Ein Beitrag von Clemens Victor Oldendorf.
Das langsam sich neigende Jahr 2020 war mit dem hundertsten Jubiläum des vom heiligen Papst Pius X. erneuerten tridentinischen Messbuchs verbunden, das dessen Nachfolger Benedikt XV. 1920 als neue Editio typica herausgeben konnte. Dieser Ausgabe entsprach die berühmte Editio Lacensis der Eifelabtei der Benediktiner von 1931, die in Zusammenarbeit mit der angesehenen Bremer Presse erstellt worden war. In Maria Laach erschien ab 1927 das Volksmeßbuch1, das analog zum Schott nach seinem Bearbeiter bald schon umgangssprachlich die Kurzbezeichnung Bomm führte.
Bevor ab 2015 die Petrusbruderschaft in der Person ihres Paters Martin Ramm (*1971) das Volksmissale herauszugeben begann2, für das sich entsprechend die Benennung als der Ramm anbietet, hatte lange der Schott des Herder-Verlages eine starke Vorrangstellung, den Anspruch eines faktischen Monopols, und in der Zeit nach der Liturgiereform war er für Jahrzehnte tatsächlich das einzige lateinisch-deutsche Handmessbuch, das in Nachdrucken für die überlieferte Liturgie verfügbar blieb.
Zuletzt hat der Verlag Sarto mit einer erweiterten Lizenzausgabe sichergestellt, dass dem auch in Zukunft so bleibt.3 Den Bomm, der bei Benziger in der Schweiz erschien und dort verbreiteter war als der Schott, sich daneben aber gleichfalls im Kölner Raum und im regionalen und geistigen Umfeld der Laacher Abtei behaupten konnte, gibt es leider schon lange nur noch antiquarisch. Doch man erkennt, dass eine singuläre Stellung nur eines zweisprachigen Handmessbuches für die Gläubigen nicht der traditionelle Normalzustand in der deutschsprachigen Verlagslandschaft gewesen ist.
Pustet macht Herder zuerst Konkurrenz
Friedrich Pustet in Regensburg war als Typograph des Heiligen Apostolischen Stuhles und der Heiligen Ritenkongregation im deutschen Sprachraum der dominierende, zur Herausgabe der lateinischen Ausgaben für den liturgischen Gebrauch autorisierte Verlag. Den Grundstein zu dieser Stellung hatte 1846 ein erstes Altarmissale gelegt.4 In der Verlagsgeschichte ist 2020 ebenfalls ein Jubiläumsjahr und kennzeichnet das zweihundertjährige Bestehen des ursprünglich in Passau ansässigen Unternehmens.
Weniger bekannt ist, dass Friedrich Pustet ein eigenes lateinisch-deutsches Laienmessbuch im Verlagsprogramm hatte. Dessen Anfänge reichen bis 19105 zurück, jedoch war die Editio typica von 1920 Anlass zu einer tiefgreifenden Neubearbeitung durch den Autor und Regensburger Diözesanpriester Christian Kunz (1866–1937) gewesen, die dessen Meßbuch der katholischen Kirche, lateinisch und deutsch6 erst den richtigen Auftrieb und Impuls zu mehreren Auflagen und Ausgaben als Sonntagsmeßbuch7 bis 1929 verschaffte.
Dem Werk des Pfarrers Christian Kunz und damit dessen Biographie und Hintergrund soll der heutige Beitrag gewidmet sein, und zwar für die Phase ab 1920, die durch die rubrizistische Reform von Pius X. angestoßen worden war und insofern mit dem hundertsten Jubiläum des Missale Romanum von 1920 in Beziehung gesetzt werden kann.
So weit und breit, dass es zu dem Kunz geworden wäre, konnte sich Kunz‘ zweisprachiges Messbuch nicht durchsetzen, doch hat es verschiedene eigene Merkmale und Vorzüge, die es vom Schott unterscheiden und es nicht nur chronologisch zum Etappenschritt auf dem Weg zum Bomm machen.
Das allein schon rechtfertigt es vollauf, sich hundert Jahre später mit diesem Laienmessbuch zu beschäftigen und sich des Priesters und Seelsorgers zu erinnern, der dahintersteht. Es wird sich außerdem eine Gemeinsamkeit mit dem Volksmissale der Petrusbruderschaft zeigen, denn Kunz war es schon, der als erster alle Messformulare pro aliquibus locis in ihrem damaligen Gesamtumfang in deutscher Übersetzung in sein Messbuch einfließen ließ.
Als Priesterbildner und Dorfpfarrer der Liturgie verbunden
Über den familiären Hintergrund von Christian Kunz konnte nichts Näheres ermittelt werden. Geboren wurde er am 20. Mai 1866 in Groppenheim, damals zur Pfarrei Münchenreuth gehörig, heute längst der Stadt Waldsassen eingemeindet. Nach dem Besuch der Volksschule in Amberg, die er 1880 abschloss, wechselte er zum Internat und Gymnasium der Benediktiner der Abtei St. Michael in Metten, wo er 1886 sein Abitur ablegen konnte. Nach dem Priesterseminar wurde er am 31. Mai 1891 für die Diözese Regensburg zum Priester geweiht und war zunächst bis 1894 Kooperator in Mitterteich, danach etwas mehr als zwei Jahre Kurat in Premenreuth.
Prägend für sein liturgisch-rubrizistisches Interesse und wohl auch für seine schriftstellerische Produktivität wurde die mehr als acht Jahre umspannende Zeit, in der er als Präfekt am Regensburger Klerikalseminar Obermünster ab August 1896 selbst in der Priesterausbildung wirkte.
Während dieser Zeit brachte Kunz beginnend mit dem Jahr 1901 sein Handbuch der priesterlichen Liturgie nach dem römischen Ritus heraus und war bereits seitdem durchgängig Autor des Verlages Friedrich Pustet.
Dieses Handbuch war so konzipiert, dass in vier Bänden, als Bücher bezeichnet, jeweils die liturgischen Verrichtungen nach Funktion und Person der einzelnen Akteure dargestellt wurden. Dabei fällt auf, dass die Anlage systematisch von vorbereitenden und helfenden Diensten ausgeht; Buch 1 und 2 beschreiben die Aufgaben des Mesners beziehungsweise der Ministranten. Buch 3 widmet sich den Leviten und Assistenten, erst Buch 4, das am längsten und häufigsten wieder aufgelegt wurde, wendet sich den liturgischen Verrichtungen des Celebranten (in späteren Auflagen begegnet die Schreibweise: Zelebranten) zu. Es erschien zuletzt 1922. 1931 noch einmal selbständig Der Ritus der stillen heiligen Messe, im Wesentlichen identisch mit dem entsprechenden Kapitel des vorgenannten Buches. Auch Buch 1, das die Tätigkeiten des Sakristans schildert, erlebte 1915 eine zweite, verbesserte und vermehrte Auflage.
1904 wurde Christian Kunz Pfarrer der Pfarrei Aich in Niederbayern, mit ihrer dem heiligen Ulrich geweihten Pfarrkirche. In dieser Zeit kam die im Handbuch eingenommene Perspektive auf die Liturgie in kleinen Kirchen voll zum Tragen, die Kunz im Vorwort zu Buch 4 namhaft macht, wenn er schreibt, „vor allem die Verhältnisse der praktischen Seelsorge, besonders wie sie für die kleineren Kirchen (Landkirchen) bestehen“8, bei der Abfassung im Blick gehabt zu haben. Dies war ohne Zweifel auch durch seine ersten beiden Einsatzorte in der Seelsorge mitbestimmt worden, ehe er in der Priesterausbildung tätig gewesen war. Dieser Adressatenkreis macht die Kunz’sche Rubrizistik für heute unverändert interessant, wo die überlieferte Liturgie häufig nur einen Gaststatus in den Kirchen hat oder in sogar improvisierte, kleine Kapellen ausweichen muss, in denen sich dem gottesdienstlichen Leben oftmals nicht die Möglichkeit zu unbeschränkter Entfaltung bietet.
Erschließung der Messliturgie und des Kirchenjahres für gläubige Laien
In der Erstauflage des Kleinen Meßbuches der katholischen Kirche, das 1910 erschien, führt es im Untertitel den Zusatz zugleich Einführung in den Geist der lateinischen Liturgie. Damit zeigt sich schon eine Zeitstimmung, die ganz bestimmt mit dem Pontifikat von Pius X. zusammenhängt. Schon 1911 wurde eine zweite Auflage erforderlich. Man darf überzeugt sein, dass Kunz, der zu diesem Zeitpunkt bereits sechs Jahre in Aich in der Pfarrseelsorge stand, den ihm anvertrauten Pfarrkindern etwas vom Geist der Liturgie vermitteln wollte, also die einfache Landbevölkerung, nicht unbedingt den Akademiker vor Augen hatte.
Dass eine Überarbeitung und Erweiterung erfolgte und ein vollständiges Meßbuch der katholischen Kirche erstellt wurde, ist nur mit der Editio typica von 1920 erklärbar, und interessant ist, dass der Titel lautet: Meßbuch der katholischen Kirche (lateinisch und deutsch) nach dem neuen römischen Missale des Papstes Benedikt XV., also die Missalereform anders als in der Titulatur der Editio typica nicht Pius X. zugeschrieben wird.
Der Zusatz lateinisch und deutsch darf übrigens nicht zu der Vorstellung einer bereits durchgängigen Zweisprachigkeit verleiten, diese beschränkt sich nur auf die gleichbleibenden Teile, und die Proprien werden übersetzt. Im Messkanon tritt an die Stelle der Übersetzung des Konsekrationsaktes und seiner Worte eine Erläuterung zur Bedeutung des Geschehens und werden Stoßgebete angeboten, welche bei Erhebung der konsekrierten Hostie und des Kelches zu sprechen sind:
„Die Worte der heiligen Wandlung sind für den opfernden Priester allein bestimmt, in dessen Mund sie Jesus selbst gelegt hat, indem er beim letzten Abendmahl nach der Feier des ersten heiligen Meßopfers zu den Aposteln und hiermit zu allen Bischöfen und Priestern der katholischen Kirche sprach: ‚Tut dies zu meinem Andenken!‘ Diese heiligen Worte haben übrigens auch nur im Munde des Priesters Sinn und Kraft. Während der heiligen Wandlung bete in tiefster Demut und in lebendigem Glauben das Opfer des Neuen Bundes, Christi Leib und Blut an, wie folgt: Bei der Aufhebung der heiligen Hostie mache das Kreuzzeichen und bete still, indem du an die Brust klopfst: O Jesus, sei mir gnädig! O Jesus, sei mir barmherzig! O Jesus, verzeih mir meine Sünden! Amen. (Kreuzzeichen.) Sei gegrüßt, o wahrer Leib Jesu Christi, der am Kreuze als Opfer für meine Sünden hingegeben worden ist. In tiefster Demut bete ich Dich an. Vaterunser usw. Bei der Aufhebung des heiligen Kelches mache wiederum das Kreuzzeichen und bete, an die Brust klopfend: O Jesus, dir lebe ich! O Jesus, dir sterbe ich! O Jesus, dein bin ich tot und lebendig. Amen. (Kreuzzeichen.) Sei gegrüßt, o kostbares Blut Jesu Christi, das am Kreuze als Opfer für mich vergossen worden ist. In tiefster Demut bete ich dich an.“9
Während Anselm Schott OSB (1843–1896) in der Erstauflage seines Messbuches den Kanontext lückenlos übersetzt hatte, ging er ab der zweiten Auflage von 1888 davon ab. Diese Scheu war in ultramontan geprägter Zeit häufig, Kunz in diesem Punkt aber doch ein konservativer Vertreter, denn schon ab der 22. Auflage des Schott von 1921 kehrte in diesem Werk die vollständige Übersetzung auch der mit der eucharistischen Wandlung verbundenen Worte zurück.10
Das Buch von Christian Kunz trägt in seiner ersten Auflage als vollständiges Messbuch zwar das Erscheinungsjahr 1920, aus einer Werbeanzeige des Verlages, die ihrerseits in einem Ende 1920 ausgelieferten Buch11 abgedruckt ist, lässt sich indes schließen, dass es tatsächlich frühestens erst Anfang 1921 erschienen sein kann. Ein in der gleichen Ankündigung als Kleines Meßbuch ebenfalls für 1921 in Aussicht gestellter Auszug für die Sonn- und Feiertage verzögerte sich bis 1922 und trug stattdessen den Titel Sonntagsmissale, enthaltend die Messen aller Sonn- und Feiertage, lateinisch und deutsch, mit ausführlichen Erklärungen.12
Sicherlich wurde dieser Titel gewählt, um eine Verwechslung mit dem Kleinen Meßbuch in den Auflagen von 1910 und 1911 zu vermeiden. Das Sonntagsmissale erlebte bis 1929 beachtliche sieben Auflagen (davon diejenige von 1929 als Lizenzausgabe des Verlages der Buchgemeinde mit Erscheinungsort Bonn). Die vollständige Variante erfuhr immerhin eine neubearbeitete zweite Auflage13, die zum Beispiel auch das damals soeben vorgeschriebene Christkönigsfest berücksichtigt.
Kunz übersetzt als erster vollständig die eigenen Messen für manche Orte
Bemerkenswert ist, dass Kunz die Messen pro aliquibus locis vollständig in sein Buch aufnimmt. Genaugenommen gilt das in der Erstauflage jedenfalls für die Messformulare zu Ehren des Herrn und diejenigen zu Ehren der Gottesmutter14, während in der Auflage von 1920 zunächst noch vierzehn Heilige fehlen15, welche im deutschen Sprachraum nicht so sehr bekannt sind beziehungsweise kaum verehrt werden oder seinerzeit wurden.
Anselm Schott hatte indessen zumindest jene Messformulare für bestimmte Orte aufgenommen, die damals im deutschen Sprachraum allgemein gebräuchlich waren.16
Für die Editio typica des Missale Romanum von 1920 gilt folgende interessante Information hinsichtlich der Messen pro aliquibus locis, die nach ursprünglichem Plan schon damals eigentlich ganz hätten entfallen sollen, dann aber doch – hauptsächlich aus Rücksicht auf bestehende Patrozinien – noch beibehalten wurden:
„Während der Appendix der Editio typica vom Jahre 1900 212 in extenso gesetzte oder auf das Commune ganz oder zum Teil zitierte Messen aufweist, enthält das im Jahre 1911 als letztes vor der Reform gedruckte Pustetsche Missale deren 250. Es war allmählich unter den Typographen ein wahres Wettrennen in der Aufnahme neuer Messen entstanden, wodurch der Appendix immer reichhaltiger wurde. Um dieses für die Zukunft ganz auszuschalten, wurde die Zahl der in den Appendix aufzunehmenden Messen von der Kommission für die Reform des Missale selbst festgelegt, zugleich den liturgischen Verlegern die strikte Weisung erteilt, daß andere Messen in den Appendix nicht mehr aufgenommen werden dürften. Die Zahl der Messen im neuen Appendix beträgt 62. […] Diese 62 Messen sind in drei Gruppen zergliedert: in honorem D. N. J. C., in honorem B. Mariae Virg., in honorem Sanctorum. […] Die Messen sind jedoch nicht, wie im eigentlichen Missale, chronologisch geordnet, sondern bei den Festen des Herrn und der Mutter Gottes nach den Geheimnissen und den Titeln bzw. Tugenden, bei den Festen der Heiligen nach der dignitas, und hier in jeder Abteilung wiederum alphabetisch.“17
Damit, diese Messformulare allesamt in ein Messbuch für die Gläubigen aufzunehmen, war Kunz seinerzeit Pionier, ist dem Volksmissale der Petrusbruderschaft tatsächlich zumindest 90 Jahre vorausgewesen, denn in der zweiten Auflage von 1925 sind auch die 1920 noch fehlenden Heiligenmessen vollständig zu finden.18 Von Anfang an enthielt Kunz‘ Messbuch indes sogar die Communetexte, die 1915 pro aliquibus locis approbiert worden waren19, in deutscher Übersetzung20.
Die Straffung, welche die Messformulare pro aliquibus locis 1920 erfuhren und das Verbot an die autorisierten Verleger liturgischer Bücher, in Zukunft zusätzliche oder neue Formulare hinzuzufügen, ja, sogar die ursprüngliche Absicht, diesen Anhang ersatzlos zu streichen, darf nicht unterschätzt werden. Mit dem Codex Rubricarum von 1960 fielen wiederum einige Messen aus dieser Zusammenstellung heraus, doch auch im Missale Romanum von 1962 hat man schlussendlich nicht ganz darauf verzichten wollen. Das sei hier erwähnt, um aufzuzeigen, wie verfehlt die verbreitete traditionalistische Tendenz ist, jede Streichung als anfängliches Indiz modernistischer Unterwanderung zu brandmarken und deshalb solche Streichungen für sich eigenmächtig gewissermaßen ungeschehen zu machen.
Da wir uns mit einem Laienmessbuch befassen, kann hier die erweiterte Neuauflage des vollständigen Schott, die der Bobinger Verlag Sarto 2018 herausgebracht hat und dabei in Nachahmung des Volksmissale einen Anhang pro aliquibus locis aufnahm, kurz kritisch kommentiert werden. Diesen Anhang hat man nämlich mit solcher Eigenmächtigkeit einerseits um Formulare ergänzt, die 1960 schon entfallen waren, andererseits sogar um Eigenmessen aus Diözesan-21 oder Ordensproprien22 bereichert, die im Anhang pro aliquibus locis überhaupt nichts verloren haben23 und sowieso ausschließlich in den Bistümern oder Ordensgemeinschaften liturgisch benutzt werden dürften, für die sie ausdrücklich gestattet worden sind. Freilich ist es denkbar, dass auch Feste wiederkehren, wie es beispielsweise mit dem Loretofest am 10. Dezember im aktuellen Römischen Generalkalender grundsätzlich 2019 geschehen ist, wobei bisher nicht geklärt ist, inwieweit dies auch Feiern nach Summorum Pontificum betrifft.24
Insoweit es um Ergänzungen für zwei- oder rein volkssprachliche Handmessbücher geht, war Christian Kunz auch bei diesen Lokalanhängen Vorreiter, denn für die Messbücher von Schott gab es solche Anhänge von Eigenmessen vor und zeitgleich mit Kunz lediglich für vereinzelte (meist große und bedeutende) (Erz-)Bistümer und Orden.25 Das Volksmeßbuch des Urbanus Bomm OSB (1901–1982) erschien, wie schon eingangs erwähnt, erstmals 1927, als also gerade die letzten Auflagen Kunz’scher Messbücher bevorstanden. Anhänge zu den Bomm-Ausgaben gab es überhaupt nur wenige und relativ spät. Zuerst für die Schweizer Bistümer 1937 und den Benediktinerorden und die Abteien der Schweiz, daneben 1952 für das damalige Bistum, seit 1988 Erzbistum, Luxemburg, ein Indiz für die Ausstrahlung von Maria Laach und des Bomm in regionaler Hinsicht. Außerdem gab es 1940 einen Kapuzineranhang zum Bomm, der als einziger überhaupt 1953 eine erweiterte zweite Auflage erlebte.26
Besondere Pionier- und Eigenleistung: beachtlich viele Diözesanproprien in Übersetzung
Diese Vergleiche werden hier gezogen, um die Leistung des Christian Kunz richtig wertschätzen zu können, der beginnend mit seiner eigenen Diözese Regensburg und dem Erscheinungsjahr 192127, überwiegend aber 1923, insgesamt achtzehn Diözesanproprien als Ergänzung zu seinem Messbuch in deutscher Sprache erstellt hat.28 Ordensproprien von Kunz gibt es nicht, doch zeigen die erschienenen Anhänge den beachtlichen Verbreitungsradius seines Messbuchprojektes auf, der einen auf den bayrischen (Erz-)Diözesen ruhenden Schwerpunkt erkennen lässt, was nicht überrascht, aber auch (Erz-)Bistümer wie Köln oder Mainz umfasst und mit Chur bis in die (deutschsprachige) Schweiz und nach Luxemburg sowie in heute zu Polen gehörende Gebiete reicht. Zuletzt legte Kunz 1929 die Eigenmessen der Erzdiözese Salzburg in Übersetzung vor29, war folglich offenbar auch in Teilen Österreichs mit seinen Messbüchern bekannt.
Ein gestalterischer Vorzug von diesen war zudem, dass, entsprechend verkleinert, der verlagseigene, unverwechselbare Buchschmuck der liturgischen Ausgaben von Friedrich Pustet – Frontispiz, Vignetten und neogotische Kupferstiche des 19. Jahrhunderts (letztere zur Illustration der Hauptfeste) – übernommen wurde.
Der Schriftsteller Christian Kunz – seine Publikationen neben dem vollständigen Messbuch und dem Messbuch für die Sonntage
Zu Beginn wurde mit dem mehrbändigen rubrizistischen Handbuch von Kunz ein Werk erwähnt, das sich vorwiegend an Priesteramtskandidaten und an Priester richtet, die als Liturgen die Riten und Zeremonien der Kirche unmittelbar korrekt vollziehen und ausführen müssen. Während seine Messbücher erschienen, war Kunz, wie schon erwähnt, Pfarrer der dörflich und bäuerlich geprägten Landgemeinde Aich, die heute zur Pfarreiengemeinschaft Binabiburg gehört. Schaut man die anderen Veröffentlichungen an, die Kunz in jenen Jahren aus der Feder geflossen sind, sind dies neben den Auflagen des Handbuches der priesterlichen Liturgie und der schon erwähnten Messbücher bezeichnenderweise vielfach ebenfalls Schriften, die liturgische Texte und Riten in der Volkssprache zugänglich machen und erläutern: Die Diakonen- und Priesterweihe nach dem römischen Pontifikale, deutsch und lateinisch, nebst Weihe-Unterricht (erschienen: 1913), Die Tonsur und die kirchlichen Weihen nach dem römischen Pontifikale, deutsch und lateinisch, nebst Weihe-Unterricht (1913), Das katholische Kirchenjahr, populär-wissenschaftlich dargestellt (1913), Die Bischofsweihe nach dem römischen Pontifikale, deutsch und lateinisch, dem Volke erklärt (1914). Zwar wendet er sich darin teils auch an Seminaristen, was der angeschlossene Weiheunterricht erkennen lässt, ist aber deutlich bestrebt, die Gläubigen anzusprechen, was vor allem das Kirchenjahr von Christian Kunz belegt und die Kleinschrift zur Bischofsweihe charakterisiert. In die Gruppe dieser liturgischen Publikationen gehört übrigens noch 1936 das Meßbüchlein für die Kinder des 2. und 3. Schuljahres, liturgische Vorstufe für das [Regensburger] Diözesangebetbuch.
Außerdem stammen von Kunz katechetische Schriften, nämlich ein Volksschulkatechismus in mehreren Auflagen und Ausgaben (teilweise unter dem Titel Das Büchlein vom lieben Gott erschienen: 1932, 1934 und 1935) und pastorale Handreichungen für Priester in der Krankenseelsorge (1921 und 1922), schließlich ein Beistand in der Sterbestunde. Ein Hausbüchlein für die Angehörigen eines Sterbenden (1936). Alle Werke, die Christian Kunz vorgelegt hat, erschienen bei Friedrich Pustet in Regensburg.
Wenn man all diese Titel überblickt, wird in ihnen durchgehend das Motiv praktischer Seelsorge, das freilich von der Liturgie der Kirche stark geprägt und durchdrungen ist, deutlich.
Dass in den Messbüchern die veränderlichen Teile nur in der Übersetzung vorliegen, ist kein Mangel bei Kunz, sondern zeittypischer Standard. Erst ab 1926 liegt der Schott30 durchgehend zweisprachig vor, der Bomm31 ab 1936.
Vergleich und Würdigung der Übersetzungsqualität bei Kunz
Indem wir zum Abschluss kommen, soll anhand einer Gegenüberstellung beispielhaft noch die Übersetzungsgenauigkeit von Christian Kunz vorgestellt werden, die meistens bemerkenswert hoch und präzise ist. Gewählt wird dazu das Kirchengebet des 23. Sonntags nach Pfingsten. Dessen amtlicher lateinischer Text der Liturgie lautet:
„Absolve, quaesumus, Domine, tuorum delicta populorum: ut a peccatorum nexibus, quae pro nostra fragilitate contraximus, tua benignitate liberemur. Per Dominum.“
Die originale Übersetzung von Anselm Schott lautete: „Löse, o Herr, dein Volk von seinen Vergehen, damit wir von den Fesseln unserer Sünden, in die wir zufolge unserer Schwäche uns verstrickt haben, durch Deine Güte befreit werden. Durch J. Chr.“32 Es blieb also quaesumus unübersetzt.
Im Sarto-Schott liest man: „Wir bitten Dich, o Herr, erlaß Deinem Volke seine Missetaten, damit wir frei werden von den Sündenfesseln, in die wir infolge unserer Schwachheit geraten sind. Durch unsern Herrn.“33
Kunz bietet: „Wir bitten dich, o Herr, laß nach die Vergehen deiner Völker, damit wir durch Deine Güte von den Fesseln der Sünden befreit werden, in die wir wegen unserer Schwachheit geraten sind. Durch Jesus Christus.“34
Der Bomm hat: „Wir bitten, Herr, laß die Vergehen Deines Volkes nach, und befreie uns in Deiner Güte von den Sündenfesseln, in die wir in unserer Gebrechlichkeit uns verfangen haben. Durch Jesus Christus.“35
Die Formulierung im Volksmissale hat den Wortlaut: „Erlasse, so bitten wir, Herr, die Vergehen Deines Volkes, damit wir von den Fesseln der Sünden, die wir uns durch unsere Schwachheit zugezogen haben, durch Deine Güte befreit werden. Durch unseren Herrn.“36
Zwar erkennen wir, dass außer Anselm Schott selbst und Martin Ramm alle anderen Übersetzer die vorgegebene Satzkonstruktion preisgeben, aber Kunz ist beispielsweise der einzige, der tuorum populorum korrekt im Plural wiedergibt. Die Neigung, frei zu übersetzen, zeigt sich im Schott deutlich im Begriff der Missetaten, durch den etwa verunklart werden mag, dass die delicta auch in schuldhaften Unterlassungen bestehen können. Im Sarto-Schott hat tua benignitate davon abgesehen gar keine Berücksichtigung mehr gefunden, wodurch der Parallelismus der Entgegensetzung zu nostra fragilitate nicht zum Bewusstsein kommen kann, eine Entsprechung, die in ihrer Spannung durch die syntaktische Zuordnung von contraximus und liberemur fortgeführt und dadurch unterstrichen wird, dass einmal aktivisch formuliert ist, das befreiende Heilshandeln Gottes aus Sicht der Sünder hingegen rein empfangend erscheint, im Passiv steht. Das damit wir frei werden der Übersetzung des Sarto-Schott (die übrigens seit 1921/1926 unverändert ist), versäumt es, den Gegensatz beider Vorgänge auszudrücken, und es müsste dazu wenigstens damit wir frei gemacht werden heißen.
In der Bomm-Übersetzung vorzüglich gewählt ist Gebrechlichkeit für fragilitas, das auch Zerbrechlichkeit bedeuten könnte und dann an die irdenen Gefäße in Vers 7 im vierten Kapitel des zweiten Korintherbriefes denken ließe.
Es ist gewissermaßen typisch für die Übersetzung von Christian Kunz, dass sich seine Genauigkeit an einer scheinbaren Nebensächlichkeit unter Beweis stellt, nämlich im Plural deine Völker statt deines Volkes. Zwar ist man geneigt, das neue Gottesvolk der Kirche als ein Volk zu betrachten, doch ist dieses mit der paulinischen Missionstätigkeit beginnend aus Juden und Heidenvölkern zusammengerufen und versammelt: ex omnibus gentibus et tribubus et populis et linguis, wie es in der Lesung des Allerheiligenfestes heißt.37
Zieht man die jeweiligen Vorzüge der einzelnen Übersetzungen als Anregung heran, so müsste sich für die Collecta des 23. Sonntags nach Pfingsten im Deutschen wohl am besten folgende Formulierung ergeben: „Löse38 uns, so bitten wir, Herr, los von den Übertretungen Deiner Völker, damit wir aus den Verstrickungen der Sünden, die wir uns wegen unserer Gebrechlichkeit zugezogen haben, dank milder Zuwendung Deiner Güte befreit werden. Durch unsern Herrn.“39
Ausklang
Aus heutiger Sicht ist das Messbuch des Christian Kunz kein modernes, das auf eine durchgängige Zweisprachigkeit nicht mehr verzichten könnte, es war aber mindestens gleichwertig mit den damaligen Schott-Ausgaben. Das an entscheidenden Stellen bei Kunz immer wieder hervortretende Gespür für die Nuancen der begrifflichen Klaviatur des liturgischen Lateins war eine Vorstufe zur von Urbanus Bomm angestrebten Präzision des Ausdrucks und zum heutigen Anspruch an die Texttreue, unter dem die Neuübersetzung des Volksmissale entstanden ist. Das sichert Christian Kunz einen festen Platz unter den deutschsprachigen Laienmessbüchern im 20. Jahrhundert und ihm hundert Jahre nach Entstehen und Erscheinen seines Handmessbuches ein anerkennendes Andenken.
Nach fünfundzwanzig Jahren als Pfarrer von Aich wurde Christian Kunz 1929 mit dem Titel eines (bischöflichen) Geistlichen Rates geehrt. Insgesamt leitete er die Pfarrei bis zum 31. Oktober 1934, also etwas mehr als dreißig Jahre. Anschließend ging er als Ruhestandsgeistlicher nach Altötting, blieb aber schriftstellerisch praktisch bis zuletzt rege. In dieser marianischen Metropole Bayerns ist er am 16. Februar 1937 verstorben und am 19. Februar 1937 zur letzten Ruhe gebettet worden.40
Bild: Archiv Peter Käser/Bischöfliches Zentralarchiv Regensburg/Archiv Oldendorf
1 Vgl. Häußling, A. A., Das Missale deutsch. Materialien zur Rezeptionsgeschichte der lateinischen Meßliturgie im deutschen Sprachgebiet bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil. Tbd. 1: Bibliographie der Übersetzungen in Handschriften und Drucken, Münster/Westfalen 1984, lfd. Nr. 1211, S. 148, fortan zitiert als Häußling, Missale deutsch (Tbd. 2 ist nie erschienen).
2 Vgl. dazu Wimmer, A., abgerufen am 21. November 2020.
3 Vgl. dazu Oldendorf, C. V., abgerufen am 21. November 2020; dieses Buch wird fortan kurz als Sarto-Schott bezeichnet.
4 Vgl. dazu die Internetpräsenz des Verlages, abgerufen am 21. November 2020.
5 Häußling, Missale deutsch, lfd. Nr. 1088, S. 132, nennt fälschlich erst die Auflage von 1911 und kennzeichnet sie auch nicht als zweite. Ebenso wird eine Abhängigkeit (sogar Übernahme?) der Übersetzung von zwei Vorlagen behauptet, obwohl Kunz sowohl den Ordo Missae als auch sämtliche veränderlichen Eigentexte eigenständig übersetzt hat. Wie Häußling zu dieser Annahme kommt, zugleich aber nicht entscheiden will, von wem Kunz denn abgeschrieben haben soll, ist zum einen nicht nachzuvollziehen, beweist zum anderen aber, dass mit keinem von beiden Vorläufern, W. K. Reischl (1818–1873) und M. V. Sattler (Lebensdaten bis jetzt nicht festzustellen, jedoch ab 1858 und bis zur Jahrhundertwende ins 20. Jahrhundert als publizistisch tätiger Gymnasiallehrer für Geschichte nachweisbar) die behauptete, textliche Übereinstimmung gegeben sein kann.
6 Vgl. ebd., lfd. Nr. 1103, S. 135.
7 Vgl. ebd., lfd. Nr. 1140f, S. 138f.
8 Kunz, Chr., Die liturgischen Verrichtungen des Celebranten [= Handbuch der priesterlichen Liturgie nach dem römischen Ritus, 4. Buch] Regensburg u. a. 1904, S. V.
9 Kunz, Meßbuch (11920), S. 20f.
10 Vgl. Häußling, Missale deutsch, lfd. Nr. 617, S. 95.
11 Vgl. Brehm, F., Die Neuerungen im Missale, Regensburg 1920, erste unpaginierte Seite nach S. 452, unten: „Anfang 1921 erscheint: Meßbuch der katholischen Kirche, lateinisch-deutsch von Pfarrer Chr. Kunz. Vollständig neu bearbeitet. Enthält sämtliche Messen des neuen Missale. Für diese Ausgabe wird später eine Reihe von Proprien erscheinen. Ein Auszug, enthaltend alle Sonn- und Feiertage, sowie jene Feste, die an einem Sonntag gefeiert werden können, erscheint 1921 unter dem Titel: Kleines Meßbuch“, fortan zitiert als Brehm, Neuerungen.
12 Vgl. Häußling, Missale deutsch, lfd. Nr. 1140, S. 138.
13 Vgl. ebd., lfd. Nr. 1104, S. 135.
14 Vgl. Kunz, Meßbuch (11920), S. 865–908.
15 Vgl. Brehm, Neuerungen, S. 398f; vgl. dagegen Kunz, Meßbuch (11920), S. 908–937.
16 Vgl. Häußling, Missale deutsch, lfd. Nr. 596–599, S. 93f, also die von Anselm Schott (1843–1896) selbst und allein besorgten Auflagen.
17 Brehm, Neuerungen, S. 397.
18 Vgl. Häußling, Missale deutsch, lfd. Nr. 1104, S. 135.
19 Vgl. lat. Brehm, Neuerungen, S. 401–413. In das MR1962 wurden diese Communetexte nicht mehr aufgenommen.
20 Vgl. Kunz, Meßbuch (11920), S. 937–952.
21 So aus dem Trierer Proprium, vgl. Sarto-Schott, S. [337]-[340].
22 Unter anderem aus den Eigenmessen der Franziskaner, vgl. ebd., S. [401]-[406].
23 Vgl. ebd., S. [277]-[463].
24 Vgl. ebd., S. [280]-[283]. Papst Franziskus, dem die Migrationsfrage ein geistliches Anliegen ist, könnte in ähnlicher Weise das Fest der Flucht Unseres Herrn Jesus Christus nach Ägypten am 17. Februar wieder einführen, vgl. Brehm, Neuerungen, Missae in honorem D. N. J. C., Nr. 4, S. 398 sowie Kunz, Meßbuch (11920), S. 872–874.
25 Vgl. Häußling, Missale deutsch, lfd. Nr. 837‑1004, S. 111–120.
26 Vgl. zu diesen Anhängen ebd., lfd. Nr. 1276–1280, S. 155.
27 Vgl. ebd., lfd. Nr. 1135, S. 138.
28 Vgl. ebd., lfd. Nr. 1122–1138, S. 137f.
29 Vgl. ebd., lfd. Nr. 1312, S. 161.
30 Vgl. ebd., Missale deutsch, lfd. Nr. 692, S. 101.
31 Vgl. ebd., lfd. Nr. 1238, S. 151.
32 Schott, A., Vesperbuch (Vesperale Romanum), lateinisch und deutsch, enthaltend die Vespern des Kirchenjahres, für Laien bearbeitet, Freiburg im Breisgau u. a. 51913, S. 197f.
33 Sarto-Schott, S. 699.
34 Kunz, Meßbuch (11920), S. 552.
35 Bomm, U., Lateinisch-Deutsches Volksmeßbuch. Das vollständige Römische Messbuch für alle Tage des Jahres, Einsiedeln und Köln 141961, S. 689f.
36 Ramm, M., Volksmissale. Das vollständige römische Messbuch nach der Ordnung von 1962, lateinisch/deutsch, Thalwil 32017, S. 677 T.
37 Offb 7, 2–12.
38 Vgl. zum Imperativ absolve auch im Tractus der Requiemmesse: „Absolve[…] ab omni vinculo delictorum.“ Auch der Terminus delictum begegnet dort wieder.
39 Eigener Übersetzungsvorschlag. Statt delicta mit Vergehen wiederzugeben, wird Übertretungen bevorzugt, da diese Übertretungen von Gottes Gebot sowohl in einem sündhaften (oder nachlässigen) Tun als auch in einem Unterlassen des Guten und Tugendhaften bestehen können. Benignitas kann Güte oder Milde bedeuten, meint aber nicht in erster Linie Güte und Milde an sich, sondern gütiges, mildes Verhalten gegenüber jemandem. Deswegen ist in unserem Vorschlag von Zuwendung der Güte die Rede. Kursivsetzungen im Text kennzeichnen jeweils Übernahmen gelungener Übersetzungselemente von anderen, Fettsatz völlig eigenständige Übersetzungsentscheidungen.
40 Für die Angaben zur Biographie von GR Pfarrer Christian Kunz und Fotografien zur Illustration danke ich den Herren Dr. Dieter Haberl und Dr. Franz v. Klimstein vom Bischöflichen Zentralarchiv Regensburg sowie dem Aicher Heimatforscher Peter Käser recht herzlich. Ebenso herzlicher Dank gilt dem Verlag Friedrich Pustet für Hinweise und Rechercheempfehlungen, die mir freundlicherweise Frau Elisabeth Pustet persönlich gegeben hat.