
(Rom) Erstmals wurde im Zusammenhang mit der Ukrainekrise im Vatikan von einer „russischen Invasion“ gesprochen, nicht offiziell, aber doch.
Papst Franziskus und das vatikanischen Staatssekretariat halten sich zurück. Die Stellungnahmen konzentrieren sich auf eine Verurteilung der Gewalt, Worte der Nähe für das ukrainische Volk, aber ohne Schuldzuweisungen.
Seit vergangenem Freitag bemüht sich Papst Franziskus um Friedensvermittlung, wie der Vatikan gestern bekräftigte.
Die Töne der westlichen Staatskanzleien werden unterdessen rauer. In diesem Zusammenhang ist die Unterstützung von Waffenlieferungen an die Ukraine durch Kardinal Jean-Claude Hollerich zu sehen, den Vorsitzenden der Kommission der Bischofskonferenzen in der EU ComECE. Kardinal Hollerich forderte ausdrücklich die deutsche Bundesregierung auf, die noch zögerte, Waffen an Kiew zu liefern. Der Vorstoß ist als Signal zu werten, daß die Parteinahme in der EU auch von der Kirche erwartet wird.
Heute veröffentlichte Vatican News einen Leitartikel des stellvertretenden Hauptchefredakteurs der Vatikanmedien Sergio Centofanti. Centofanti, der seit den 80er Jahren bei Radio Vatikan tätig war, ist seit 2019 einer der beiden Stellvertreter von Andrea Tornielli.
Der heute veröffentlichte Leitartikel trägt die Überschrift: „Lassen wir die Ukrainer nicht im Stich“. Darin ist erstmals von einer „russischen Invasion“ die Rede. Vatican News ist kein offizielles Sprachrohr des Heiligen Stuhls, aber eine international gehörte Stimme, die mit dem Papst in Verbindung gebracht wird.
Weitere bemerkenswerte Stellen finden sich in dem Leitartikel, die sich mit den Intentionen von Kardinal Hollerich decken: „Der Einmarsch in ein freies Land hat Europa geeint wie nie zuvor. Europa, das in so vielen Fragen gespalten ist, war noch nie so geeint wie heute: Es steht an der Seite des ukrainischen Volkes.“
Centofanti erwähnt, wenn auch sehr isoliert, ein kaum bekanntes historisches Ereignis:
„Es besteht eine große Verbundenheit mit den Ukrainern. Ein Volk, das sich nach Frieden sehnt und das so viel gelitten hat. In den 1930er Jahren ließ Stalin sie aushungern, weil sie sich der sowjetischen Politik widersetzten: Mehrere Millionen Ukrainer starben an Hunger. Es handelte sich um eine wenig bekannte Ausrottung, den Holodomor, die Auslöschung eines Volkes durch Verhungern.“
Centofanti läßt keinen Zweifel an der Parteinahme für die Ukraine, ohne die Tür zu Moskau zuzuschlagen. Den Ukrainern wird Nähe und Solidarität ausgesprochen und der EU und Washington wird signalisiert, auf wessen Seite man steht, aber ohne Papst Franziskus die Vermittlerrolle zu verbauen.
Propagandistische Unsinnigkeiten, wie die von Moskau behauptete „Entnazifizierung“ der Ukraine oder die von Washington lancierte Parole eines russischen „Überfalls“, analog zur jahrzehntelangen kommunistischen Propaganda eines deutschen „Überfalls“ auf die Sowjetunion im Jahr 1941, werden von Centofanti vermieden.
Der Leitartikel blendet zugleich die kollidierenden Interessen beider Konfliktparteien aus, wodurch die Beweggründe von Kiew, Moskau, Washington unausgesprochen bleiben. Die Ereignisse bewegen sich allerdings nicht im luftleeren Raum. Die Lösungen aber sind am Verhandlungstisch zu suchen. Das gilt für alle Seiten. Letzteres schreibt Centofanti nicht, dafür aber: „Jetzt gibt es Hoffnung auf Verhandlungen“.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons