(Rom) Ist Papst Franziskus ein Paradox? Die Frage bejaht der Religionssoziologe Luca Diotallevi und erklärt in seinem neuen Buch warum.
In den ersten fünf Monaten des Jahres absolvierte oder absolviert Papst Franziskus mehr Reisen als zuvor in einem ganzen Jahr. Er war in Panama, in den Vereinigten Arabischen Emiraten, in Marokko und wird noch Bulgarien, Mazedonien und Rumänien besuchen… In den folgenden Monaten sind weitere Reisen nach Afrika und Asien geplant. Nicht nur deshalb ist er ein „internationaler Star“. Eine der Kernthesen Diotallevi lautet: Das Image der katholischen Kirche wird immer stärker mit der Person des regierenden Papstes identifiziert und mit seinem „planetarischen Erfolg“.
Der Vatikanist Sandro Magister stellte das Buch „Das Paradox Papst Franziskus. Die Säkularisierung zwischen religiösem Boom und der Krise des Christentums“.
Vom ersten Auftreten als Kirchenoberhaupt am Abend des 13. März 2013 gehörte ihm die Zustimmung der Medien. Aus der Zustimmung der Medien wurde jene breite Popularität, die er genießt, und das nicht nur bei Gläubigen – oder anders formuliert: gerade nicht bei Gläubigen.
In einigen Ländern, so jüngst in den USA, ist sein Ansehen zwar deutlich gesunken, doch solange ihm der Zuspruch und der Schutz des Mainstreams sicher ist, bedeutet das keinen wirklichen Einbruch. Während die Popularität von Franziskus in den Sternen liegt, erlebt die katholische Kirche eine nie dagewesene Krise. Der „Erfolg“ von Papst Franziskus steht ein unübersehbarer „Mißerfolg“ der Kirche gegenüber. Diese Dichotomie nennt Diotallevi, das „Paradox Franziskus“. Den Religionssoziologen ist dieses Phänomen nicht entgangen, aber kaum jemand hat sich bisher daran gewagt, es zu analysieren.
Luca Diotallevi ist Professor der Soziologie an der Universität Roma Tre und war Senior Fellow am Center for the Study of the World Religion der Harvard Divinity School. Während des Pontifikats von Benedikt XVI. gehörte er in politikwissenschaftlichen und soziologischen Fragen zu den Beratern der Italienischen Bischofskonferenz.
In seinem Buch geht er zunächst der Frage nach der Gültigkeit des klassischen Paradigmas der Säkularisierung nach. Es besagt: „Je weiter die Moderne voranschreitet, desto mehr wird die Religion marginalisiert oder verschwindet sogar, und mit ihr das Christentum“.
Diotallevi kommt zu einem differenzierten Schluß: Dieses alte Paradigma funktioniere in vielen Fällen, aber nicht in allen, wie zum Beispiel Papst Franziskus zeige. Die klassischen, analytischen Instrumente bewähren sich in den erstgenannten Fällen, während Diotallevi für die gegenläufigen Tendenzen, eben wie die Person von Papst Franziskus, die Theorie der funktionalen Differenzierung des deutschen Soziologen und Gesellschaftstheoretikers Niklas Luhmann (1927–1998) für sehr geeignet hält. Die Betonung dieser Theorie, der Diotallevi breiten Raum widmet, liegt auf der Kommunikation. In der Ausdifferenzierung der „modernen“ Gesellschaft bedürfe es jeweiliger „Fachsprachen“, die Gesetze für die Politik, die Urteile für die Justiz, die Währung für die Wirtschaft usw. Daraus erklärt sich, so der Soziologe, warum beim Zweiten Vatikanischen Konzil und in der Nachkonzilszeit die Liturgie im Mittelpunkt stand, an die von den einen Hand angelegt wurde, wogegen sich die anderen wehrten, denn sie ist die Sprache der Kirche. Allerdings, so Diotallevi, sei der Ritus in einer sich immer mehr modernisierenden Gesellschaft nicht die einzige mögliche Kommunikationsschiene.
Auch für Luhmann bedeutet, im Sinne des klassischen Paradigmas, die voranschreitende Säkularisierung den Niedergang und das Verschwinden der Religionen „konfessionellen“ Typs. Diotallevi stimmt zu und verweist, daß sich diese tatsächlich im westlichen Kontext überall in der Krise befinden. Die Religionen und besonders die Katholizität sei aber nicht immer und ausschließlich auf dieses Modell reduzierbar.
Heute lasse sich weltweit ein religiöser Boom feststellen, der nicht „konfessionell“ sei, sondern „eine sehr moderne, selektive Wiedergewinnung der Traditionen“. Dieses Phänomen weise „einen absoluten Vorrang der religiösen Nachfrage vor dem religiösen Angebot“ auf.
Diotallevi spricht von einer „low intensity religion“, einer „Religion niedriger Intensität“, die das „aktuelle große sozialreligiöse Theater“ beherrscht. Davon sei inzwischen auch der Katholizismus betroffen. Diese Entwicklung ignoriert Verbote und Hindernisse, die sich dem individuellen, religiösen Konsum in den Weg stellen. Sie ignoriert ebenso doktrinelle und moralische Vorgaben, die das Leben des Einzelnen und der Gesellschaft leiten sollen. Vor allem erkennt das Individuum kaum Entscheidungen einer religiösen Autorität mehr an, die es selbst betreffen. Gehorsam war gestern. Die regelmäßige Teilnahme an Riten geht zurück, während der individuelle Konsum derselben zunimmt. Das mache das Phänomen unberechenbar und schwer organisierbar.
Die Entwicklung wendet sich, so Diotallevi, gegen das Kirchenmodell, das vom Zweiten Vatikanischen Konzil und von Papst Paul VI. gewollt war. Sie planten eine Kirche „für eine offene Gesellschaft und der Gewissensfreiheit“, eine Kirche, die imstande sei, einen „hohen Grad an Autonomie und extrareligiöser Relevanz“ zu kombinieren. So scharfsinnig er ansonsten analysiert, in diesem Punkt wird der Soziologe etwas blauäugig. Das Konzil erfüllt heute vor allem einen Zweck, den des Gesinnungstests. Kritik ist an allem erlaubt, aber nicht am Konzil.
Weder Johannes Paul II. noch Benedikt XVI. hätten, so Diotallevi, diesem Projekt des Konzils und Pauls VI. ausreichend Substanz gegeben, doch dann kam der „revolutionäre“ Rücktritt von Benedikt XVI. Er habe die jahrhundertelange Epoche der „konfessionellen“ katholischen Kirche beendet und den Weg freigemacht für eine neue Beziehung des Katholizismus mit der Moderne.
Das Ergebnis sei Papst Franziskus, dessen „Erfolg“ unter das Stichwort „religous celeberity“ fällt. Das sei nicht besonders originell, werde aber bewußt vom Medienapparat, der ihn umgibt, angefacht – und das ohne die Effizienz zu prüfen und ohne auf den Preis zu achten. Vor allem weise diese Entwicklung eine gefährliche Tendenz auf: Sie fördere ganz im Sinne des aktuellen religiösen Booms den Hang, Religion zu verdinglichen und zur Ware zu machen.
Der zweite Faktor des Erfolgs von Papst Franziskus liege laut Diotallevi darin, durch Neuorientierung der Praxis die Glaubenslehre abzuschwächen.
Ein dritter Faktor sei seine zur Schau gestellte „franziskanische“ Einfachheit. Sie bestehe in einer Strategie, sich „kontinuierlich und überlegt“ den überlieferten Verhaltensformen eines Papstes zu entziehen. Das führe dazu, seine Rolle als „Regierungschef“ mit der Rolle eines „Oppositionsführers“ zu verwechseln.
Den größten und wahrscheinlich langanhaltendsten Effekt von Papst Franziskus formuliert der Soziologe mit den Worten:
„Franziskus hat die katholische, religiöse Identifikation erschüttert“.
Während zuvor die mehr oder weniger praktizierenden Katholiken „als Bezugspunkt ihrer religiösen Zugehörigkeit nicht den Papst, nicht die Diözese und noch weniger Gruppen und Bewegungen hatten, sondern die Pfarrei, also die verbreitetste religiöse Institution kirchlicher Prägung, die man zwar nicht besuchen muß, die man aber auch nicht nach Belieben auswählen kann, wird das heute mit Papst Franziskus übersprungen“. Der Bezugspunkt ist er und nur er. Diese Personalisierung ist ein konstantes Phänomen der „Religion niedriger Intensität“. Sollte er das nicht ohnehin gewollt haben, hat er dieser Entwicklung jedenfalls nichts entgegengesetzt.
Diotallevi stellt ein Zerfallen der Befehlskette in der Kirche fest. Durch die Jahrhunderte ging sie vom Papst über die Bischöfe zu den Pfarrern und die verschiedenen Stufen der kirchlichen Ämter. Heute bewegen sich die einzelnen Ebenen „mit wachsender gegenseitiger Unabhängigkeit“ und mit Bezug auf reale Autoritäten, die „nicht die kanonischen“ sind.
Der Soziologe konstatiert zudem den Rückgang an Humanressourcen. Es gibt weniger Priester, weniger Ordensfrauen, weniger Laien in den Bewegungen und Vereinigungen. Sie nehmen an Quantität und Qualität ab. Vor allem Letzteres ist von Gewicht. Es gebe eine Neigung, „immer mehr den Wünschen der Konsumenten nachzugeben“. Damit erhalten außerkatholische religiöse oder kulturelle Paradigmen immer größeres Gewicht in der Kirche.
Parallel gehe in der Kirche ein Rückgang der Bereitschaft und der Absicht einher, auf die Formung der Gesellschaft einwirken zu wollen. Die ursprünglich von außen aufgezwungene Verdrängung der Kirche und der Religion aus dem öffentlichen Raum ins Private werde heute von der Kirche und von den Katholiken weitgehend akzeptiert. Das zeige sich im Rückgang der katholischen Schulen und des katholischen Verlags- und Pressewesens, also jenen Bereichen, die besonders stark auf die kulturelle Formung einwirken. Teile der Kirche, so Diotallevi, würden diesen Rückzug im Namen des Pauperismus und der Laizität sogar begrüßen.
„In Italien wurde das ‚kulturelle Projekt‘, das von der Bischofskonferenz während der beiden vorhergehenden Pontifikate vorangetragen wurde, ersatzlos gestrichen.“
Und was macht Papst Franziskus zwischen den entgegengesetzten Tendenzen in der Kirche, zwischen der „Religion niedriger Intensität“ und einer „Neokonfessionalisierung“?
Diotallevis Antwort fällt negativ aus und erklärt dies am Beispiel von Amoris laetitia. Franziskus läßt die katholische Lehre über die Familie verdampfen, indem er über seine Variante „von Fall zu Fall“ ein Chaos „von Bischof zu Bischof“ produzierte, aber so tue, als habe er die Lehre nicht einmal angerührt.
Wie aber kann das „religiöse Shopping“ auch innerhalb der katholischen Kirche eingedämmt werden?
In einem weiteren Bereich sieht Diotallevi Franziskus sich vom Kirchenverständnis aller Vorgänger entfernen. In seinen Reden an die „Volksbewegungen“ formulierte er neue „nicht verhandelbare Werte“, die nicht jene von Benedikt XVI. sind: Franziskus fordert „Land, Haus und Arbeit“. Dem liege ein Verständnis von „Volk“ zugrunde, das typisch lateinamerikanisch und peronistisch sei.
Die „Religion niedriger Intensität“ von Papst Franziskus sei durchsetzt von pfingstlerischen Elementen auf der einen Seite und einem „peinlichen Neoklerikalismus“ seiner Höflinge auf der anderen Seite.
„Aus soziologischer Sicht scheinen der Erfolg von Papst Franziskus und der Mißerfolg der katholischen Kirche in keinem Widerspruch zu stehen, weil die Gründe für den Erfolg von Franziskus, völlig unabhängig von den Absichten der Protagonisten, keineswegs mit dem fortschreitenden Zerfall der Katholizität kontrastieren.“
Die Bestätigung dieser These zeigt sich jeden Tag, erweist sich für die Kirche aber um so problematischer.
Am Beginn des 21. Jahrhunderts sind aber nicht nur die Religionen in der Krise. Es ist auch die „offene Gesellschaft“ in der Krise, deren Zustandekommen sich zu einem wesentlichen Teil auf das christliche Erbe stützte, von dem es sich zugleich verabschiedete.
„Doch das ist für Bergoglio alles arabisch“, so der Vatikanist Sandro Magister.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Vatican.va (Screenshot)