
(Brasilia) Das Buch ist soeben in Brasilien auf portugiesisch erschienen und kam heute in den Buchhandel. Es betrifft aber Haiti, den westlichen Teil der Karibikinsel Hispaniola. Thema ist der sexuelle Mißbrauch durch vorwiegend homosexuelle Kleriker, die sich das Elend und die geringe internationale Aufmerksamkeit zunutze gemacht hätten. Das Buch bedient einige antiklerikale Klischees und wird, wie sich schon zeigt, von bestimmten Kreisen begehrlich aufgegriffen. Einige Verallgemeinerungen sind zurückzuweisen, verschiedene Angaben sind dürftig belegt. Dennoch wird man das Buch ernst nehmen müssen. Das Verdienst der Autorin ist es, nachgefragt und nachgebohrt zu haben, wo sich manche unerkannt und ungefährdet glaubten.
Die einstige französische Kolonie war nach den USA das zweite Land überhaupt und das erste mehrheitlich schwarze Land Amerikas, das unabhängig und souverän wurde. Nach einem Sklavenaufstand war 1804 die Republik ausgerufen worden. 216 Jahre später ist Haiti das Armenhaus auf dem Doppelkontinent. Die Geschichte der „ersten freien schwarzen Republik“ liest sich als eine einzige politische, wirtschaftliche und soziale Katastrophe. Dem setzt das neue Buch „A Cruz haitiana“ (Das haitianische Kreuz, Editorial Tagore) von Iara Lemos, Journalistin der führenden linksliberalen Tageszeitung Brasiliens Folha de São Paulo, noch eine Katastrophe in der Katastrophe drauf.
Lemos‘ Reportage und zugleich Anklage berichtet, daß katholische Priester die Hilfsbedürftigkeit in Haiti ausgenützt haben, um Minderjährige zu mißbrauchen.
In den vergangenen Jahren wurde ein wenig der Deckel gehoben, unter dem die Schandtaten prominenter Pädophiler und international operierender Pädophilenringe verborgen werden. Der Fall Epstein verschaffte ein wenig Einblick. Was bekannt wurde, sei nur ein Tropfen auf den heißen Stein, sagen Experten. Iara Lemos erhebt den Anspruch, ein weiteres Kapitel aufzudecken. Für pädophile Priester sei Haiti nach dem Sturz der Diktatorendynastie Duvalier zu einem Eldorado geworden, um ihre perversen Neigungen straflos ausleben zu können. Sie seien dabei durch ein innerkirchliches Pädophilennetzwerk mit Einfluß in der örtlichen Hierarchie, aber auch durch haitianische Politiker gedeckt worden.
Armut, Elend, mangelnde Bildung, Hilfsbedürftigkeit, Korruption, fehlende Kontrolle und eine nicht funktionierende Justiz hätten „ideale“ Voraussetzungen geboten, „um jede Art von Mißbrauch zu begehen“, so Folha de São Paulo gestern.
Die Autorin behauptet, daß Haiti zum bevorzugten Ziel von Priestern mit einschlägigen Neigungen und oft auch einschlägiger Vergangenheit wurde.
Iara Lemos läßt aus den schwerwiegenden Verfehlungen einzelner wiederholt eine Generalanklage gegen die Kirche durchklingen. Der Untertitel kündigt diese bereits an: „Wie die Katholische Kirche ihre Macht gebrauchte, um pädophile Geistliche in Haiti zu verstecken“. In diesem Punkt ist Vorsicht angebracht. Läßt man Aussagen weg, die zu verallgemeinernd, nebulös und aufgebauscht klingen, geht es um individuelle Schuld und menschliche Abgründe, nämlich genau dort, wo Lemos ganz konkret wird.

Das Buch ist das Ergebnis von „zehn Jahren Recherche“, so die Autorin, die Reporterin der Hauptstadtausgabe des Folha de São Paulo ist. Die von ihr zusammengetragenen Fälle betreffen einen Zeitraum von 30 Jahren.
„Das sind Kriminelle, die nicht nur die Armut, sondern auch die Verwundbarkeit der Kinder in der haitianischen Kultur ausnützten, die dort als Haussklaven und Wechselgeld eingesetzt werden“, so Lemos.
„Die Kirche“ habe ihre „Macht zugunsten der Vergewaltiger eingesetzt“. Diesen sei die kulturelle Situation in Haiti zugutegekommen. Auf Haiti haben sich afrikanische Traditionen bewahrt. „Der Großteil der haitianischen Bevölkerung sind Voodoo-Anhänger“. Die Gesellschaft sei durchdrungen von „okkulten Ritualen, die meist nachts stattfinden“. Voodoo sei die „Religion der Nacht“, die katholische Religion im Gegensatz dazu die „Religion des Tages“, die Hilfe und Unterstützung für die bedürftige Bevölkerung bringt, die Ausbildung fördert und Schulen errichtet. Das schaffe Vertrauen, das schwarze Schafe mit böser Absicht ausnutzen.
„Die häufigste Form des Mißbrauchs erfolgt auf der Basis von Gegenleistungen: Sex für Essen, Sex für Medizin“, so Iara Lemos.
Objekt der Begierde „dieser Kleriker sind Straßenkinder, von denen es in Haiti viele gibt“. Die Autorin schildert den Fall eines vergewaltigten Jungen, „der von einem Priester mit einer Waffe zum Sex gezwungen wurde“.
Iara Lemos berichtet, erstmals 2008 für eine Reportage nach Haiti, in die Stadt Jérémie, gekommen zu sein. Sie begleitete mehrere Tage brasilianische Ordensfrauen bei ihrer Mission. Dabei hörte sie erstmals von Mißbrauchsfällen.
In den folgenden Jahren begann sie Material zu sammeln und Dokumente im Vatikan, in Kanada und in den USA zu sichten. Vor allem dokumentierte sie mit Hilfe des haitianischen Journalisten Ciro Sibert Zeugnisse von Opfern. Sibert hatte in Haiti die ersten Mißbrauchsanzeigen gegen Kleriker eingebracht „und sich damit den Zorn der Kirchenführer zugezogen“. Er habe schließlich wegen erhaltener Drohungen mit seiner Familie Haiti verlassen müssen.
Ein anderer Unterstützer von Iara Lemos ist der US-Anwalt Mitchell Garabedian, der Opfer von Priestern im Erstbistum Boston und anderen US-Bistümern vertritt. Sein Einsatz für die Opfer homosexueller Kleriker im Erzbistum Boston wurde vom Boston Globe bekanntgemacht, woraus 2015 der preisgekrönte Film Spotlight entstand.
Die ersten Fälle, die Lemos dokumentiert, ereigneten sich Anfang der 90er Jahre. Sie geht von „Hunderten von Opfern“ aus. Einige Fälle wurden international bekannt, andere sind es nur in Haiti. Weltweites Aufsehen erregte der Fall des Apostolischen Nuntius Jozef Wesolowski, der von 2008 bis 2013 päpstlicher Botschafter für Haiti und die Dominikanische Republik war. „Er hat Straßenjungen in beiden Staaten mißbraucht, die ihm von anderen Kirchenvertretern zugeführt wurden.“
Als dominikanische Medien Anschuldigungen gegen ihn erhoben, verließ er das Land mit einem falschen Paß und kehrte in den Vatikan zurück. Er wurde seines Amtes enthoben und festgenommen, „der Prozeß gegen ihn sei jedoch langsam und wenig transparent gewesen“. Wesolowski wurde 2015 in seiner Unterkunft tot aufgefunden.
Lemos berichtet auch von Orden, die als Kinderschänder auffällig gewordene Ordensangehörige nach Haiti „abschoben“, weil das außerhalb des Radars liegt.
Die Autorin beklagt den Zustand aus Armut und Gewalt, in dem sich Haiti befindet. Das habe „kriminelle Kleriker“ angezogen. Das Buch schmerzt. Es soll schmerzen. Und es wird von kirchenfeindlichen Kreisen ausgenutzt werden. Dennoch: Es ist eine Gelegenheit und ein Auftrag, unabhängig davon, ob jedes Detail darin stimmt, die notwendige Reinigung der Kirche von der Homohäresie energisch anzugehen und das Missionswerk gegen die „Religion der Nacht“ in Haiti noch tatkräftiger und überzeugender voranzutreiben.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons