
Die Überschrift dieser Buchbesprechung will provozieren und Neugierde wecken. Sie ist aber, blickt man tiefer, durchaus ernstgemeint. Florian Klenk, Chefredakteur der linken österreichischen Wochenzeitung Der Falter, ist ebenso bekannt wie gefürchtet für die Aufdeckung von echten Skandalen und die Skandalisierung von politischen Gegnern und Meinungen, die nicht in sein linkes Weltbild passen. Für seine investigativen Enthüllungsgeschichten wurde er mit Preisen überhäuft, womit auch geehrt wird, daß er immer „die Richtigen“ trifft. Die kolossale Blindheit des Aufdeckers ist einer seiner Makel. Der andere ist seine dabei zur Schau getragene Hochnäsigkeit. Daher könnten einem bei der Lektüre so manche „aber“ entfahren. „Aber“ versucht Klenk nicht nur sein Selbstimage als „Gutmensch“ zu polieren? „Aber“ will er nicht auch hier ideologische Vorgaben, etwa Klimawandel-Anspielungen, der Realität unterschieben, um die Bobo-Vision durch die Hintertür zu retten? „Aber“ scheint Klenk den Bobo nicht nur kurzzeitig am Eingang ins Murtal abgelegt zu haben, denn lassen seine Coronaängste und sein Maskenfetischismus nicht nur bestenfalls eine partielle „Bekehrung“ des naturfernen Öko-Großstädters erkennen? „Aber“… Das mag alles sein, und dennoch. Als Prof. Romig seine Besprechung einreichte, war er sich selbst nicht sicher, ob sie für diese Seite geeignet sei. Doch, sie ist geeignet, finden wir. Klenk ist von seinem hohen Roß heruntergestiegen zu Christian Bachler vom Bergerhof in der Krakau, dem höchstgelegenen Bauernhof der Steiermark. Dazu ist nicht jeder fähig, der seine Gutmenschen-Nase so hoch trägt. Der Falter-Chef sprang gleich mehrfach über den eigenen Schatten. Das ist anzuerkennen, wie Romig es tut, der bei der Lektüre ein Zeichen der Hoffnung erkannte. Damit beginnt das Wesentliche …
Die Bekehrung des Florian Klenk
Von Univ.-Doz. em. Dr. Friedrich Romig*
Florian Klenk hat sich als Investigativ-Journalist und Chefredakteur des „Falter“ einen Namen gemacht. Sein Kollege Giovanni di Lorenzo meint dazu, „man möchte nichts ausgefressen haben und wissen, dass Florian Klenk einem auf der Spur ist“. Investigation stößt nicht überall auf Sympathie, vor allem nicht bei jenen, die in den Panama-Papers erwähnt oder in die Ibiza-Affäre verwickelt sind. Klenks Weg ist gepflastert mit dem Sturz von Regierungen, Rücktritten von Ministern und Parteiführern und selbst hohe Beamte der Justiz und der Staatsanwaltschaft waren durch so manche seiner Interventionen gezwungen, ihre Ämter aufzugeben. Korruption, Steuer- und Subventionsbetrug, Medien- und Stimmenkauf, Menschenhandel, Missstände im Polizeiapparat und im Strafvollzug sind der Stoff, der sich in vielen seiner Reportagen niederschlägt. Nicht selten legt er sich mit Vertretern der „Zivilgesellschaft“ an, wenn dort Meinungen geäußert werden, die dem Rechtsempfinden des studierten Juristen widersprechen.
Von einem solchen Widerspruch handelt auch sein letztes, im Herbst 2021 erschienenes Buch „Bauer und Bobo – Wie aus Wut Freundschaft wurde“. Die Freundschaft führte zur Bekehrung des Florian Klenk. Jetzt ist Florian Klenk alles andere als ein „Bobo“. Die Mischung von liberalen Bourgeois-Bohémiens, linken Weltverbesserern, Demokratie- und Gleichheitsfanatikern passt nicht mehr auf ihn. Die Begegnung mit einem Bauern ließ ihn zu einem hochkonservativen Mitbürger werden.

Die Geschichte dieser Verwandlung ist schnell erzählt: Ein hochintelligenter Bauer bewirtschaftet einen ererbten Hof samt Almen in der gebirgigen Obersteiermark auf traditionelle Weise. Er verschuldet sich, kann die Kredite nicht bedienen. Der Gläubiger, die Raiffeisen-Genossenschaft, klagt und erwirkt durch ein Gerichtsurteil die Versteigerung des Hofes. Der Hof, samt Almen und Jagdgebiet ist laut Schätzgutachten rund 1.012.000 Euro wert und diente zur Besicherung der Kredite samt Zinsen in Höhe von rund € 135.000. Dieses Missverhältnis vom Wert des Hofes und der gewährten Kredite führt zur Empörung über das Gerichtsurteil bei den Bauern und ihren Vertretern. Der Jurist Dr. Florian Klenk verteidigt den Richter und das Versteigerungsurteil, und gießt damit Öl in die Wunden der Bauern und natürlich vor allem bei dem betroffenen Hofbesitzer.
Klenk hat sich durch die Verteidigung eines Innsbrucker Richters im berühmt gewordenen „Kuhurteil“ den Zorn von Bauern, ihren Organisationen und sogar der Regierung unter Bundeskanzler Kurz zugezogen. Klenk gab in einem Artikel im „Falter“ dem Richter Recht, welcher einen Bauern verurteilte, der seine wildgewordenen Kühe nicht beaufsichtigte, die auf einem Wanderweg eine Frau zu Tode trampelten. Bachler hatte den Falter-Artikel in einem faktenreichen und gutinszenierten Facebook-Video aufs Korn genommen. Das führte zu einer Einladung von Bachler und Klenk in die von dem Milliardär Dietrich Mateschitz gesponserte Talk-Show „im Hangar“. Bachler ist kein Unbekannter. Seit langem betreibt er eine eigene, vielangeklickte Facebook-Seite, in der er die Agrarpolitik der EU, die Bauernvertreter in den Parlamenten und Landwirtschaftskammern auf das Heftigste kritisiert und angreift. Als „Wutbauer“ agiert er unter seinem Namen: Christian Bachler.
Aus der Talk-Show entstand wiederum ein Video, das 250.000 Mal angeklickt wird. Bachler nennt Klenk einen „Bobo, der von nichts eine Ahnung hat“. Klenk wird zum Gespött vieler Follower und mit Hasskommentaren überschüttet. Zum Schluss des Videos setzt Bachler eine Geste, die Klenk nachdenklich macht. Bachler lädt Klenk zu einem mehrtägigen „Praktikum“ auf seinem Bergbauernhof ein. Klenk sollte lernen, was sich dort abspielt, und dann nicht mehr unbedarft sprechen, urteilen und publizieren.
Klenk nimmt die Einladung im September 2019 an und gesteht, in den drei Tagen seines Praktikums Erfahrungen gemacht zu haben, die sein Leben, das seiner Familie und seine ganze Weltsicht von Grund auf veränderten. Er, „der feine Pinkel aus der Stadt“, für den Existenzangst ein Fremdwort war, bekam ad oculos vorgeführt, was es heißt, von früh bis spät zu schuften und nichts weiter anzuhäufen als neue Schulden.
Während der Arbeit sprachen die beiden viel miteinander. Bachler erläuterte Sinn und Hintersinn jeder Tätigkeit, Klenk nahm lernbegierig auf, was Bachler ihm sagte. Das begann schon bei der Abholung in Unzmarkt, den Einkäufen Bachlers im Lagerhaus von Raiffeisen und dem Gang entlang der kaum endenden Regale. Bachler kaufte um vierzig Euro eine Schmiere für seine „Yaks“, asiatische Rindviecher, die die „Rasenschmiele“ fressen, ein scharfes, spitzes Gras, welches die Kühe verschmähen. Gäbe es die Yaks nicht, würden die Kühe bald kein für sie genießbares Gras auf der Alm mehr finden. Die Yaks aber werden wiederum von Leberegeln gequält, die die inneren Organe der Yaks mit tödlichen Folgen zersetzen. Bachler reibt das Fell seiner Yaks mit dem teuren Medikament Closamectin ein, das über die Haut eindringt und die Egerlinge unschädlich macht. Doch damit kommt es zu einem neuen Problem: Die Mistkäfer, die über die Fladen der Yaks kriechen, sterben an diesem Medikament, die Fladen der Yaks werden nicht zersetzt, sie bleiben liegen und die Almwiese ungedüngt.
Bachler zitiert eine dänische Agrarökonomin, die die ganze Almwirtschaft verschwinden sieht, von den großen Mastbetrieben verdrängt. In Dänemark, so sagt sie, seien Schweinemastbetriebe erst ab 10.000 Schweinen rentabel. Sechs Euro verdiene ein Bauer pro Sau, die die Sonne nie gesehen haben. Für 6,66 Euro per kg liefert der Gastrogroßhändler Transgourmet Schweinefleisch an die Supermärkte und Gaststätten. Da könne Bachler mit seinen 60 Schweinen nicht mit. Rinderfilet ist bei dem Gourmetgroßhändler um 16,66 Euro in Deutschland zu haben. Es kommt aus der Fleischfabrik von Tönnies, in der alle 20 Sekunden ein Rind geschlachtet wird. Bachler verlangt und bekommt für das Filet 70 Euro von seinen Kunden, die er per Post beliefert und die das würzige Fleisch der Almkühe zu schätzen wissen. Klenk, so beschreibt er seine erste Unterhaltung mit Bachler, hat in den wenigen Minuten im Lagerhaus mehr gelernt als in einem Interview mit einem Professor der Bodenkultur. In kürzester Zeit habe er begriffen, „dass da etwas gründlich durcheinandergeraten ist in den Alpen. Globalisierung, Fleischindustrie und Klimawandel verändern das hinterste Gebirgstal“.
Die Auffahrt zum Hof in einem schrottwertigen Auto mit Sprung in der Windschutzscheibe wird zur nächsten Lehrstunde. Zuvorkommend erspart Bachler dem Praktikanten die Fahrt mit der engspurigen Murtalbahn, die vor hundert Jahren gebaut wurde und mit abgewetzten Sitzbänken in den Waggons durch das hintere Tal zuckelt. Die Bahn, so Bachler, sei Symbol für das Absterben der Talschaft. Man solle sich von der Kitschkulisse nicht täuschen lassen. Ein Drittel der Bevölkerung sei nach dem Zweiten Weltkrieg abgewandert, die Kleinbauern hätten verkauft, die maschinell gut ausgerüsteten Großbetriebe böten kaum noch Beschäftigung und kämpften selbst ums Überleben. Zahlreiche Gastwirtschaften hätten zugesperrt, Hotel- und Pensionen seien zu Saisonbetrieben geworden, die ihre Arbeitskräfte kurzfristig aus dem Ausland holten. Schulen würden geschlossen, weil der Nachwuchs fehle. Die Talschaft stünde “vor dem Abgrund“: wirtschaftlich, kulturell-gesellschaftlich, bevölkerungs- und altersmäßig. Einst, und das galt auch noch einige Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg, lebte Österreich von den Tälern, jetzt veröden sie.
Die drei Tage des arbeits- und gedankenreichen Praktikums verlaufen wie im Fluge. Auf der Heimfahrt, noch im Bus und Zug, konzipiert Klenk den Bericht über sein Praktikum am Almhof. Eine Woche später erscheint er im „Falter“. Bachler gibt ihn in seinem Facebook-Auftritt wieder. Er wird sowohl von seinen Followern wie auch von Falterlesern, Bauern, Vertretern der Landwirtschaft, Touristen und Naturliebhabern angeklickt. Klenk lädt Bachler nach Wien und zu einem Gegenbesuch in die Falter-Redaktion ein. Dort soll er Redaktionsmitglieder kennenlernen, die ganz ähnlich denken wie er: Erhaltung der bäuerlichen Klein- und Mittelbetriebe, Ablehnung der Massentierhaltung, der Fleischfabriken, Schutz des Artenreichtums, der Landschaftspflege, der Hausschlachtung, der Selbstversorgung, des Handwerks, der bäuerlichen Gesellschaft und Tradition.
Bachler nimmt die Einladung an, doch statt nach Wien zu fahren, gibt er vor, „unabkömmlich“ zu sein. Klenk dagegen macht im Herbst 2020 zusammen mit seinem Sohn Leo „Urlaub auf dem Bauernhof“ von Bachler. Rührend die Schilderung, wie sein Sohn Leo mit den Tieren auf dem Bauernhof herumtollt, sie füttert und tränkt, gemeinsam mit den Erwachsenen eine verlaufene Kuh sucht und den Forst durchkämmt.
Heimgekehrt nach Wien erhält Klenk den Hilferuf eines bäuerlichen Freundes und Nachbarn von Bachler. Bachlers Hof soll versteigert werden. Bachler und seine betagte Mutter würden ihre Lebensaufgabe verlieren, Bachler sei ja schon seit längerer Zeit depressiv und jetzt schwer suizidgefährdet. Seine Freunde machten sich große Sorgen um ihn. Klenk solle mit ihm reden.
Nach kurzem Zögern entschließt sich Klenk, seinem neugewonnenen Freund Bachler zu helfen. Bachler hat ihm bislang nie etwas von der bevorstehenden Versteigerung und seiner Schuldenlast erzählt. Klenk muss ihm die Hilfe geradezu aufdrängen. Seinem Sohn erklärt er, was eine Versteigerung bedeutet: Ruin für den Schuldner und Gewinn für Schnäppchenjäger. Der elfjährige Leo kreiert zusammen mit seiner Zwillingsschwester eine Website, die zur Rettung des Almhofes durch Spenden aufruft. Der Spendenaufruf zeigt Wirkung, er wird 4.400 Male angeklickt. Innerhalb weniger Minuten sind 93.000 Euro auf dem Paypal-Konto Bachlers eingegangen und wenig später sind es genug, um die von Raiffeisen eingeklagte Summe auf den Tisch zu legen.
Der Jurist Dr. Florian Klenk verschafft sich den Versteigerungsakt. Bachler hat ihn sich nie angesehen, sondern den Kopf in den Sand gesteckt. Der Versteigerungstermin ist für den 20. Oktober 2020 in Murau angesetzt, höchste Eile also geboten. Bei solch hohen Beträgen herrscht Anwaltszwang. Bachler kann nicht einmal angeben, wer ihn bei Gericht vertritt. Klenk kümmert sich um kompetent anwaltliche Vertretung. Und dann kommt das Glück ihm zu Hilfe. Wegen der Pandemie wird die Versteigerung auf unbestimmte Zeit vertagt.
Doch naturgemäß ist das nicht genug, um Bachler und den Almhof zu sanieren. Die Gesamtschulden Bachlers betragen über € 400.000. Klenk spricht deshalb den Rockstar Gabalier an. Gabalier hat Klenk im vollgefüllten Münchner Stadion wegen seines Urteils über das Kuhurteil vor der jubelnden Masse als Ochse verspottet, „der in der Weihnachtskrippe noch fehlt“. Gabalier warf Klenk vor, er würde „nichts von Tradition und christlichen Festen halten“. Klenk kannte die andere Seite des Volks-Rockers. Gabalier wuchs wie Bachler als Halbwaise in der Steiermark auf. 2006 nahm sich sein Vater Wilhelm Gabalier (†53) das Leben. Er übergoss sich vor dem Haus der Familie mit Benzin und verbrannte. Das Motiv blieb ungeklärt, einen Abschiedsbrief gab es nicht. Zwei Jahre später erhängte sich die Lieblingsschwester von Gabalier. Sie wurde mit dem Tod ihres Vaters nicht fertig. Das Lied, das Gabalier damals zum Tod seiner Lieblingsschwester komponierte („Amoi seg ma uns wieder“), brachte für den Volks-Rock’n’Roller den Durchbruch. Klenk hat mit Volksmusik nichts am Hut, aber er kennt die vielen Charity-Aktivitäten von Gabalier und weiß auch, dass Gabalier nach der Handelsakademie-Matura das juristische Studium begann. Klenk ruft Gabalier an und bittet um Hilfe für Bachler. Gabalier läßt sich den Fall schildern und verspricht Prüfung. Wenig später bringt Gabalier auf seiner Facebook-Seite den Falter-Beitrag und bittet seine Fans, den Almhof und seinen hochverschuldeten Besitzer zu retten. Viele der 240.000 Fans von Gabalier öffnen ihre Sparbüchsen. Innerhalb weniger Tage trafen von 12.829 Spendern € 416.811,25 auf dem Paypal-Konto von Bachler ein, der daraufhin sein Konto sperrte und weitere Spenden abwies. Bachler konnte jetzt seine Schulden zurückzahlen, doch den „Bauer als Millionär“ zu spielen, war nicht sein Ding.
Barbara Stöckl vom ORF hat von der dramatischen Rettungsaktion für den Almhof und seinem Besitzer Wind bekommen und setzte kurzfristig eine Live-Sendung mit Bachler und Klenk an. Beide sollten über ihre Aktionen zur Rettung des Almhofes berichten. Christian Bachler erschien zum Sendetermin an einem kalten Wintertag völlig übermüdet, unrasiert, in einem Kapuzenpullover mit der provozierenden Aufschrift „Ackerdemiker“. Klenk trug die übliche Kleidung eines Stadtmenschen. Die Sendung schlug ein. Der Almhof und das ganze hintere Murtal wurden mit einem Schlag selbst für Chinesen und Japaner zu einer touristischen Attraktion. Im Sommer 2020 waren die Fremdenzimmer des Almhofes, im Gegensatz zum Vorjahr, ausverkauft, Pensionen und Gaststätten sperrten wieder auf. Das Tal schöpfte Hoffnung.
Verblüfft von dieser Wirkung, begann Florian Klenk nach den Motiven und nach Erklärungen zu suchen, die diesen durchschlagenden Erfolg ermöglichten. Er begann mit der Untersuchung bei sich selbst, einer „Introspektion“. Er hatte sich nie dafür interessiert, woher und von wem das Fleisch geliefert wurde, das er im Supermarkt, womöglich durch Sonderaktion, verbilligt kaufen konnte. Almwirtschaft und Bauern in Not standen bis zu seinem „Praktikum“ nicht im Mittelpunkt seines Interesses. Selbst seine Familiengeschichte und Herkunft schätzte er nur insoweit, als sie ihm eine sorglose Jugend und Ausbildung ermöglichte. Als Mitarbeiter und später als Chefredakteur des „Falter“ waren Korruption und Skandale der Stoff, um den er sich kümmerte.
Mit der „Introspektion“ änderte sich das. Er wollte mehr über seine Herkunft und Wurzeln erfahren. Zu diesem Zweck interviewte er im Herbst 2021 seinen 80-jährigen Vater, der als Doktor der Physik Karriere gemacht hatte. Von ihm erfuhr Florian, dass seine Großeltern aus kleinbäuerlichem Milieu stammten. Der Großvater arbeitete als Schadensreferent für eine große Versicherung, musste Hagel‑, Hochwasser‑, Dürre- und Brandschäden bewerten. Daneben betrieb er zusammen mit seiner Frau, die in einer Bauernfamilie aufgewachsen war, einen kleinen Bauernhof, der vieles lieferte, was die Familie an Nahrungsmitteln verzehrte oder eintauschen konnte. Florians Vater hat von Kindesbeinen an viele Tage auf dem in der Nähe von Sankt Pölten gelegenen Hof verbracht und sich mit der Dorfjugend befreundet. Die der Hauptstraße zugewandten Tore der Höfe blieben tagsüber immer offen, die Jugend konnte ein- und ausgehen und war überall willkommen. Die Hinterhöfe und die Straße waren ihr Spielplatz. An warmen Abenden saßen die Altbauern auf dem Bankerl vor dem Haus und sahen den Spielen zu. Die ganze, damals unbefestigte Straße war voller Leben. Neben den Bauernhöfen gab es in Ratzersdorf, so hieß der Ort mit seinen hundert Gebäuden, drei gut frequentierte Gasthäuser, drei Gemischtwarenhandlungen, eine davon betrieb im Hinterhaus auch noch eine Bäckerei. Es gab zwei Schuster, einen Schneider, einen Huf- und Nagelschmied, einen Schmied für die Gerätschaften, später kam dann noch ein Karosseriespengler hinzu. Ratzersdorf war eine sich selbst versorgende Gemeinde, man bekam im Dorf also ziemlich alles, was zum Leben notwendig war. Arbeitsplätze gab es auch genug, niemand musste auspendeln Auch das kulturelle Leben kam nicht zu kurz. „Es gab die Kirche im Dorf, in der ich“, erzählt Florians Vater, „sogar ministriert habe“. Vom Gottesdienst an den Sonn- und Feiertagen schloss sich kaum jemand aus, die Gelegenheit zur anschließenden Begegnung, dem Meinungsaustausch und dem Wirtshausbesuch wurde gerne genutzt. Die Kirtage wurden gemeinsam groß gefeiert, mit Vorführungen und Tanz bis zum Morgengrauen. Es gab eine eigene Theatergruppe und natürlich ist nicht zu vergessen die Volksschule, in der wir ja nicht nur Schreiben, Lesen und Rechnen lernten, sondern mit unserer Herkunft und der Geschichte unseres Landes vertraut gemacht wurden.
Florian Klenk wollte wissen, wo dieses Bauernhaus stand und fuhr mit seinem Vater nach Ratzersdorf. Das Dorf hatte sich völlig verändert, es gehörte jetzt zum „Speckgürtel“ von St. Pölten. Die alten Gebäude waren verschwunden, sie mussten modernen Ein- und Mehrfamilienhäusern Platz machen. Auf kleinen Grundstücken wurden von spekulationsaffinen Development-Companies gesichtslose Betonbauten und Fertighäuser hochgezogen. Das vorstädtische Einerlei aus Siedlungen, Autohäusern, Tankstellen und Supermärkten überwucherte die noch junge Vergangenheit. Die Straße war jetzt asphaltiert, sie war kein Spielplatz mehr für Kinder, ihr Überqueren an nichtmarkierten Stellen gefährlich. Die meisten Bewohner gehörten der Mittelschicht an, waren in Pension oder als Beamte in der nahen Landeshauptstadt tätig. Abends zogen sie sich in ihre Behausungen zurück, das gesellige Leben erstarb. Ratzersdorf war einst als bäuerliche Gesellschaft eine „Gemeinwohl- und Schicksalsgemeinschaft“, jetzt nur noch der Ort eines Haufens von Einwohnern, die kaum eine Beziehung zueinander pflegten. Kinderlosigkeit überwog, denn auch die Frauen waren zumeist berufsstätig. Die Herdflamme erlosch.
Vater Klenk zeigte seinem Sohn, wo einst der Hof der Großeltern stand. Einen Teil des parzellierten Grundstücks und das Gebäude hatte ein junges Ehepaar ersteigert und in ein Atriumhaus umgestaltet. Eine dichte Hecke verwehrte den Blick in den Hof, wie es bei vielen Wohngebäuden der Fall war. Man sonderte sich ab, ging nicht mehr auf den anderen zu, das „Private“, Individuelle bekam den Vorrang in der Gesellschaft. Aber, wie kann eine Gesellschaft überleben, wenn es kein Gemeinwohl mehr gibt?
Diese Frage durchzieht das Schlüssel-Kapitel „Christian Bachler erzählt – die Biografie eines Bergbauern“ (S. 78–89). Der Vater von Christian starb im Jahr 2003 mit 53 Jahren. „Ich war damals 20 Jahre alt, erzählt Christian, und musste den Hof übernehmen. Dazu musste ich zuerst einmal 300.000 Euro in die Hand nehmen, den Stall ausbauen, die Maschinen erneuern, ein größeres Grundstück zukaufen. Ich hatte die Landwirtschaftsschule in Murau besucht. Dort haben sie uns eingetrichtert, wir sollten größer werden, investieren und modernisieren, die EU würde das fördern, die Landwirtschaftskammer uns helfen, die Förderanträge zu stellen, den ‚Businessplan‘ vorzulegen. Die Fördermittel flossen, doch sie wurden umgestellt und nach und nach immer weniger. Neue Auflagen wurden uns auferlegt, die geförderten Almflächen verringert, und weil Kontrolleure behaupteten, wir hätten die EU durch Einrechnung von unproduktiven Flächen betrogen, mussten Fördermittel sogar zurückgezahlt werden. Dazu kam der Verfall des Milchpreises. Erst forderte man uns auf, mehr Milch zu erzeugen, ‚die Chinesen saufen uns aus‘, dann aber blieb die Nachfrage aus, statt 42 Cent bekamen wir nur noch 22. Die Schulden begannen mich zu erdrücken. Raiffeisen verlangte Verzugszinsen von bis zu 14,75%. Ich wollte mich aufhängen, ich habe nur noch an den Strick gedacht“ (S. 90–99).
Dass Christian Bachler dieses Schicksal erspart blieb, ist Florian Klenk, dem Investigativ-Journalisten, den Spendern und Helfern zu verdanken. Die Erzählung der Versöhnung des „Wutbauers“ mit seinem Kritiker ist ein Dokument der Zeitgeschichte, wie es ganz selten anzutreffen ist. Journalism at its best. Das Buch ist spannend geschrieben, der Rezensent konnte es nicht weglegen, er las es in einem Zug durch. Es erlaubt den Blick „in das brutale System von Agrarindustrie und Subventionspolitik“, das „praktisch jeden Tag mehr dem Landwirt die Existenzgrundlage raubt“, schrieb Cathrin Kalweit in der Süddeutschen Zeitung vom 4. Oktober 2021. Der Tagesspiegel (vom 11. Oktober 2021) nennt das Buch „einen deftigen Essay über die Teufelskreise in der Landwirtschaft“, einen wahren „Agrar-Thriller!“, der zugleich „durch das barocke Nebeneinander von Schönheit und Verfall eine verhaltene Melancholie“ vermittelt.
Das Fazit, das Florian Klenk im „Epilog“ (S. 149–154) zieht, ist eindeutig: Wir stehen am Abgrund und jeder „Fort-Schritt“ bringt uns ihm näher. „Fast alle sind sich sicher, dass sich etwas ändern muss“. „Der wütende und zornige Bachler hat es uns desinteressierten und wohlstandsverwöhnten Städtern reingesagt. Schaut her, wie wir Bauern leben, seht her, was der Welthandel mit unseren Höfen, unserer Kultur, unserer Natur und unseren Tieren macht, seht her, wie ihr unsere soziale Lage und damit auch eure Lebensgrundlage ignoriert.“ Das Buch „ist mein Versuch, das gespaltene Verhältnis unserem bäuerlichen Erbe gegenüber offenzulegen, ein Zwiespalt, den wir auch im Umgang mit der Kreatur zeigen, die wir als ‚Nutztiere‘ halten und quälen“. „Ich bin froh, den sturen und streitbaren Christian Bachler kennengelernt zu haben“. Und wir dürfen froh sein, dass uns Florian Klenk durch seine Reportage über dieses Kennenlernen zum Nachdenken anregt, was denn eigentlich im Leben wirklich wichtig ist: der Glaube, die Hoffnung und die Liebe.
Florian Klenk: Bauer und Bobo – Wie aus Wut Freundschaft wurde. Paul Zsolnay-Verlag, Wien. 1. Aufl. 2021, 7. Aufl. Feb. 2022. Gebundene Ausgabe, 160 Seiten. ISBN 978–3‑552–07259‑6. € 20,56.
- Die Internetseite von Bachlers Bergerhof auf der Krakauebene.
Bild: Facebook/Bergerhof Krakauebene (Screenshot)
Zuletzt von Friedrich Romig bei Katholisches.info erschienen:
- Der Missbrauch der Geschichte
- Rechtskatholizismus – Eine geistig politische Strömung
- Wunder über Wunder: Rom, „die ewige Stadt“
- Alta Vendita
- Hilaire Belloc: Die Feinde der Katholischen Kirche
- Augustin Cochin: Die Französische Revolution „satanique“
- Was läuft falsch?
- Über die Notwendigkeit des gewaltsamen Widerstandes gegen das Böse
- „Consummatum est“ – Léon Bloy: Das Heil durch die Juden
„Aber, wie kann eine Gesellschaft überleben, wenn es kein Gemeinwohl mehr gibt?“ Das denken auch viele traditionelle Katholiken und setzen sich vehement für die mRNA-Impfung ein. Doch auch diese Nicht-traditionelle Methode, die massiv in die Schöpfung eingreift, bringt uns näher an den Abgrund des Fort-Schritts. Wir brauch keinen Fort-Schritt, sondern eine Rückkehr zu Gott.