
Einst werden unsere Enkel die Mär vielleicht so erzählen können: „Es war einmal an einem wolkenverhangenen Dienstagmorgen, am 21. Juli 2020 nach einer 90-Stunden-Dauerverhandlung, daß die Herolde die Einigung der Mächtigen auf das größte Finanzpaket der EU-Geschichte verkündeten. Über die Köpfe der jungen, alten und künftigen Generationen hinweg wurden die Ideen von M & M durchgezogen. Keiner der sogenannten Frugalen Vier (Dänemark, Schweden, Niederlande, Österreich) hat den Mut aufgebracht, mit einem Veto die Notbremse zu ziehen.“ Wenn wir nun einen Blick über den Tellerrand werfen: Haben wir Grund für Freude oder Sorge?1
«Der Euro wird kommen, aber er wird keinen Bestand haben.»
Alan Greenspan
Von Endre A. Bárdossy
Griechenland hat mit 177 % – nach Italien mit 135 % – die höchste Staatsschuldenquote in der Europäischen Union. Am anderen Ende der Liste befindet sich Estland mit einer geradezu puritanischen Schuldenquote von 8,4 %. Aber was soll’s? Alle EU-Länder sind ja im Durchschnitt seit geraumer Zeit mit 78 % ihrer Wirtschaftsleistung in der Kreide, die Mitglieder der Eurozone sogar durchschnittlich mit 84 % des Brutto-Inlandsprodukts.
Die angezählte Eurozone
Die prekäre finanzielle Lage in Südeuropa: Griechenland, Italien, Spanien, Portugal, Zypern, aber auch in Belgien und Frankreich ist nicht erst infolge der Virus-Epidemie entstanden. Das wäre eine unverschämte historische Lüge. Sie war schon 2019 und bereits lange vorher wegen wirtschaftlicher Unfähigkeit der romanischen Länder, Griechenlands und Zyperns unter der harten Euro-Währung evident geworden. Und die Seuche, die war in Mitteleuropa kaum schlimmer als die üblichen Grippewellen jedes Jahr. Vielleicht um einige Nuancen stärker. Das marode Italien mit seinen zahlreichen chinesischen Gastarbeitern war am tiefsten eingebrochen. Die Hunderten Toten sind fast überall in Bruchteilen von Promillen verblieben, dafür ist aber umso mehr politische Panik geschürt worden. Das drohende Virus war im Januar (und schon Ende 2019) bekannt. Auf dem grenzenlos erträumten Globus hat man mit der Schließung der Staatsgrenzen und Flughäfen, wohl aus ideologischen Gründen, lange gezögert. Aber für die amtlich verordnete Schließung der Arbeitsplätze war man ab Mitte März bis Mai – spät genug als das Virus längst unter uns verbreitet war –, umso bereitwilliger aufgelegt. Nicht nur Älteren und Gebrechlichen war es verwehrt, öffentlichen Boden zu betreten. Da die drakonische Ausgangssperre nicht ohne politische Hintergründlichkeit verordnet war, wurde die gesamte Wirtschaft lahmgelegt. Abertausende Angestellte der Polizei, Supermärkte, Spitäler, Stromversorgung, Streitkräfte und auf anderen heißen Posten versahen dennoch ihre systemrelevanten Funktionen, ohne einen heldenhaften Tod zu riskieren oder gesundheitlichen Schaden zu erleiden. Bis heute ist es nicht widerlegt, daß Schwedens Sonderweg zur Herdenimmunität vielleicht doch der richtige war. Gott behüte: Die Massenarbeitslosigkeit im kommenden Herbst und die nächste Virus-Attacke im Winter werden zeigen, ob wir uns weitere Ausgangssperren leisten können. Somit erhalten wir in der Wirtschaft das, was uns die Politiker eingebrockt haben.

Prognosen über die zukünftigen Verstrickungen der ungeheuren Schuldenlast der EU-Staaten wären im Moment ganz und gar unseriös. Katastrophale Folgen sind aber nicht auszuschließen.
Die einzige vernünftige Alternative zur Schuldenmacherei wäre gewesen, den am ärgsten überschuldeten Ländern den Austritt aus der Hochleistungszone der Euro-Länder nahezulegen bzw. sie auszuschließen, solange sie die Maastricht-Kriterien nicht erfüllen können. Eine kleine Eurozone der Elite wäre besser als eine verwässerte. In den schwachen Währungsländern der alten Lira, Peseten, Drachmen, etc. nebst ihren alten Währungsspielchen die Ab- und Aufwertungen wieder zuzulassen, wäre immerhin besser erträglich für alle als die Gefahr der Hochverschuldung und die Drohung der Zahlungsunfähigkeit. Die Wahrnehmung der Realität wäre zwar für die Sanguiniker der United States of Europe ein schmerzlicher Regreß, allerdings ein begründeter mit den enttäuschenden Erfahrungen seit der Einführung des Euro am 1. Januar 2002. Die Kaufkraft der Landeswährungen im Außenhandel innerhalb des größeren Binnenmarktes wieder frei flottieren zu lassen, wäre doch keine fade Idee, sondern anstelle der südländischen Siesta-Philosophie ein echter Währungs- und Bewährungswettbewerb. Die Anwendung unverrückbar fester Paritäten aus ideologischen Gründen ist ebenso hinderlich für den Außenhandel wie ein völlig freies Flottierenlassen von 27 Landeswährungen. Abwertungsverdächtige Währungen haben eine leicht verwundbare offene Flanke gegenüber Spekulanten. So erlitt das Europäische Währungssystem an einem denkwürdigen Black Wednesday (16. September 1992) eine spektakuläre Attacke gegen das britische Pfund Sterling, und teilweise gegen die italienische Lira, wobei skrupellose Spekulanten wie George Soros Milliardengewinne erzielten.
Gute Lektüre für fachlich Interessierte ist der Aufsatz „Flottierende Währungen und Freihandel“ von James Lanner, Direktor für Wirtschaftsangelegenheiten der EFTA (1974).2
Exkurs: Argentinien
Die Zwangsjacke der Eurozone funktioniert offenbar nicht für Griechenland, Italien, Portugal, Spanien, Zypern, aber auch für Belgien und Frankreich nicht. Ihre landeseigene Euro-Währung ist identisch mit der Euro-Währung des Exportweltmeisters Deutschland. Das ist nicht weniger absurd als der Versuch, das schwächliche Argentinien dollarisieren zu wollen. Gerade das war aber der fehlgeschlagene Meisterzug des Finanzministers Domingo Cavallo unter der Ägide seines Präsidenten Carlos Menem in der letzten Dekade des vorigen Jahrhunderts.
Argentiniens fatale Fixierung auf den Dollar war genau so fatal wie die Fixierung der europäischen Schwächlinge auf den Euro.
Die vorübergehende 1:1‑Dollarparität des argentinischen Pesos war jedoch imstande binnen kürzester Zeit einen dreißigjährigen Prozeß der Hyperinflation zu stoppen und die süße, aber nur schmeichelhafte Illusion der Stabilität hervorzurufen, sobald die unermüdliche Notenpresse stillgelegt worden war. Die hohen Kosten dieser Parität wurden freilich durch die Privatisierung staatlicher Monopole und Betriebe gedeckt. An und für sich war das rechtens und erfolgversprechend gewesen. Da aber die argentinische Wirtschaft im Verlauf der ersten fünf Jahre der Parität und Stabilität der Landeswährung (1990–1995) keinesfalls auf Augenhöhe der US-Wirtschaft wachsen konnte – mit Ausnahme des Weinbausektors – und die ‹Schätze der Großmutter› (die Güter und Dienstleistungen, welche vom Staat privatisiert wurden) bald erschöpft waren, drängte sich natürlich die Notwendigkeit einer kontrollierten Abwertung immer mehr in den Vordergrund. Aus Prestigegründen und aus politisch-ideologischen Überlegungen setzte man statt auf Abwertung auf Verschuldung im stolzen Bewußtsein, damit die Inflation siegreich bewältigt zu haben. Der Dollar als Leit- und Primärwährung wird bis heute von jedem Argentinier als so stabil erachtet wie der Goldstandard im Schlaraffenland. Der eigene Peso war immer schon lediglich die Komplementärwährung für kleinere Beträge für Doña Nelly in der Greißlerei. Beträge über 1000 Pesos kalkulierte auch der kleine Mann in Dollar. In der Praxis des Alltags heißt das: Arbeiten wie ein Italiener, leben wollen aber wie ein Amerikaner …
Die Leistungen wurden in weichen Pesos erbracht (ähnlich wie im Mediterraneum vor 2002 in Lira, Peseten, Drachmen), aber in der Perspektive der leeren Erwartungen wurden harte Dollars (bzw. Euros …) ersehnt.
Nach sechs Jahren war der unaufhaltbare Staatsbankrott nicht mehr abzuwenden. Mit den gigantischen Kreditaufnahmen hat die Europäische Schuldenunion genau dieselbe Richtung eingeschlagen.
Der Maastricht-Vertrag (1992) wurde vorsorglich ad acta gelegt
Die gemeinsame harte Währung der Union war von Anfang an für die unterschiedliche Wirtschaftsleistung der Mitglieder ungeeignet. Statt dessen haben die Mächtigen der Union ohne Rücksicht auf Verluste auf eine imaginäre Blase der ‹Solidarität› gesetzt, die unweigerlich platzen mußte. Ein schnelles Zugtier kann nicht mit einem hinkenden vor den Karren gespannt werden. Eine gemeinsame Währung der Europäischen Partnerschaft war lediglich eine Illusion der Gutmenschen-Ideologie:
Ab ovo usque ad mala…
Vom Ei bis zu den Äpfeln
d. h. vom Vorgericht bis zum Nachtisch, wie das schon den alten Römern bekannt war.
Bei glasklarer Voraussicht der faulen Äpfel im Schuldengarten hat man nicht auf eine Kur der Gesundschrumpfung der Eurozone, sondern auf ihre ideologische Verewigung und auf ihre schuldengestützte Aufblähung gesetzt. Die Europäische Kommission arrangierte also die Außerkraftsetzung der gesunden Maastricht-Kriterien bereits am 20. März 2020:
- Das jährliche Haushaltsdefizit muß nicht mehr höchstens 3 % des Brutto-Inlandsprodukts betragen.
- Der staatliche Schuldenstand darf weit über 60, ja sogar über 100 % des Brutto-Inlandsprodukts klettern.
- Die Inflationsrate sollte nicht mehr mit 1½ % über derjenigen der drei preisstabilsten Mitgliedstaaten beschränkt bleiben. Aber welche sind heute diese drei Musterschüler? Darum kümmert sich die Europäische Zentralbank mit der Druckerpresse…
Anfang 1999 vor dem Inkrafttreten der Europäischen Währungsunion (2002) war es immer schon umstritten, inwiefern diese hehren Kriterien tatsächlich eingehalten werden können, um die Leistungsfähigkeit der Euroländer zu gewährleisten. Seither sind wir kein Jota weiser geworden.
Insbesondere die Teilnahme Griechenlands und Italiens war nebulös. Letztlich wurde jedoch die Erfüllung der Kriterien mehr oder weniger von allen Mitgliedstaaten vorgetäuscht oder geschönt. Griechenland hatte jedoch grob getürkte Zahlen übermittelt. Großbritannien und Dänemark nahmen am Hasardspiel einer Währungsunion aufgrund einer vorsorglichen Ausnahmeregelung erst einmal gar nicht teil. Schweden war auch klug genug, um sich mit einem Referendum der Euro-Einführung fernzuhalten.
Die Defizite vor allem der südeuropäischen Sozial-Staaten – wo das Unwesen der Frühpensionen mit 58 Jahren (Frauen) bzw. mit 62 (Männer) blüht –, und die wuchernden Schulden der kompletten Eurozone werden nicht nur geduldet, sondern gefördert. Denn diese garantieren den ‹solidarischen Zusammenhalt› mehr als ein Leistungswettbewerb: Koste es, was es wolle! Und diese Leute faseln was von Vertragsverletzungsverfahren gegen Polen und Ungarn, nur weil diese allzu christlich auf Schutz des ungeborenen Lebens, auf eine umfassende Familienförderung, auf die ausschließliche Ehe zwischen Mann und Frau, auf die Wahrung ihrer nationalen Identität und nicht auf einen grenzenlosen Bevölkerungsaustausch gesetzt haben?
Schon damals, Ende März des heurigen Jahres, waren die Weichen für die Festigung der Schuldenunion gestellt. Denn nun können die auseinanderfallende Union nur mehr die gemeinsame Schuldenpolitik, das lebhafte Schuldenbewußtsein und eine gepflegte Todesfurcht der Panikmacherei zusammenhalten. Die symbolträchtige, aber nutzlose Maskenpflicht ist lediglich eine Gehorsamsübung für die Einschüchterung der Bevölkerung unter den stümperhaften Verordnungen Rudi Münchhausens geworden. Die Masken des makabren Tanzes um die Schuldentöpfe werden auch von Merkel, Macron, Kurz & Co getragen, aber nur auf offiziellen Pressephotos. In der Tat kommt es nur auf die unterschriebenen Blankoschecks an, damit sich niemand mehr diesem russischen Roulette entziehen könne.
Einen Meilenschritt, einen heißersehnten, haben wir erreicht, auf dem Weg zur Globalisierung und Gleichschaltung des Alten Europas, das früher einmal mit seiner Individualität glänzte. Die Weltregierung des Globus durch die Herrschaft des heimatlosen Kapitals ist in Griffweite gerückt. Auf dem bestens inszenierten 90-Stunden-Marathon haben der Hausherr Macron und Hausmeisterin Merkel den Kult der Schuldenmacherei hoch hinaus auf die übernationale Gemeinschaftsebene gehoben und in die Mogelpackung des Corona-Virus verkleidet. Die 27 Staats- und Regierungschefs haben die alten Finanzlöcher der Südeuropäer zu kitten versucht und den rezenten Sturzflug der Konjunkturkurve mit Virusphrasen argumentiert. Die Berge kreißten und herausgekommen sind Corona-Bonds in der astronomischen Höhe von nicht weniger als 750 Milliarden (davon 390 als geschenkte Zuschüsse).
Bei halbleeren Staatskassen – wer hat soviel Geld?
Auf Kreide natürlich geht es noch eine Weile weiter, dank der Bonität der kleineren, frugalen Länder und in Erinnerung des Wirtschaftswunders, das Deutschland einmal war, und als es noch nicht gänzlich überwandert wurde! Daß die Neuerschaffung der fehlenden Werte aus Sparen (d. h. Konsumverzicht), aus schöpferischer Verpflichtung (d. h. Innovation), mit einem Wort aus Arbeit (d. h. nicht ex nihilo aus Papiergeld) entsteht, darüber wurden nur wenige Worte verloren. Lord John Maynard Keynes (1883–1946) – das Idol aller demokratischen Sozialisten und Möchtegernökonomen – geistert wieder durch das nächtliche Europa. Der nächste Winter und das Virus der Apperzeptionsverweigerung (d. h. nach Heimito von Doderer die Wahrnehmung der Wirklichkeit zu verweigern) kommen bestimmt wieder. Für Arbeitsmoral, Kreativität und Herdenimmunität eines gesunden Volkes braucht man keinen Impfstoff. Verstand, Wille, Moral (und ein wenig Sport) sind vorrangig für die Genesung.
Das größte Finanz- und Rettungspaket in der EU-Geschichte umfaßt aber noch viel mehr Überraschungen! Für den Haushaltsrahmen bis 2027 sind mehr als eine ganze Billion: sage und schreibe stolze tausendvierundsiebzig Milliarden und dreihundert Millionen (1.074.300.000.000) Euro vorgesehen, was auch den romanischen Staats- und Sozial-Regierungschefs die Augen wieder heller leuchten läßt. Zahlen sollen ja die Reicheren. Üblicherweise, versteht sich!
Merkel fühlte sich sehr erleichtert, da sie redlich bemüht war, das Steuergeld ihrer Landsleute verschenken zu dürfen. A priori wurden jedoch keinerlei Konditionen für die Milliardenhilfe aus den Corona-Bonds definiert. Sie wurde jedoch auf feine, politisch korrekte Art als Rettungspaket oder Aufbaufonds benannt. Man verläßt sich auf das Augenmaß der Betroffenen im bewährten Einvernehmen mit dem allerhöchsten EU-Rat… hinter geschlossenen Polstertüren. Auch klar! Über gemeinsame Schulden und Gratisgelder im Detail redet man ungern in der Öffentlichkeit. Diskretion über staatliche Geheimniskrämerei und Halbinformationen sind in der repräsentativen Demokratie über alles angebracht, damit der einfache Wahlbürger dabei nicht allzu viel wissen, denken und lediglich seine Stimme deponieren müsse. Die oberen Zehntausend der Politikaster richten schon alles im Schuldenfaß ohne Boden – über unsere Köpfe.
Die vertraglich festgelegte Schuldenquote deutlich unter 60 % des jeweiligen Brutto-Inlandsprodukts wird nur von den kleineren Ländern wie den Niederlanden, Malta, Luxemburg, den Baltischen Staaten, von den tüchtigen Schweden und Dänen sowie von jenen frugalen, ehemaligen Ostblockländern ernstgenommen wie Polen, Tschechien, Slowakei, aber auch von dem hart um Wohlstand ringenden Ungarn und Kroatien, die allem Anschein nach den Fleiß und den Sparsinn einer üppigen Libertinage vorziehen.
Aus dem Kreise der sogenannten Wirtschafts- und Sozialwissenschaften hat allein die Betriebswirtschaftslehre ethisch genügend fundierte Grundsätze wie die Ehre eines ordentlichen Kaufmannes und so verläßliche, solide, greifbare Werkzeuge wie die Bilanzen der doppelten Buchhaltung. „Politik ist – nach Otto von Bismarck – die Kunst des Möglichen“, unter Wahrung unumstößlicher Prinzipien und Kardinaltugenden, würde ich gern hinzufügen, und ist damit eigentlich ein Fach der Philosophie. Eine reine Politologie ist eine so magere Angelegenheit wie die reine Rechtslehre, da sie außer Statistiken und Demagogie keine Stützen haben. So können sie aber nur Gummiparagraphen, in jeder Hinsicht nur höchst unpräzise Resultate liefern. Sie degradieren die Politische Ökonomie zu einer Pseudowissenschaft, welche über den epistemologischen Status quo der Klimatologie, der Meteorologie, der Volkskunde oder der Soziologie kaum hinausreicht.
«Wealth of Nations»
Heute wird der Wohlstand der Nationen auf den Spuren von Adam Smith (1776) mit dem Begriffspaar BIP & BNE gemessen, die sich jedoch nie exakt ermitteln lassen. Beide sind statistische Hilfsgrößen, die eine täglich wandelbare, komplexe Realität nur unscharf ablichten können. Mangels eines besseren werden sie üblicherweise dennoch fleißig strapaziert, da sie der Größenordnung nach doch eine vermeintliche, vage Richtung anzeigen:
- Das Brutto-Inlandsprodukt (BIP) / engl. Gross Domestic Product zu Marktpreisen ist ein statistisches Maß für die gesamte Leistung einer Volkswirtschaft. Damit wird der Gesamtwert aller Waren und Dienstleistungen gemessen, die innerhalb eines Jahres und innerhalb der Landesgrenzen hergestellt wurden. Die langen Schatten der Schwarzmärkte werden mitgeschätzt und gerundet. Zur Bemessung dieses Gesamtwertes sind nur Güter heranzuziehen, die dem Endverbrauch dienen. Fertig produzierte Güter auf Lager, werden als Veränderung des Vorrats berücksichtigt.
- Das Brutto-Nationaleinkommen (BNE) / engl. Gross National Income ist dagegen die Summe aller innerhalb eines Jahres von Inländern eines Staates erwirtschafteten Einkommen, unabhängig davon, ob diese im Inland oder im Ausland erzielt wurden.
Es ist also allzu ambitiös, solche Datenberge regional, kontinental oder gar weltweit ermitteln zu können. Das Europaparlament verlangt jedenfalls einen Budgetbeitrag von ihren Mitgliedern im Ausmaß von 1,3 % des BNE. Die zahlungskräftigsten Nettozahler, die ins EU-Budget mehr einzahlen, als sie in Form von Subventionen herauskriegen können (also vor allem die Niederländer, Dänen, Schweden, denen sich auch Österreichs windiger, nicht allzu wortfester junger Kanzler angebiedert hat) feilschen nun fleißig um kräftige Rabatte vom obligatorischen Beitrag. Denn sooo… solidarisch ist wiederum keiner – nicht einmal Merkel – von ihnen, daß sie die ausgefallenen Brexit-bedingten Beiträge voll übernehmen wollten. Großbritannien ist mit einem Befreiungsschlag buchstäblich noch im letzten Augenblick davongekommen. Am Zahltag müßte also entweder das gemeinsame Budget ein bißchen kleiner werden oder ein ein bißchen größerer Rabatt für die Musterschüler herausspringen.
Am Rande des allgemeinen Gerangels wäre noch zu erwähnen, daß Verleumdungen & Verfahren gegen die allzu christdemokratischen Polen & Ungarn wegen angeblicher Vertragsverletzung auf die lange Bank geschoben worden sind. Mit diffusen Begriffen hat man die Zeitungsenten juristisch nicht definieren können. Und die zahlreichen Vertragsbrüche, die in der Brüsseler EU-Zentrale begangen werden – sind auch ein üppiges Kapitel für sich, wobei lieber auch dort ein Schwamm darüber angebracht sei.
Die Schuldenquote bezeichnet dagegen die immer exakt zahlbare Staatsverschuldung im Verhältnis zum nebulös formulierbaren Brutto-Inlandsprodukt. Je nachdem ob die Staatsausgaben die Staatseinnahmen übersteigen oder nicht, wird der Saldo als Haushaltsdefizit oder Haushaltsüberschuß bezeichnet. Der Staat benötigt Fremdkapital, um seine Mehrausgaben für die in der Demokratie von Regierenden periodisch angestrebte Wiederwahl (also das permanente Defizit für die Beständigkeit der eigenen Position) finanzieren zu können.
Dieses Fremdkapital mußte bis dato jeder Mitgliedsstaat auf eigene Rechnung und Gefahr über die Ausgabe von Staatsanleihen am Kapitalmarkt selber besorgen. Von nun an werden die sozialistischen Regierungen in Rom und Madrid von Brüssel aus gefüttert.
Staatsanleihen sind fest verzinste Wertpapiere. Die Höhe der Verzinsung wird maßgeblich durch die Bonität (Kreditwürdigkeit) des Kreditnehmers bestimmt. Die Kreditwürdigkeit wird von Rating-Agenturen beinhart eingeschätzt, die den Staaten Bonitätsnoten verleihen. Je zuverlässiger der jeweilige Staat eingeschätzt wird, desto geringer ist die Verzinsung seiner Wertpapiere. Die neuetablierte Europäische Schuldenunion erledigt all das auf Gemeinschaftsebene für die Kreditunwürdigen unter der Garantie der Kreditwürdigeren. Ob das gut gehen kann?
«La rosca política – Das politische Gewinde»

Wenn wir diese treffende Karikatur von Rachel Gold 3 mit einer Redewendung aus dem argentinischen Spanisch interpretieren wollen, dann könnte sie nicht passender die aktuelle Lage der Europäischen Schuldenunion zusammenfassen. Das Herumlavieren der 27 Staats- und Regierungschefs hat das politische Gewinde so lange gedreht, bis sie ermattet die ausgeleierte Ideologie der Solidarität der Kunst des Möglichen vorgezogen haben.
Als Argentinier habe ich damit in meinem Leben 23 Jahre lang schlechte Erfahrungen gemacht und habe ein mulmiges Gefühl bei Erinnerungen an das denkwürdige Jahresende 2001/2002, als unter Federführung der Politikaster eine gebildete und potentiell reiche Nation elend pleiteging. Im Jahr 2002 machte der Anteil der argentinischen Staatsverschuldung in Devisen etwa 92 % des Brutto-Inlandsprodukts aus. Vergleichen wir diese vage, aber dramatische Schlüsselzahl mit den Prozentsätzen in den folgenden Tabellen. Quo vadis Europa? – so bleibt einem die erschrockene Frage in der Kehle stecken.
Staatsverschuldung in Milliarden4 und Schuldenquoten in Relation zum BIP5

In Worten: Zehn Billionen zweihundertfünfzig Milliarden dreihundertachtzig Millionen Euro, wobei Italien, Spanien, Frankreich und Deutschland hoch oben in den Billionen-Wolken schweben.

In Worten: Achthundertneun Milliarden achthundertfünfzig Millionen Euro.

In Worten: Zwölf Billionen achthundertvierundachtzig Milliarden fünfhundertdreißig Millionen Euro.
1 Einigung bei EU-Gipfel „Historischer Tag für Europa“.
2 Flottierende Währungen und Freihandel.
3 EU: Die Schlacht um die Milliarden.
4 Staatsverschuldung in der Europäischen Union.
5 Staatsverschuldung in der EU in Prozent des Bruttoinlandsprodukts.
Deutschland hatte vor ein zwei Jahren fast eine Billion Target-Guthaben, die ganz sicher verloren sind. Es hatte aber auch zwei Billionen eigene Schulden.
Wenn der Finanzminister diese mit jährlich zwanzig Milliarden tilgen wollte, braucht er allein für die Schulden 100 Jahre.
So viel zu den kleineren großen Zahlen.