Der Fall Julio Cesar Grassi


Julio Cesar Grassi
Jullio Cesar Grassi: sexueller Mißbrauchsfall in Argentinien

von Anto­nio Tortillatapa

Anzei­ge

Der Fall Julio César Gras­si hält nun schon seit 25 Jah­ren Argen­ti­ni­en in sei­nem Bann.

Julio César Gras­si (gebo­ren 1956) wur­de 1981 zum Prie­ster geweiht. Im Rah­men der Befrei­ungs­theo­lo­gie und des post­kon­zi­lia­ren, gut­mensch­li­chen Sozi­al­enga­ge­ments enga­gier­te auch er sich beson­ders stark in der sozia­len Für­sor­ge und „pasto­ra­len Beglei­tung“ für arme Kin­der und Behin­der­te aus benach­tei­lig­ten Milieus in Argentinien.

Der jahr­zehn­te­lan­ge wirt­schaft­li­che Nie­der­gang Argen­ti­ni­ens, die poli­ti­schen Wir­ren, die Ver­ar­mung gro­ßer Tei­le der Bevöl­ke­rung und die chro­nisch-rezi­di­vie­rend ent­täusch­ten Hoff­nun­gen mit tie­fer Fru­stra­ti­on der armen Bevöl­ke­rungs­schich­ten bil­de­ten einen her­vor­ra­gen­den Boden für die Akti­vi­tä­ten von Grassi.

Unter Gras­sis Füh­rung ent­stand ein gro­ßer und unüber­sicht­li­cher Kom­plex von Sozi­al­für­sor­ge­ein­rich­tun­gen und Hei­men zur Betreu­ung und Beglei­tung von Kin­dern und Jugend­li­chen aus pre­kä­ren Verhältnissen.

Gras­si bewarb alles mit gro­ßem media­len Rum­mel durch Fern­se­hen und Hör­funk, mit  Publi­ka­tio­nen und mit sehr kom­ple­xen und undurch­sich­ti­gen finan­zi­el­len Transaktionen.

Gras­si ver­stand sich her­vor­ra­gend dar­auf, Poli­ti­ker und ver­mö­gen­de, bekann­te Per­sön­lich­kei­ten an sei­ne Akti­vi­tä­ten und Ein­rich­tun­gen zu bin­den. Gera­de im pero­ni­sti­schen Milieu (bzw. bei der poli­ti­schen Füh­rungs­ka­ste des Pero­nis­mus am Ende des 20. Jahr­hun­derts) fand er vie­le Sympathisanten.

Zugleich war sei­ne Fähig­keit, Spen­den und Kapi­tal für sei­ne Ein­rich­tun­gen zu sam­meln, sehr groß, und er durch Fern­seh­auf­trit­te breit bekannt.

Einen Schwer­punkt bil­de­te die Ein­rich­tung Feli­ces Los Ninos („Glück­li­che Kin­der“) für Kin­der und Jugend­li­che mit Problemen.

Zen­trum der Akti­vi­tä­ten war das argen­ti­ni­sche Bis­tum Morón, Suf­fra­gan­bis­tum des Erz­bis­tums Bue­nos Aires.

1992 wur­de eine Kla­ge über sexu­el­le Über­grif­fe von Gras­si auf Kin­der und Jugend­li­che der Anstalt Feli­ces los Ninos beim loka­len Gericht ein­ge­reicht. Der Fall wur­de nicht wei­ter ver­folgt, und das Ver­fah­ren niedergeschlagen.

1995 wur­de die Welt­öf­fent­lich­keit auf­ge­rüt­telt durch vie­le Fäl­le von schwer­wie­gen­dem und weit­ver­brei­te­tem und insti­tu­tio­na­li­sier­tem sexu­el­len Miß­brauch von Kin­dern und Schutz­be­foh­le­nen in der katho­li­schen Kir­che in Nordamerika.

Papst Johan­nes Paul II schrieb dazu aus­führ­lich an die Bischö­fe von Nordamerika.

Zugleich kam auch der sexu­el­le Miß­brauch an Kin­dern und Behin­der­ten in kirch­li­chen Ein­rich­tun­gen in Bel­gi­en ans Licht, nebst abstru­ser Wer­bung für Pädo­phi­lie in dor­ti­gen bischöf­li­chen Zei­tun­gen und Reli­gi­ons­bü­chern ( Affä­re Bar­zin; Affä­re Roeach3; Fall Anne­ke).

Nach der Jahr­tau­send­wen­de wur­de das gewal­ti­ge Aus­maß des Kin­des­miß­brauchs im kirch­li­chen Rah­men in West­eu­ro­pa und Nord­ame­ri­ka wahr­ge­nom­men; es wur­de in den Medi­en sehr aus­führ­lich besprochen.

Das kirch­li­che Estab­lish­ment reagier­te bis 2005 haupt­säch­lich mit Ver­tu­schung, Beschö­ni­gung, Dees­ka­la­ti­ons­ver­su­chen und knaus­ri­ger finan­zi­el­ler Entschädigung.

Die Zahl der Gerichts­ver­fah­ren wur­de Legi­on, die Ver­ur­tei­lun­gen nah­men rasant zu und die Ent­schä­di­gungs­zah­lun­gen erreich­ten in den USA astro­no­mi­sche Höhen.

2002 mel­de­te der argen­ti­ni­sche Fern­seh­sen­der Tele­no­che in einem auf­se­hen­er­re­gen­den Bericht, daß eine Kla­ge gegen Gras­si wegen pädo­phi­len Miß­brauchs vorlag.

Die Nach­richt schlug ein wie eine Bom­be: gewal­ti­ger Auf­ruhr in der Bevöl­ke­rung, brei­tes Inter­es­se der Medi­en, lau­te Abwehr von Gras­si und tem­pe­ra­ment­vol­le Kla­gen von wüten­den Familienmitgliedern.

Anti­kle­ri­ka­le Res­sen­ti­ments, kle­ri­ka­le Schutz­re­fle­xe, Kon­kur­renz zwi­schen Medi­en­hol­dings, finan­zi­el­le Unre­gel­mä­ßig­kei­ten und poli­ti­sche Neben­fron­ten färb­ten den Fall Gras­si zusätz­lich: Ein Opfer wur­de von einem Prot­ago­ni­sten der Mon­tone­r­os (lin­ke Pero­ni­sten) sehr feu­rig ver­tei­digt; gleich­zei­tig war ein Groß­teil der pero­ni­sti­schen Nomen­kla­tu­ra mit dem im Fern­se­hen omni­prä­sen­ten Gras­si verbunden.

Aus­führ­li­che poli­zei­li­che und finan­zi­el­le Unter­su­chun­gen fan­den statt.

Die Kla­gen wur­den sehr sorg­fäl­tig unter­sucht; beson­ders die Fäl­le „Gabri­el“, „Eze­quiel“ und „Luis“ waren sehr belastend.

Die abge­schot­te­ten Struk­tu­ren der Ein­rich­tun­gen wur­den durch­leuch­tet, Unmen­gen an wenig christ­li­chem Mate­ri­al kam zu Tage, vie­le Mit­ar­bei­ter sag­ten aus, und nicht zuletzt kam die hor­ren­de finan­zi­el­le Miß­wirt­schaft samt Unter­schla­gun­gen ans Licht.

Gras­si ver­tei­dig­te sich auf sehr merk­wür­di­ge Weise:

Auf die Beschul­di­gun­gen und die sub­stan­ti­ell sehr hart unter­mau­er­ten Kla­gen reagier­te er nicht mit ent­kräf­ten­den, sub­stan­ti­el­len Hin­wei­sen und Bele­gen, son­dern droh­te mit sehr teu­ren Rechts­an­wäl­ten, griff die Opfer laut­hals an, tin­gel­te durch Radio- und Fern­seh­sen­der und wet­ter­te gegen einen media­len Ver­nich­tungs­feld­zug der argen­ti­ni­schen Pres­se­grup­pe Cla­rin gegen ihn (Gras­si) und sei­nen pri­va­ten Rundfunksender.

Gras­si wei­ger­te sich einer Vor­la­dung vor Gericht nach­zu­kom­men, wur­de flüch­tig und gab inzwi­schen auch noch ein Inter­view beim Rund­funk vor lau­fen­der Kamera.

Die Sache eska­lier­te: 2003 kam es zu Dro­hun­gen und Angrif­fen mit Feu­er­waf­fen auf Zeu­gen und Kläger.

Der Fall Gras­si wur­de nun lan­des­weit bekannt.

Dem argen­ti­ni­schen Epi­sko­pat war schon 2003 die Bri­sanz der Affä­re Gras­si klar: Der zustän­di­ge Bischof von Morón, Justo Oscar Lagu­na, hat­te bei der Kom­ple­xi­tät des Fal­les und den viel­fäl­ti­gen Zusatz­in­ter­es­sen die Ange­le­gen­heit sofort zur nächst­hö­he­ren Instanz, dem Erz­bis­tum Bue­nos Aires, weitergeleitet.

Die Opfer und die Zeu­gen, schwer ein­ge­schüch­tert und teils auch mit Feu­er­waf­fen bedroht, baten Kar­di­nal Berg­o­glio um eine Begeg­nung, der damals Erz­bi­schof von Bue­nos Aires war, damit die Angrif­fe auf die Opfer und die Zeu­gen aufhörten.

Ihre Bit­te auf eine Unter­re­dung wur­de verweigert.

Dage­gen konn­ten die Klä­ger und die Zeu­gen ihr Anlie­gen bei Msgr. Justo Oscar Lagu­na (1929–2011, dem Bischof von Morón (1980–2004), und beim dama­li­gen argen­ti­ni­schen Prä­si­dent Nestor Kirch­ner vorbringen.

Von ver­schie­de­nen Sei­ten wur­de viel Druck auf die Gerichts­or­ga­ne ausgeübt.

Am 10. Juni 2009 ver­ur­teil­te das Tri­bu­nal N°1 von Morón Don Julio Cesar Gras­si wegen Sexu­al­miß­brauchs von Min­der­jäh­ri­gen und Kor­rup­ti­on zu einer Gefäng­nis­stra­fe von 15 Jah­ren Haft.

In Sep­tem­ber 2010 ver­warf die Zwei­te Kam­mer des Kas­sa­ti­ons­ge­richts der Pro­vinz Bue­nos Aires alle Rekur­se gegen die­ses Urteil.

Am 27. Novem­ber 2012 ver­warf auch der Höchst­ge­richts­hof alle Rekur­se und bestä­tig­te in Janu­ar 2013 die erst­in­stanz­lich ver­häng­te Gefäng­nis­stra­fe von 15 Jahren.

Gras­si blieb dann jedoch aus unkla­ren Grün­den noch sehr lan­ge auf frei­em Fuß.

Erst am 23. Sep­tem­ber 2013 wur­de er plötz­lich ver­haf­tet (nach der in Argen­ti­ni­en gül­ti­gen 2+1 Regel – die Zeit der Unter­su­chungs­haft gilt dop­pelt und wird auf das Straf­maß ange­rech­net – wäre er 2018 freigekommen).

Am 2016 wur­de Gras­si wegen finan­zi­el­len Betrugs und Steu­er­hin­ter­zie­hung zu wei­te­ren 15 Jah­ren Gefäng­nis­stra­fe verurteilt.

Theo­re­tisch wird Gras­si bis 2033 in Haft bleiben.

Übri­gens: das Wort miser­i­cor­dia (Barm­her­zig­keit) fiel in die­sem Kon­text nicht einmal.

Quel­len:

Text: Anto­nio Tortillatapa
Bild: Wikicommons/​InfoCatolica

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1 Kommentar

  1. Ich möch­te an die­ser Stel­le auf die Doku­men­ta­ti­on „Das Schwei­gen der Hir­ten“ hin­wei­sen, die von Minu­te 32 bis zum Ende die Rol­le des dama­li­gen Erz­bi­schofs von Bue­nos Aires beleuch­tet. (Bei you­tube zu fin­den!) Sie ist min­de­stens so bri­sant wie die Aus­sa­gen von EB Viganò!

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