
(Santiago de Chile) Gleich zweifach stand gestern der Fall Barros im Zentrum: in Rom und in Santiago de Chile. Kardinal Ricardo Ezzati SDB, der Erzbischof von Santiago de Chile, eröffnete gestern eine außerordentliche Versammlung des chilenischen Klerus. In Rom wurde der gewichtigste Kritiker von Papst Franziskus in Audienz empfangen.
Grund ist das Schreiben von Papst Franziskus an die Chilenische Bischofskonferenz. Mit dem Schreiben reagierte das katholische Kirchenoberhaupt auf den Bericht seines Sondergesandten, Msgr. Charles Scicluna, über den sexuellen Mißbrauchsskandal in Chile durch und um den Ex-Priester Fernando Karadima. Im Mittelpunkt aber steht Bischof Juan Barros Madrid. Ihn machte Papst Franziskus trotz ernster Warnungen Anfang 2015 zum Bischof des Bistums Osorno. Karadima-Opfer und eine Gruppe von Gläubigen des Bistums Osorno protestieren seither gegen diese Ernennung. Msgr. Barros werfen sie vor, die Verbrechen Karadimas gedeckt zu haben.
Papst Franziskus tat drei Jahre lang jede Kritik als „Verleumdung“ und „Instrumentalisierung“ durch kirchenferne Kreise ab. Daher weigerte er sich, mit Barros-Kritikern zu sprechen und sie anzuhören.
Nachdem Franziskus diese Haltung auch während seines Chile-Besuches im vergangenen Januar beibehielt, wurde die Kritik so stark, daß er schließlich reagieren mußte. Der Besuch des Papstes in Chile fand zumeist vor hableeren Flächen statt. Die Chilenen zeigten demonstratives Desinteresse. Der Fall Karadima, wie die Bischofskonferenz feststellte, habe das Vertrauen in die Kirche schwer erschüttert. Dennoch sah Papst Franziskus keinen Anlaß, seine Haltung gegenüber den Opfern und Bischof Barros zu ändern. Vielmehr lud er diesen ausdrücklich ein, mit ihm öffentlich zu konzelebrieren. Das Kirchenoberhaupt dachte offenbar mit dieser Geste des demonstrativen Vertrauens in Barros die Kritiker zum Schweigen zu bringen. Statt dessen schloß sich Kardinal Sean Patrick O’Malley OFM Cap aus Boston der Kritik an. Der Kardinal ist als Vorsitzender der Päpstlichen Kinderschutzkommission mit dem Fall vertraut.
Zugleich wurden Belege vorgelegt, daß Papst Franziskus seit dem Frühjahr 2015 über die Vorwürfe gegen Msgr. Barros informiert war. Gegenteiliges hatte der Papst noch auf dem Rückflug nach Rom behauptet.
Kursänderung – oder doch nicht
Zehn Tage nach seiner Rückkehr aus Lateinamerika nahm Franziskus daher eine Kurskorrektur vor, um die internationale Ausweitung der Kritik an seiner Haltung einzudämmen. Er ernannte den Erzbischof von Malta, Msgr. Charles Scicluna, zum Päpstlichen Sondergesandten. Scicluna erhielt den Auftrag, die Barros-Kritiker anzuhören. Er sollte das tun, was sich Franziskus drei Jahre lang zu tun geweigert hatte. In der zweiten März-Hälfte legte Scicluna nach Anhörung von mehr als 60 Personen in den USA und in Chile einen mehr als 2.300 Seiten umfassenden Bericht vor.

Am 11. April veröffentlichte das vatikanische Presseamt ein Schreiben von Papst Franziskus an die chilenischen Bischöfe. Damit reagierte er auf den Scicluna-Bericht und sprach von „Schmerz und Schande“, die er bei der Lektüre des Berichtes empfunden habe.
Die Chilenische Bischofskonferenz veröffentlichte parallel eine Erklärung, mit der sie die zerknirschte Haltung des Papstes den Chilenen bekanntgab, um das erschütterte Vertrauen wiederherzustellen. Hinter den Kulissen war die Frage damit aber nicht erledigt.
In seinem Schreiben ging Franziskus mit keinem Wort auf Bischof Barros ein. Vielmehr sprach er eine Einladung an die Bischöfe aus, nach Rom zu kommen, um über die Sache zu sprechen. Die Bischöfe schwiegen in der Öffentlichkeit. Ihnen war aber klar, daß Franziskus damit signalisierte, weiterhin an Barros, dem Stein des Anstoßes in der öffentlichen Wahrnehmung, weiterhin festhalten zu wollen.
Barros selbst hatte in der Vergangenheit dem Papst zwei Rücktrittsgesuche vorgelegt, die von Franziskus abgelehnt wurde. Ein drittes Gesuch soll Erzbischof Scicluna zusammen mit seinem Bericht auf den päpstlichen Schreibtisch gelegt haben. Barros selbst bestreitet dies.
Deutliche Signale von Kardinal Ezzati an Franziskus
Tatsache ist, daß die Spitze der Chilenischen Bischofskonferenz den Fall Barros abschließen will und daher Konsequenzen wünscht. Und das nicht erst seit heute, sondern bereits seit drei Jahren. Franziskus wurde damals auch aus den Reihen der Bischofskonferenz gewarnt, Barros zum Bischof von Osorno zu ernennen. Der Papst hält jedoch unerschütterlich an ihm fest. Immer öfter taucht die Frage nach dem Warum auf.
Nach außen macht die Chilenische Bischofskonferenz gute Miene. Hinter den Kulissen herrscht erhebliche Mißstimmung, daß Franziskus Barros nicht von seinem Amt entbinden will.
Die von Kardinal Ezzati gestern nach Santiago de Chile einberufene Versammlung richtete sich an den ganzen Klerus des Landes, um das Schreiben von Papst Franziskus zu analysieren. Dabei geht es einerseits um die schwierige Aufgabe, das verlorene Vertrauen unter den Chilenen wiederzugewinnen, und andererseits die Ursachen zu beseitigen. Was sich Kardinal Ezzati darunter vorstellt, sagte er im Anschluß sehr deutlich und öffentlich. Er erwarte sich von Msgr. Barros den Rücktritt:
„Ich bin kein Richter, um zu entscheiden, ob er etwas gedeckt hat oder nicht. Zum Wohl der Kirche aber sollte er einen Schritt zur Seite machen“.
Zugleich versuchte der Kardinal einen schwierigen Spagat, mit dem er das Ansehen des Papstes schützen und diesem zugleich eine Brücke bauen wollte, den Rücktritt Barros zu akzeptieren. Kardinal Ezzati machte auf der gestrigen Pressekonferenz deutlich, daß der Papst über den Rücktritt zu entscheiden habe. Franziskus lehnte bisher die Rücktrittsangebote von Barros ab. Ezzati, von 2010–2016 Vorsitzender der Chilenischen Bischofskonferenz, versicherte vor der Presse, daß Papst Franziskus „hintergangen“ worden sei, was die Informationen zum Fall Karadima und Barros betraf.
Wird Franziskus diesem Druck der Chilenischen Bischofskonferenz nachgeben?
Audienz für Kardinal O’Malley in Rom
Gestern fand auch in Rom ein Ereignis statt, noch bevor in Santiago de Chile die Klerusversammlung begonnen hatte, das in direktem Zusammenhang mit Chile stehen dürfte.

Kardinal Sean Patrick O’Malley wurde von Papst Franziskus in Audienz empfangen. Im Tagesbulletin des Vatikans wurde vermerkt, daß der Kardinal Vorsitzender der Päpstlichen Kinderschutzkommission ist. Über den Inhalt der Begegnung wurde bisher nichts bekannt. Es wird jedoch angenommen, daß Kardinal O’Malley in seiner Funktion als Vorsitzender der Kinderschutzkommission bei Franziskus war und über den Fall Barros gesprochen wurde.
Das Treffen der chilenischen Bischöfe mit Papst Franziskus in Rom dürfte in der dritten Maiwoche stattfinden. Bis dahin werden wahrscheinlich keine Entscheidungen fallen, da Franziskus bisher keine Anzeichen von sich gab, im Fall Barros seine Haltung ändern zu wollen.
Ob das, was Kardinal O’Malley gestern zu ihm sagte und was Kardinal Ezzati gestern forderte, ihn umgestimmt haben?
Das Video mit zentralen Ausschnitten aus der Pressekonferenz von Kardinal Ezzati gestern in Santiago de Chile:
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Vatican.va/MiL (Screenshots)