Der katholischste Oberste Gerichtshof der US-Geschichte

Die Ernennung von Amy Coney Barrett weckt Hoffnungen


Mit Amy Coney Barrett verfügt der Oberste Gerichtshof der USA erstmals nach dem berüchtigten Abtreibungsurteil Roe gegen Wade von 1973 eine konservative Mehrheit.
Mit Amy Coney Barrett verfügt der Oberste Gerichtshof der USA erstmals seit dem berüchtigten Abtreibungsurteil Roe gegen Wade von 1973 über eine echte konservative Mehrheit.

(Washing­ton) Vor vier Tagen, am Abend des 26. Okto­ber, bestä­tig­te der US-Senat die Ernen­nung von Amy Coney Bar­rett zur Rich­te­rin am Ober­sten Gerichts­hof. Die 48jährige Juri­stin und Mut­ter von sie­ben Kin­dern ist damit auf Lebens­zeit eine der neun Höchst­rich­ter der USA und zugleich die jüng­ste Rich­te­rin. Dem bedeu­tend­sten Rich­ter­se­nat gehö­ren nur mehr drei Rich­ter an, die von den demo­kra­ti­schen Prä­si­den­ten Bill Clin­ton und Barack Oba­ma ernannt wurden.

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Am Ende eines letz­ten 30 Stun­den dau­ern­den Mara­thons stimm­te die Mehr­heit des Senats mit 52 zu 48 Stim­men für die Nomi­nie­rung Bar­retts. Die Sena­to­ren folg­ten streng der Par­tei­zu­ge­hö­rig­keit, obwohl sie an kei­ne Frak­ti­ons­dis­zi­plin gebun­den sind. Ein­zig die repu­bli­ka­ni­sche Sena­to­rin Susan Coll­ins, die den Staat Maine ver­tritt, stimm­te gegen Bar­rett, aller­dings nicht aus inhalt­li­chen, son­dern aus ver­fah­rens­tech­ni­schen Grün­den, wie sie erklär­te wohl­wis­send, damit deren Ernen­nung nicht zu blockieren.

Bar­rett ist damit die fünf­te Stim­me für eine erst­mals soli­de kon­ser­va­ti­ve Mehr­heit am Gerichts­hof seit über einem hal­ben Jahr­hun­dert. Auf dem Papier bestand die­se zwar bereits seit der 2018 erfolg­ten Beru­fung von Brett Kava­n­augh, nun aber ohne auf die unsi­che­re Stim­me von John Roberts ange­wie­sen zu sein. Soll­te Trump am kom­men­den Diens­tag wie­der­ge­wählt wer­den, wofür eini­ges spricht, bekommt er viel­leicht sogar die Gele­gen­heit, einen vier­ten Rich­ter zu ernen­nen. Der mit 82 Jah­ren älte­ste Rich­ter Ste­phen Brey­er, der 1994 von Bill Clin­ton ernannt wur­de, ist auch ein Ver­tre­ter der schrump­fen­den Links­frak­ti­on. Sie hat­te 1973 im berüch­tig­ten Urteil Roe gegen Wade mit sie­ben gegen zwei Stim­men die Abtrei­bung lega­li­siert und seit­her ihre Mehr­heit am Höchst­ge­richt ver­tei­digt.
Grund dafür war, daß die Demo­kra­ten in dem Jahr­zehnt von 1959 bis 1969 über eine so star­ke Mehr­heit im US-Senat ver­füg­ten, daß sie zusam­men mit demo­kra­ti­schen Prä­si­den­ten nicht nur im Allein­gang, son­dern unter Aus­schal­tung der Oppo­si­ti­on Ernen­nun­gen durch­set­zen konnten.

Prekäre Situation nach dem Tod Scalias 2016

Dabei sah die Lage Anfang 2016 noch ganz anders aus. Der uner­war­te­te Tod von Rich­ter Anto­nin Sca­lia hat­te das Gewicht wei­ter nach links ver­scho­ben. Fünf „libe­ra­len“ Rich­tern stan­den nur mehr drei kon­ser­va­ti­ve Rich­ter gegen­über, von denen einer der „gemä­ßig­te“ Kon­ser­va­ti­ve John Roberts war. „Gemä­ßigt kon­ser­va­tiv“ wird am Ober­sten Gerichts­hof ein unsi­che­rer Kan­to­nist genannt, der dazu neigt, mit der lin­ken Mehr­heit zu stim­men. Im Zwei­fels­fall stand das Ver­hält­nis 2016 also sogar sechs zu zwei zu Ungun­sten der Kon­ser­va­ti­ven. Vor allem regier­te damals noch Barack Oba­ma, dem Sca­li­as Tod die Chan­ce in die Hand zu spie­len schien, am Ober­sten Gerichts­hof eine „struk­tu­rel­le“ Links­wen­de her­bei­zu­füh­ren, wie sie man­che Krei­se bereits bejubelten.

Im Senat ver­füg­ten die Repu­bli­ka­ner jedoch, anders als in den 60er Jah­ren, über eine aus­rei­chend star­ke Posi­ti­on, das Nomi­nie­rungs­ver­fah­ren so lan­ge zu ver­zö­gern, daß erst der neu­ge­wähl­te Prä­si­dent Donald Trump 2017 die Sca­lia-Nach­fol­ge regeln konnte.

Die Libe­rals, wie die poli­tisch Links­ge­neig­ten in den USA genannt wer­den, sind über den Ver­lust ihrer bis­he­ri­gen Hoch­burg außer Rand und Band. Ihr Kan­di­dat Joe Biden wird auf­ge­for­dert, soll­te er die Wahl gewin­nen und soll­ten die Demo­kra­ten auch im Senat eine Mehr­heit errin­gen, den Ober­sten Gerichts­hof durch Auf­stockung der Rich­ter­zahl so zu „refor­mie­ren“, daß wie­der eine lin­ke Mehr­heit sicher­ge­stellt wird. Theo­re­tisch ist das mög­lich, weil die US-Ver­fas­sung die Zahl der Rich­ter nicht fest­legt. Seit 1869 sind es jedoch deren neun, wes­halb eine Ände­rung einen schwe­ren Ein­griff bedeu­ten wür­de in einem Land, in dem auf for­ma­le Tra­di­tio­nen der Staats­or­ga­ne beson­de­rer Wert gelegt wird. Die Tat­sa­che, daß die ame­ri­ka­ni­sche Rech­te jahr­zehn­te­lang selbst­ver­ständ­lich eine lin­ke Mehr­heit am Höchst­ge­richt zu erdul­den hat­te (und auch tat­säch­lich ruhig erdul­de­te), was die Lin­ke umge­kehrt für inak­zep­ta­bel hält, bie­tet Ein­blick in das Rechts- und Demo­kra­tie­ver­ständ­nis, aber auch das Staats­ver­ständ­nis. Eine Erwei­te­rung des Rich­ter­se­nats scheint den­noch unwahr­schein­lich, da es der sehr hohen for­ma­len Sta­bi­li­tät bestimm­ter Ver­fas­sungs­or­ga­ne wider­spre­chen würde.

Der Sitz des Ober­sten Gerichts­hofs der USA in Washington

Trumps schnelles und effizientes Handeln

Die Ernen­nung Bar­retts begei­stert hin­ge­gen Ame­ri­kas Kon­ser­va­ti­ve und dar­über hin­aus. Trump gilt als der lebens­freund­lich­ste Prä­si­dent der jün­ge­ren US-Geschich­te. In den bis­her drei Ver­fah­ren zur Ernen­nung neu­er Höchst­rich­ter han­del­te Trump zusam­men mit dem repu­bli­ka­ni­schen Vor­sit­zen­den des Justiz­aus­schus­ses, Sena­tor Lind­sey Gra­ham (South Caro­li­na), und dem repu­bli­ka­ni­schen Mehr­heits­füh­rer im Senat, Sena­tor Mitch McCon­nell (Ken­tucky), schnell, gezielt und unbe­ein­druckt von der Obstruk­ti­ons­po­li­tik der Demo­kra­ten und von außer­par­la­men­ta­ri­schen lin­ken Querschüssen.

Ihnen gelang es in nur vier Jah­ren eine pre­kä­re Min­der­hei­ten­si­tua­ti­on in eine soli­de kon­ser­va­ti­ve Mehr­heit umzu­dre­hen. Das jüng­ste Ernen­nungs­ver­fah­ren dau­er­te vom Frei­wer­den eines Sit­zes bis zur Ver­ei­di­gung Bar­retts nur 38 Tage.

Amy Coney Bar­rett erwies sich dabei für das Nomi­nie­rung­ver­fah­ren als sehr glück­li­che Wahl: als Frau, sym­pa­thisch, aner­kann­te Juri­stin, Mut­ter von fünf eige­nen Kin­dern und zwei Adop­tiv­kin­dern, die bei­de schwarz sind (in Zei­ten von Black Lives Mat­ter von beson­de­rer Bedeu­tung), einem Kind mit einer Behin­de­rung, was ihre Sen­si­bi­li­tät für das Lebens­recht unge­bo­re­ner Kin­der unter­streicht. Das alles mach­te es den Demo­kra­ten sehr schwer bis unmög­lich jene bru­ta­le Schmutz­kam­pa­gne zu wie­der­ho­len, die 2018 das Nomi­nie­rungs­ver­fah­ren von Kava­n­augh über­schat­tet hat­te. Die Fang­fra­gen demo­kra­ti­scher Sena­to­ren bei den zer­mür­ben­den Anhö­run­gen parier­te Bar­rett gekonnt.

Vom katholischen Sitz zur katholischen Mehrheit

Auch die reli­giö­se Zusam­men­set­zung am Höchst­ge­richt hat sich in den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten auf grund­le­gen­de Wei­se ver­scho­ben. Als 1973 das Urteil Roe gegen Wade gefällt wur­de, waren acht von neun Höchst­rich­tern Pro­te­stan­ten, nur einer Katho­lik. Seit Mon­tag besteht der Rich­ter­se­nat aus sie­ben Katho­li­ken und zwei Juden. Auch Bar­rett ist Katho­li­kin, was ihr in unter­grif­fi­gen Kom­men­ta­ren und auch bei der Senats­an­hö­rung zum Vor­wurf gemacht wur­de. Am bis­sig­sten war dabei die jüdi­sche Sena­to­rin Dian­ne Fein­stein aus Kali­for­ni­en. Wenn in der Ver­gan­gen­heit Anhö­run­gen von demo­kra­ti­schen Kan­di­da­ten statt­fan­den, the­ma­ti­sier­te kein Sena­tor die Religionsfrage.

Fünf der sie­ben katho­li­schen Rich­ter sind kon­ser­va­tiv, einer ist gemä­ßigt kon­ser­va­tiv und eine libe­ral.

Mit der Ver­ei­di­gung von Amy Coney Bar­rett durch Prä­si­dent Trump, die noch am Mon­tag erfolg­te, gibt es den katho­lisch­sten Ober­sten Gerichts­hof der US-Geschich­te. Bis vor einem hal­ben Jahr­hun­dert waren Katho­li­ken als Kan­di­da­ten für einen höchst­rich­ter­li­chen Stuhl kaum exi­stent. In den ersten hun­dert Jah­ren des 1789 errich­te­ten Ver­fas­sungs­or­gans gab es dort nur einen ein­zi­gen Katho­li­ken. Erst ab 1894 ent­wickel­te sich das unge­schrie­be­ne Gesetz den Katho­li­ken zumin­dest einen Sitz zuzu­ge­ste­hen. Dabei blieb es bis zur Ernen­nung von Anto­nin Sca­lia durch Ronald Rea­gan im Jahr 1986. 

Das Höchst­ge­richt war 200 Jah­re lang eine exklu­si­ve pro­te­stan­ti­sche Domä­ne. Kaum zu glau­ben, wie schnell und grund­le­gend sich die Ver­hält­nis­se seit 1986 ver­än­dert haben. Aus­ge­rech­net die repu­bli­ka­ni­schen Prä­si­den­ten waren es, die auf der Suche nach geeig­ne­ten Rich­tern die Katho­li­ken aus der Paria-Posi­ti­on befrei­ten, obwohl die­se bis zur Rea­gan-Ära als beson­ders treue Wäh­ler der Demo­kra­ten gal­ten. Die demo­kra­ti­schen Prä­si­den­ten setz­ten seit Clin­ton hin­ge­gen vor­wie­gend auf jüdi­sche Rich­ter, um die lin­ke Posi­ti­on am Gerichts­hof zu stär­ken. Die ame­ri­ka­ni­schen Juden ver­füg­ten seit 1916 über eine Ein-Sitz-Rege­lung wie die Katho­li­ken, waren aber von 1969 bis zum ersten Man­dat von Bill Clin­ton nicht mehr am Höchst­ge­richt prä­sent. Bis zum Tod von Rich­te­rin Ruth Bader Gins­burg am ver­gan­ge­nen 18. Sep­tem­ber waren die jüdi­schen Rich­ter hin­ge­gen mit drei Sit­zen pro­por­tio­nal noch weit über­re­prä­sen­tier­ter als die Katho­li­ken heu­te. Auf­fal­lend ist zudem, daß der Pro­te­stan­tis­mus seit 1990 offen­bar nicht mehr als geeig­ne­tes Reser­voir für Höchst­rich­ter ange­se­hen wird. Clin­ton, Bush Juni­or und Oba­ma ernann­ten nur Katho­li­ken und Juden zu Höchst­rich­tern, Trump aus­schließ­lich Katho­li­ken. 1990 war mit David Sou­ter von Bush Seni­or der letz­te pro­te­stan­ti­sche Rich­ter beru­fen wor­den. Mit John Paul Ste­vens ist 2010 der letz­te Pro­te­stant aus­ge­schie­den. Dabei gab es bis­her mit dem Demo­kra­ten John F. Ken­ne­dy erst einen US-Prä­si­den­ten der Katho­lik war.

Libe­ra­ler Rich­ter­se­nat 1973 beim Urteil Roe gegen Wade: Nur zwei Rich­ter ver­tei­dig­ten das Lebensrecht

Große Chancen

Nun liegt es an dem neu­ge­form­ten Rich­ter­se­nat an der Weg­ga­be­lung die Chan­ce zu nüt­zen, eine Grund­satz­ent­schei­dung zwi­schen ius quia iustum (Recht, weil gerecht) oder ius quia iuss­um (Recht, weil ange­ord­net) zu tref­fen, ob das Gesetz nach dem Rechts­prin­zip der Gerech­tig­keit oder nur als tech­ni­sche Ver­fah­rens­fra­ge zu behan­deln ist. So besteht auch die Mög­lich­keit, dem über­kom­me­nen Rechts­grund­satz Lex ini­u­s­ta non est lex (unge­rech­tes Recht ist kein Recht) neue Leben­dig­keit ein­zu­hau­chen und ihn für den Gesetz­ge­ber wider­hal­len zu las­sen. Denn das Gesetz muß im Wesent­li­chen dem Natur­recht ent­spre­chen und will­kür­li­che Rechts­set­zun­gen aus­schlie­ßen, selbst dann, wenn das Gesetz­ge­bungs­ver­fah­ren for­mal ord­nungs­ge­mäß erfolgt sein sollte. 

Die Hoff­nun­gen kon­zen­trie­ren sich nun vor allem auf eine Über­win­dung des ver­häng­nis­vol­len Urteils Roe gegen Wade, das am Gesetz­ge­ber vor­bei die Tötung unge­bo­re­ner Kin­der in den USA erlaub­te. Die­ses Urteil, wie ins­ge­samt die Lebens­rechts­fra­ge, ist der Lack­mus­test, an dem sich zeigt, ob die Fehl­ent­wick­lun­gen nach 1968 kor­ri­giert wer­den können.

Der neue Rich­ter­se­nat hat eine histo­ri­sche Gele­gen­heit, im Inter­es­se des Gemein­woh­les, einem falsch ver­stan­de­nen schran­ken­lo­sen Rechts­po­si­ti­vis­mus, der die Rechts­ord­nun­gen seit dem frü­hen 20. Jahr­hun­dert aus­höhlt, kla­re Gren­zen zu setzen.

Text: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: CR/​Wikicommons

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