Am vergangenen 5. Juni ist in Rom, kurz vor seinem 90. Geburtstag, Kardinal Elio Sgreccia verstorben. Er war ein Pionier der Bioethik und viele Jahre Präsident der Päpstlichen Akademie für das Leben. Der Kardinal war zudem Autor zahlreicher, wichtiger Veröffentlichungen, darunter ein Handbuch der Bioethik, das als internationales Standardwerk gilt. Im Bereich der Anthropologie befaßte er sich vor allem mit dem Beginn und dem Ende des Lebens und spielte eine wichtige Rolle in dem neu entstehenden Fachgebiet der Bioethik, die er fest in der jahrhundertealten ethisch-anthropologischen Denken des Thomismus verankerte.
Marisa Orecchia läßt in ihrem Nachruf für die Corrispondenza Romana auch kritische Aspekte nicht unerwähnt. Es „schmerze“ angesichts der vielen Verdienste des Kardinals, daran erinnern zu müssen, so Orecchia, daß Kardinal Sgreccia viele Jahre die „Kompromißstrategie“ des Europaabgeordneten und Vorsitzenden der italienischen Bewegung für das Leben (MplV), Carlo Casini, unterstützte.
1997 hatte sich auf Einladung der Stiftung von Casini eine Gruppe von Abgeordneten zusammengefunden, um einen „katholischen“ Gesetzentwurf zur künstlichen Befruchtung auszuarbeiten. Kardinal Sgreccia ließ sich durch eine Vertraute in der Gruppe vertreten. Der Gesetzentwurf wurde somit unter seiner Aufsicht ausgearbeitet und fand seine Zustimmung. Zur Ablehnung der heterologen Insemination (Befruchtung mit Spermien fremder Männer) und anderer Wild-West-Methoden unterstützte der Entwurf die homologe Insemination (Befruchtung mit Spermien des eigenen Mannes).
Der Entwurf wurde am römischen Priesterseminar Capranica vom katholischen Familienforum vorgestellt und Teil eines katholischen Manifests zur künstlichen Befruchtung. Es handelte sich somit in jeder Hinsicht um das, was Außenstehende als katholischen Vorschlag in der Frage verstanden. Die Verantwortlichen, letztlich somit auch Kardinal Sgreccia, weigerten sich, die In-Vitro-Fertilisation (IVF) kategorisch abzulehnen. Sie folgten dabei zweifellos dem, was „politischer Realismus“ genannt wird. Als Politiker, die mit den parlamentarischen Verhältnissen vertraut waren, suchte die Gruppe eine Strategie, die Erfolgsaussichten bot.
Orecchia spricht hingegen von einem „opportunistischen Kurs“, mit dem der Embryonenschutz geopfert wurde. Die künstliche Befruchtung nimmt generell in Kauf, daß der Großteil der Embryonen geopfert werden. Die In-vitro-Fertilisation bedeutet sogar ein Massaker unter den Embryonen. Dabei wurde in Italien die Zahl der befruchteten Eizellen, die der Frau eingesetzt werden können, auf drei begrenzt. In anderen Ländern fehlt jede Beschränkung – mit den entsprechenden Folgen.
„Noch schwerwiegender“, so die Autorin, sei aber der Verzicht gewesen, die ganze Wahrheit zu sagen. Der Gesetzentwurf besaß die Zustimmung des mit der Sache vertrauten Kirchenfürsten. Die Bischofskonferenz stellte sich dahinter und die Tageszeitung der Bischofskonferenz unterstützte den Entwurf. Für Außenstehende mußte er also „gut“ sein. Das galt vor allem für die Katholiken, die Orientierung suchten.
Eine Diskussion des Entwurfes wurde nicht geduldet. Kritiker wurden durch Zensur und Behinderung zum Schweigen gebracht. Das galt vor allem innerhalb der Lebensrechtsbewegung, wie sie damals organisiert war. Nicht alle ließen sich den Mund verbieten und suchten die Schweigespirale zu durchbrechen. Sie verwiesen auf das Naturrecht und das Gemeinwohl der Gesellschaft.
Kardinal Sgreccia verteidigte energisch den „gefundenen Kompromiß“, wie ein Artikel aus seiner Feder im Osservatore Romano vom 8. April 1998 belegt. Ihm gab er die Überschrift: „Für ein bedeutendes Gesetz zur künstlichen Befruchtung“. Der Artikel wurde von anderen katholischen Medien ganz oder teilweise übernommen. Nur wenige wagten zumindest die Anmerkung, daß die katholische Lehre nach wie vor von den katholischen Paaren verlangt, daß jeder Mensch durch einen verantwortungsvollen und persönlichen Liebesakt gezeugt wird, der in der Fülle der ehelichen Hingabe zum Ausdruck kommt.
Kritische Anmerkungen zu den tieferen anthropologischen und kulturellen Gründen, die gegen die IVF sprechen, zu dem bei künstlicher Befruchtung in hoher Zahl auftretenden Frühabortus, auch bei der homologen Insemination, und zur Zersetzung der Familie, die durch die heterologe Insemination gefördert wird, waren selten und auch gar nicht erwünscht.
Das Gesetz enthält noch einen schwerwiegenden Defekt: Es fehlt jeder Hinweis auf ein Recht der Verweigerung aus Gewissensgründen, das im Abtreibungsgesetz von 1979 für Ärzte und anderes medizinisches Personal noch festgeschrieben wurde.
Es sei, so Orecchia, bei aller Nachsicht notwendig, auch diesen Teil aus dem Leben von Elio Kardinal Sgreccia zu berichten.
Der Christdemokrat Carlo Casini von Beruf Rechtsanwalt, dann Staatsanwalt und schließlich Richter am Obersten Gerichtshof, war von 1979 bis 1994 Abgeordneter zum Italienischen Parlament und von 1984 bis 2009 auch Abgeordneter zum Europäischen Parlament. Dort vertrat er zunächst die Democrazia Cristiana (DC) und nach deren Zusammenbruch 1992 verschiedene Nachfolgeparteien. Dem langjährigen Vorsitzenden der italienischen Lebensrechtsbewegung wurde der Vorwurf gemacht, die Lebensrechtsbewegung für die regierende Politik zu kontrollieren und niederzuhalten, nachdem sich Christdemokraten und Bischofskonferenz mit dem „Abtreibungskompromiß“ von 1979 abgefunden hatten.
Die Diskussion bzw. Nicht-Diskussion, die zum Gesetz von 1997 zur künstlichen Befruchtung stattfand, wurde zur Initialzündung, daß sich die Lebensschützer aus der „Obhut“ von Casinis Movimento per la Vita (MplV) emanzipierten. Die Lebensrechtsbewegung konstituierte sich außerhalb in neuen Organisationen. Auf diesen Neuanfang in Unabhängigkeit geht der Marsch für das Leben zurück, der seit 2012 auch in Italien stattfindet.
Carlo Casini war bis Ende 2016 Mitglied der Päpstlichen Akademie für das Leben. Dann wurde auch er wie alle anderen Mitglieder, obwohl auf Lebenszeit ernannt, im Auftrag von Papst Franziskus vor die Tür gesetzt. Das ist allerdings ein ganz anderes, wenig erfreuliches Kapitel.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Correspondenza Romana