2009 erklärte der Heilige Stuhl die Exkommunikation der vier Bischöfe für aufgehoben, die 1988 von Erzbischof Marcel Lefebvre für die Priesterbruderschaft St. Pius X. ohne Zustimmung von Papst Johannes Paul II. geweiht worden waren. Wiederholt wurde die Frage gestellt, was Papst Benedikt XVI. zu dieser Geste der Versöhnung bewogen hatte. Nun dürfte man der Antwort ein Stück nähergekommen zu sein. Eine wesentliche Rolle spielte offenbar eine wissenschaftliche Arbeit, die 2006 vorgelegt worden war, sagt die deutschamerikanische Historikerin und Journalistin Maike Hickson.
Hickson schreibt auf LifeSiteNews: „In Rom gibt es eine Geschichte, die noch nicht erzählt wurde, die aber unsere Aufmerksamkeit verdient.“ Im Jahr 2006 wurde Msgr. Florian Kolfhaus, Mitglied des diplomatischen Dienstes des Vatikans, an der Päpstlichen Universität Gregoriana mit einer Doktorarbeit über das Zweite Vatikanische Konzil und dessen lehramtliches Gewicht promoviert. Die Dissertation wurde 2010 unter dem Titel „Pastorale Lehrverkündigung. Grundmotiv des Zweiten Vatikanischen Konzils. Untersuchungen zu ‚Unitatis Redintegratio‘, ‚Dignitatis Humanae‘ und ‚Nostra Aetate‘“ im Lit Verlag in deutscher Sprache veröffentlicht.
Diese Dissertation hatte, so Hickson, „einen positiven Einfluß auf die Entscheidung des Vatikans, die Exkommunikation der vier Bischöfe der Piusbruderschaft (FSSPX) aufzuheben“. Der Grund dafür war, so Hickson auf LifeSiteNews, „daß Kolfhaus zu dem Schluß kam, daß die meisten der Konzilstexte pastoraler und nicht lehrmäßiger Natur waren“.
„Auf der Grundlage dieser Schlußfolgerung hielt es der Heilige Stuhl für möglich, daß man ein unbescholtener Katholik sein und gleichzeitig einige Aussagen des Konzils kritisieren konnte, da sie für das Gewissen eines Katholiken nicht bindend waren.“
Kurienerzbischof Guido Pozzo, von 2013 bis 2019 Sekretär der Päpstlichen Kommission Ecclesia Dei, die für Fragen zum überlieferten Ritus und den mit diesem verbundenen Gemeinschaften zuständig war, wiederholte 2016 genau diese Schlußfolgerung. In einem Interview sagte er, daß Konzilstexte wie Nostra Aetate über den interreligiösen Dialog, das Dekret Unitatis Redintegratio über den Ökumenismus und die Erklärung Dignitatis Humanae über die Religionsfreiheit keine verbindlichen Lehrtexte sind und daher kritisiert werden können:
„Es handelt sich nicht um Lehren oder endgültige Aussagen, sondern vielmehr um Anweisungen und Orientierungshilfen für die pastorale Praxis. Über diese pastoralen Aspekte kann man auch nach der kanonischen Approbation [der FSSPX] weiter diskutieren, um zu weiteren Klärungen zu kommen.“
Nur jene Texte, in denen das Konzil ausdrücklich feststellte, daß es verbindlich über Glauben und Moral lehrt, sind von jedem Katholiken anzunehmen, so Msgr. Pozzo.
Das sind die drei Konzilsdokumente, die Msgr. Kolfhaus in seiner Dissertation besonders untersucht. „Es ist logisch, daß einige Mitglieder der vatikanischen Kommission, die sich mit der Piusbruderschaft befaßte, von seiner Arbeit profitiert haben“, so Hickson. Vatikanische Funktionäre, die sich mit der Frage beschäftigten, wie man die Piusbruderschaft als vollständig katholisches Institut anerkennen könnte, ohne sie zu bitten, ihre Position zum Konzil zu ändern, fanden in Kolfhaus‘ Studien klare Beweise in verschiedenen Erklärungen, die von Mitgliedern der Redaktionskomitees abgegeben wurden, als sie den Konzilsvätern ihre Texte vorlegten. Sie benutzten beispielsweise eine moderne Sprache und stellten das ausschließlich pastorale Ziel und eine positive Annäherung an säkulare Gesellschaften und religiöse nichtkatholische Gemeinschaften heraus.
„Kolfhaus zitiert in seiner Arbeit die Akten und Protokolle des Konzils, in denen offiziell festgestellt wird, daß kein Dokument die Wahrheit des göttlichen Glaubens, wie er immer gelehrt wurde, ändert und daß es keinen verbindlichen Kanon gibt, der bestimmte Disziplinen in diesen Fragen vorschreibt.“
Ein Katholik, so die Schlußfolgerung, ist daher nicht verpflichtet, an ökumenischen Aktivitäten teilzunehmen, so wie er sonntags an der Heiligen Messe teilnehmen muß. Es gehe um unterschiedliche Ebenen von unterschiedlichem Gewicht. Wenn Katholiken die Aussagen der drei genannten Konzilsdokumente (Nostra Aetate, Unitatis Redintegratio und Dignitatis Humanae) nicht akzeptieren, sind sie deshalb weder ungehorsam noch können sie des Schismas oder gar der Häresie bezichtigt werden.
Hickson verweist darauf, daß Msgr. Kolfhaus und Erzbischof Pozzo denselben Doktorvater an der Gregoriana hatten, den inzwischen verstorbenen Kardinal Karl Becker SJ, „der seinerseits, zusammen mit Pozzo, direkt an den Verhandlungen mit der Piusbruderschaft beteiligt war“.
„Es liegt also auf der Hand, daß die Arbeit eines seiner Schüler, Kolfhaus, von Becker bei den Gesprächen mit der Piusbruderschaft berücksichtigt wurde“, so Hickson.
Das Gleiche gelte für Erzbischof Pozzo. Der 2015 verstorbene Kardinal Becker war seit 1977 Consultor der Glaubenskongregation und arbeitete in bezug auf die Piusbruderschaft eng mit Kardinal Ratzinger zusammen. „Er versuchte, die Lehren des Konzils auf konservative Weise zu interpretieren, so auch in bezug auf die ‚subsistit in‘-Diskussion, und er ermutigte einige seiner Studenten, dasselbe zu tun.“
Wie Kolfhaus in einem Aufsatz „Reform in Kontinuität. Anmerkungen zum Konzilsjubiläum“ (Die neue Ordnung, 2013, S. 4–12) schreibt, in dem er die Kernaussagen seiner Dissertation zusammenfaßte, wollte das Konzil ausdrücklich keine dogmatischen Dokumente herausgeben:
„Der besondere pastorale Charakter des Zweiten Vaticanum hat sich erst während des Konzils entwickelt und stellte auch für die Konzilsväter eine Neuheit dar. Dieser neue Stil zeigt sich zunächst in dem Wunsch, Texte in leichtverständlicher Sprache zu verfassen und biblisch zu argumentieren. Man wollte zuerst keine schultheologischen und wenig später keine lehramtlichen Definitionen.“
„Es kann schwerlich geleugnet werden, daß verschiedene Dokumente des Vaticanum II keine Glaubenslehren und auch keine kanonischen Bestimmungen, sondern praxisorientierte Weisungen für das Leben der Kirche formuliert haben. Dazu muß man fragen, was es bedeutet, wenn ein Konzil das tut, wenn es also nicht (im strengen Sinne) lehrt bzw. im Hinblick auf die Feststellung von Wahrheit entscheidet.“
Hier legt Msgr. Kolfhaus „den Finger in die Wunde des Konzils“, so Hickson, indem er auf dessen Schwäche hinweist, nämlich auf seine Mehrdeutigkeit und Offenheit für Fehlinterpretationen. Das „Gefühl der Verwirrung“ wurde noch verstärkt, weil das Konzil drei verschiedene Arten von Dokumenten herausgegeben hat – Dekrete, Konstitutionen und Erklärungen – im Gegensatz zu früheren Konzilien, die nur eine Art kannten. Das Konzil von Trient, so Kolfhaus, erließ ausschließlich Dekrete.
Kolfhaus zitiert auch Kardinal Joseph Ratzinger, der am 13. Juli 1988 in einer Rede vor den Bischöfen Chiles sagte, daß „das Konzil selbst kein Dogma definiert hat und sich bewußt in einem niedrigeren Rang als reines Pastoralkonzil ausdrücken wollte.“ Doch gerade dieses „Pastoralkonzil“, so Ratzinger, werde so interpretiert, „als sei es quasi das Superdogma, das allen anderen die Bedeutung nimmt“.
Diese wichtige Rede ist nicht in Ratzingers Opera Omnia über das Konzil (Joseph Ratzinger, Zur Lehre des Zweiten Vatikanischen Konzils. Formulierung – Vermittlung – Deutung, in: Joseph Ratzinger: Gesammelte Schriften, Herder, Doppelband 7/1 und 7/2, Freiburg 2012) enthalten, weshalb Kolfhaus dessen „Wiederentdeckung“ empfiehlt.
In Übereinstimmung mit den Äußerungen Ratzingers von 1988 stellt Kolfhaus fest:
„In der Tat hat das Konzil selbst, in der Bekanntmachung seines Generalsekretärs in der 123. Generalkongregation vom 16. November 1964, erklärt, daß die Definition (tenenda definit) geoffenbarter Lehre (de rebus fidei et morum) nur dann vorliegt, wenn das ausdrücklich gesagt wird. Dies ist in den Konzilstexten nie erfolgt. Das Konzil wollte also kein neues Dogma und keine unfehlbaren Lehren verkünden, es sei denn im Rückgriff auf das vorausgehende Lehramt der Kirche.“
Man tue dem Konzil, das bewußt zu den Menschen seiner Zeit sprechen wollte, „Gewalt an und beraubt es seines Charakters“, so Kolfhaus, wenn man ihm „unterstellt, daß es immer überzeitlich gültige, irreformable Festlegungen treffen wollte“. Dennoch habe das Konzil zuweilen autoritativ gesprochen, ohne dies ausdrücklich zu sagen:
„Das Konzil hat, wie gezeigt, nicht dogmatisch definieren wollen, aber bisweilen sehr wohl Aussagen über die res fidei et morum gemacht (z. B. sakramentaler Charakter der Bischofsweihe).“
Lehrhafte Elemente, die in den Konzilstexten zu finden sind, seien aber nicht um ihrer selbst willen eingefügt worden, sondern um einige pastorale Hinweise oder Aussagen zu erläutern. Diesen einzigartigen Charakter versucht Kolfhaus zu beschreiben:
„In den Dekreten und Erklärungen finden sich ohne Zweifel lehrhafte Elemente, aber diese zielen auf die Praxis. Sie werden nicht als Feststellung von Wahrheit, die zu glauben sei, vorgelegt, sondern als Begründung eines bestimmten Handelns. Die Grundlage einer bestimmten Praxis anzugeben ist eine pastorale Lehraussage; keine dogmatische, die Lehrstreitigkeiten schlichten will. In der Vergangenheit hat man lehren immer als lehren zur Entscheidung einer Lehrstreitigkeit verstanden. Für das Zweite Vatikanum trifft das in vielen seiner Texte, namentlich den Dekreten und Erklärungen, nicht zu. Hier wird eine neue Form der Lehrverkündigung ausgeübt, die die Theologie noch gar nicht begrifflich gefaßt hat.“
Im Hinblick auf das dritte von Kolfhaus in seiner Dissertation besonders besprochene Konzilsdokument, die Erklärung zur Religionsfreiheit (Dignitatis Humanae), schreibt er:
„Diese Fragen will Dignitatis humanae aber nicht beantworten, sondern überläßt sie, so stellt De Smedt am 21. September 1965 ausdrücklich fest, dem ordentlichen Lehramt der Kirche“.
Wie aus den von Kolfhaus vorgelegten Zitaten des Sonderberichterstatters des Konzils, Bischof Emile-Joseph De Smedt, deutlich wird, hatten viele Konzilsväter keineswegs die Absicht, die Lehre der Kirche zu ändern. In diesem Zusammenhang schlägt er selbst vor, einen neuen Begriff zu entwickeln, um diese besondere Art der kirchlichen Lehre zu beschreiben, nämlich munus praedicandi, eine Lehrtätigkeit der Kirche mit pastoralen Zielen im Unterschied zu einem munus determinandi, das auf die Beilegung von Lehrstreitigkeiten und die Darstellung verbindlicher Wahrheiten abzielt.
Eine pastorale Praxis könne allerdings auch zu einer Gefahr für die Glaubenslehre werden und diese sogar untergraben, so Kolfhaus. Er stellt fest, „daß mit einer neuen pastoralen Wirklichkeit sich auch eine neue Lehre entwickelt. Genau das erleben wir heute in nicht wenigen Pfarreien und kirchlichen Gemeinschaften.“
Neben der Gefahr, daß sich die pastorale Praxis faktisch gegen die Lehre wendet, sei das Konzil durch seine Absicht zeitgebundener Aussagen schon überholt:
„Freilich bedeutet dies, daß diese Praxis zeit- und ortsgebunden und damit nicht uniform und grundsätzlich unveränderbar ist. Ist die Welt von heute des Zweiten Vatikanums nicht in vielerlei Hinsicht bereits zur Welt von gestern geworden?“
Msgr. Kolfhaus regt insgesamt an, die Konzilsdiskussionen selbst und die Aussagen der Bischöfe, die an diesem Ereignis teilgenommen haben, erneut zu studieren. „Es ist erstaunlich, einige der Zitate zu lesen, die er präsentiert“, so Hickson. Etwa die Aussage von Bischof De Smedt, einem der Berichterstatter des Konzils, zum Dogma extra ecclesiam nulla salus:
„Es steht fest, daß in der moralischen Ordnung alle Menschen, alle Gesellschaften und jede zivile Autorität objektiv und subjektiv verpflichtet sind, die Wahrheit zu suchen und es ihnen nicht gestattet ist, das Falsche zu verteidigen. Es gelte die moralische Verpflichtung aller Menschen gegenüber der Kirche, ihre Lehren und Gebote anzuerkennen. Keine menschliche Instanz besitzt eine objektive moralische Wahlfreiheit in der Anerkennung oder Ablehnung des Evangeliums und der wahren Kirche.“
Diese Worte sind in den Akten des Konzils zu finden. „Kolfhaus fordert uns auf, die Originalaussagen zu lesen und zu studieren, um die mens synodalis, d. h. die Meinung der Mehrheit der Konzilsväter zu ermitteln, die selbst die Absicht hatten, dem Lehramt treu zu bleiben.
Hickson merkt daher an, daß die Konzilsväter, „von denen die meisten mit orthodoxen Absichten zum Konzil gekommen waren“, sich entspannt haben dürften, „als sie sahen, daß die Debatte lediglich auf der pastoralen Ebene geführt werden sollte“.
„Das heißt, der veränderte Ton auf dem Konzil könnte viele Konzilsväter dazu veranlaßt haben, der Lehre und möglichen lehrmäßigen Fehlentwicklungen weniger Aufmerksamkeit zu schenken, da sie dachten, sie sprächen lediglich auf pastoraler Ebene“.
Msgr. Kolfhaus leistete, so Hickson, mit seiner ruhigen und fundierten Sprache und klaren Argumentationslinien „einen großen Beitrag zu den Diskussionen in der katholischen Kirche und ihrer Einsicht über das Wesen des Konzils und seine Auswirkungen“. Er konnte dadurch „nicht nur rechtgläubige Männer innerhalb der römischen Kurie unterstützen, die sich für eine Versöhnung mit der Piusbruderschaft und für eine entspanntere Bewertung des lehrmäßigen Gewichts des Konzils einsetzten, sondern kann nun auch einem breiteren katholischen Publikum helfen, den Charakter dieses Konzils und seiner Folgen zu erkennen“.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons/LifeSiteNews