in keiner Weise mit typisch evangelikaler Polemik gegen die Messe („babylonischer Götzendienst“ o. ä. in den Jack-Chick-Traktaten, bei Michael de Semlyen o. a.) vergleichbar.
Im Gegenteil ist Basnar erfreulich ausgewogen: „Antikatholische Reflexe sind ein großes Hindernis, wenn man das Thema [Kanon, Anm.] sachlich fair behandeln will“ (417).
Und die Vulgata? – Wie „fix“ ist der Bibeltext eigentlich?
Was kann man als Katholik zum Plädoyer Basnars zur Einführung der LXX als verbindlichen Bibeltextes sagen, da wir ja vom Konzil von Trient (8. April 1546) auf Text und Umfang der Vulgata verpflichtet sind? Die Vulgata enthält bekanntlich nicht alle Texte der LXX (z. B. 3/4 Makk, Gebet des Manasse). Nach Basnar stelle die Vulgata eine Art Mischtext zwischen LXX und MT dar. Schon Augustinus habe Hieronymus gerügt, daß dieser sich auf den hebräischen Text, der von Rabbinern vorgelegt und ausgelegt wurde, eingelassen hat (127). Das ist ein wichtiger Hinweis.
Es wäre interessant zu wissen, ob die unierten Katholiken, etwa die Griechen, im Zuge der Union den altbekannten Kanon der LXX mit übernahmen oder ob das nicht explizit entschieden wurde. (Übrigens ist lt. Wikipedia der Septuaginta-Kanon selbst nicht völlig klar.) Zudem ist die Vulgata seit den Zeiten des hl. Hieronymus ihrerseits mehreren Revisionen unterworfen worden (Alkuin-Bibel, Vulgata Sixtina, Vulgata Clementina, Nova Vulgata). Das heißt, daß streng genommen auch dieser Text nicht schlechthin unveränderbar ist. Ein Sola-Scriptura-Prinzip ist damit ohnehin ausgeschlossen.
Resümee
Basnar steckte ungeheure Arbeit in diese Publikation. Trotz ihres großen Umfangs ist sie spannend zu lesen. Der Rezensent las sie zweimal von vorne bis hinten und darüber hinaus immer wieder teilweise. –
Basnar rekurriert auf Vorarbeiten (David Bercot, Why Don’t We Use the Same Bible as the Apostles?) und konsultierte Fachleute (etwa Dr. Ludwig Neidhart, Universität Augsburg). Hochinteressant ist die Auswertung der jüdischen Gelehrten Naftali Herz Tur-Sinai (1886–1973) und Emanuel Tov (geb. 1941).
Basnar bietet neben den schon genannten Punkten eine Fülle an schönen Betrachtungen über das Wort Gottes und die Möglichkeit und Grenzen von Übersetzungen. Im Anhang findet sich eine Übersetzung des Aristeasbriefes. Eine eindrucksvolle Literaturliste regt zu weiterem Nachforschen an. Wie es scheint, hat Basnar auch alles selbst gelesen. Eindrucksvoll ist sein Eifer, sich in die griechische und hebräische Sprache einzuarbeiten. Unsere Anerkennung verdient, daß er förmlich über den eigenen Schatten springen mußte, um für die Kanonfrage seiner protestantischen Herkunft und Prägung zuwiderzuhandeln (411).
Zu bedauern ist, daß sich offenbar kein Verlag fand und das Buch somit im Selbstverlag (Books on Demand) erscheinen mußte. Leider blieben zahlreiche Verschreibungen stehen. –
Für die Leser einer traditionsorientierten katholischen Netzseite ergibt sich diese Schlußfolgerung:
Der Autor ist, wie gesagt, kein Katholik und wird daher an einigen, sehr wenigen Stellen nicht unsere Zustimmung erhalten. Mit diesem Vorbehalt im Bewußtsein kann und soll der katholische Leser, dem die Erforschung der Hl. Schrift ein Anliegen ist, zu diesem wichtigen Buch greifen.
Basnar ist für diese Arbeit Dank und Anerkennung auszusprechen. Wenn sie dazu beiträgt, daß sich die Kenntnis der Hl. Schrift, die bei uns Katholiken ja normalerweise lächerlich gering ist, im gläubigen Volk verbessert und das Wort Gottes uns „Kraft zur Errettung“ (2 Tim 3,14f; von Basnar oft zitiert) vermittelt, hat sie sich gelohnt.
Möge Alexander Basnar selbst seine aufrichtige geistige Reise konsequent fortsetzen. Wer weiß, wo sie ihn noch hinführen wird?
Alexander Basnar, Das christliche Alte Testament – Die Septuaginta: Wiederentdeckung eines verlorenen Schatzes, Krumau am Kamp 2020 (Books on Demand, Norderstedt), 499 Seiten.
*Wolfram Schrems, Wien, Mag. theol., Mag. phil., Katechist, Pro-Lifer, langjährige Erfahrung im katholisch-protestantischen Gespräch. Wunderte sich viele Jahre über die Inkongruenz der Zitate aus dem Alten Testament nach der Einheitsübersetzung mit dem Neuen Testament und den Kirchenvätern.