
Ein Gastkommentar von Hubert Hecker.
War das klug vom Berliner Erzbischof Heiner Koch, einer Fachtagung für Sexualpädagogik in kirchlichen Einrichtungen vorab in Form eines Ermutigungswortes seinen Segen zu erteilen? Im Nachhinein steht der Bischof in der Kritik, Tipps für Abtreibung legitimiert zu haben. Das ergibt sich aus der Publikation der Tagungsergebnisse auf der Berliner Bistumsseite.

Die Fachtagung zum Thema: „Sexualpädagogische Arbeit in katholischen Einrichtungen“ fand im Februar 2016 in der Berliner Katholischen Hochschule für Sozialwesen statt. Eingeladen hatte das ‚Katholische Netzwerk Kinderschutz’ vom Erzbistums Berlin. Zusammengefasst sind unter diesem Organisationsdach Bistumsgremien, Katholikenverbände, Jugend‑, Schul- und Präventions-Institutionen, aber auch die erzbischöflichen Dezernate, insbesondere das Amt für Jugendseelsorge. Die Trägerorganisationen bilden einen Querschnitt der Kinder‑, Jugend- und Caritasarbeit im Bistum Berlin.
Eine Internetseite hatte im November 2017 einige skandalöse Workshop-Ergebnisse bekannt gemacht. Daraufhin hatte der Pressesprecher des Erzbistums auf die „nachvollziehbare“ Kritik reagiert, indem er zu den „missverständlichen“ Passagen einige „Ergänzungen“ anbrachte. Aber auch nach der Überarbeitung der umstrittenen Texte bleiben Tendenz und Eindruck, dass die Fachtagung einer libertären Sexualpädagogik nachläuft und dabei die katholischen Positionen der ‚Kultur des Lebens’ zur Disposition stellt.
Verharmlosungssprache zu Abtreibung, Verschweigen der tödlichen Folgen
Das beginnt mit der Ausrichtung vom „Praxistipp“ Nr. 6. Der Text spricht euphemistisch von „Schwangerschaftsabbruch“, wie wenn man eine Therapie oder Kur abbricht. Die Verharmlosungssprache verschleiert den Jugendlichen die tödliche Wirkung der Abtreibung eines Kindes. In der Beratung werden allein die „Rechte (der Schwangeren) bei ungewollter Schwangerschaft“ aufgezeigt. Dagegen wird das Grundrecht auf Leben (Art. 2,1 GG) der ungeborenen Menschen nicht einmal erwähnt.
Mit diesen einseitigen und nicht sachgerechten Beratungstipps verstößt das Berliner Tagungspapier gegen den katholischen Grundsatz des Lebensschutzes. Denn in der Tendenz ist der Hinweis an Jugendliche, bis zur zwölften Lebenswoche des Ungeborenen eine Abtreibung beanspruchen zu können, als Empfehlung anzusehen.
Selbst die Rechtsinformationen werden nicht angemessen aufbereitet
▪ Der Begriff „straffreie“ Abtreibung soll wohl beruhigen. Unterschlagen wird dabei, dass Abtreibung grundsätzlich ‚rechtswidrig’ ist, weil sie eben das Grundrecht eines Menschen auf Leben verletzt. Schwangerschaftsabbruch ist im Strafgesetz verortet unter dem Kapitel „Straftaten gegen das Leben“ – zusammen mit Mord, Todschlag und Tötung auf Verlangen. Für eine Rechtsaufklärung gehört dieser Kontext von Strafverzicht bei Abtreibung hinzu.
▪ Ist es nicht ungeheuerlich für die bischöfliche Jugendseelsorge, die Abtreibung eines ungeborenen Kindes unter dem Aspekt des ‚pro choice’ zu stellen? So wird 16jährigen Mädchen als einfache Wahlentscheidung anheimgegeben, „ob sie eine Schwangerschaft abbrechen mochten oder nicht“. Dabei verschweigt man die hohe Hürde im Paragraf 219, nach der Abtreibung nur bei sehr „schweren und außergewöhnlichen Belastungen über die zumutbare Opfergrenze hinaus“ zugestanden ist.
▪ Das Ziel der gesetzlich vorgeschriebenen Beratung soll mitnichten „die Möglichkeit eines Schwangerschaftsabbruch“ aufzeigen, sondern „dem Schutz des ungeborenen Lebens“ dienen. Ausdrücklich soll die Schwangere dahingehend beraten werden, „dass das Ungeborene in jedem Stadium der Schwangerschaft auch ihr gegenüber ein eigenes Recht auf Leben hat.“ Warum wird das Lebensrecht ungeborener Kinder ratsuchenden Jugendlichen in katholischen Einrichtungen verschwiegen? Weiter heißt es im Paragraf 219: Die Beratung soll sich von dem Bemühen leiten lassen, die Schwangere „zur Fortsetzung der Schwangerschaft zu ermutigen“. Von dieser gesetzlichen Beratungspflicht zur Ermutigung für die weitere Schwangerschaft liest man nichts in den Tagungspapieren.
Die Rechtslage zur Abtreibung wird nicht sachgerecht dargestellt. Darüber hinaus interpretieren die Praxistipp-Autoren in die einschlägigen Paragraphen fälschlich eine leichte und problemlose Abtreibungsentscheidung hinein. Die im Gesetz verankerten Rechte der Ungeborenen, objektive Hürden für Abtreibung sowie das Bemühen zu einer ermutigenden Beratung werden unterschlagen. Eine solche Vorgehensweise ist keine seriöse Rechtsberatung.
Lebensschutz spielt in der Jugendarbeit des Bistums Berlin keine Rolle
Die Lebensschutzintentionen des Gesetzgebers werden nicht gewürdigt. Auch in den weiteren Texten der Tagung wird an keiner Stelle der Lebensschutz als eine Zielorientierung kirchlicher Jugendarbeit aufgenommen. Die Tagungsteilnehmer werden nicht einmal mit diesem Thema konfrontiert.

Auf dem Hintergrund ist es ein Etikettenschwindel, wenn der Pressesprecher des Berliner Erzbistums behauptet: „Im Bereich der Kinder- und Jugendarbeit werden (…) Rechtsfragen immer auf der Grundlage christlicher Wertvorstellungen diskutiert. Und hier steht die Frage nach dem Schutz des Lebens von Anfang an nicht zur Disposition.“ Die Prinzipienbehauptung enthält eine doppelte Irreführung: Weder auf die gesetzlichen Lebensschutzelemente noch die christlichen Werte wird in den Praxistipps Bezug genommen.
In die gleiche Richtung geht die ergänzende Bemerkung: „Gerad im kirchlichen Kontext bietet es sich an, das Thema ‚Schutz des Lebens’ in der weiteren pädagogischen Arbeit zu thematisieren.“ Wenn ‚Lebensschutz’ nicht einmal im sexualpädagogischen Kontext vorgesehen ist, wird er in anderen Bereichen mit Sicherheit nicht behandelt werden. Auch solche Beliebigkeitsformulierungen wie das ‚sich Anbieten’ einer Themenbehandlung offenbaren den fundamentalen Mangel der vorgetragenen sexualpädagogischen Ansätze: Die ‚Rechte der ungeborenen Kinder’, der ‚Schutz des Lebens’ sowie das katholische Konzept der ‚Kultur des Lebens’ spielen in der Kinder- und Jugendarbeit des Bistums Berlin offensichtlich keine Rolle.
Es muss also ein Mangel an Profil in einem substantiellen Element der katholischen Lehre festgestellt werden. Den hat auch Bischof Heiner Koch mitzuverantworten, wenn er mit seinem Grußwort die Tagung abgesegnet.
Die zwiespältige Haltung des Bischofs
▪ In den diözesanen Beratungsstellen zu Schwangerschaftskonflikten dürfen seit dem Jahr 2000 keine Hinweise „pro choice“ und Berechtigungsscheine für Abtreibung ausgestellt werden. Wieso erlaubt es der Bischof, dass in katholischen Jugendeinrichtungen des Bistums genau in dieser Tendenz beraten wird?
▪ In seinen Ansprachen zum jährlichen Marsch für das Leben „erhebt der Bischof seine Stimme“ zusammen mit den Tausenden Demonstranten für „das Recht der ungeborenen Menschen“ auf Leben. Warum schweigt er dazu vor den Mitarbeitern seines eigenen Bistums?
▪ Die Laienvertretung des Katholikenrates im Bistum Berlin weigert sich mit fadenscheinigen Argumenten, den ‚Marsch für das Leben’ in der Bundeshauptstadt zu unterstützen. Müsste der Bischof bei den vom Ordinariat ausgerichteten Tagungen nicht besonders eindringlich für den Lebensschutz werben?
▪ In seinem Grußwort vom September 2017 beklagt der Erzbischof, dass der „Lebensschutz für die Ungeborenen vielfach relativiert“ werde und deshalb nur eingeschränkt gelte. Weshalb lässt er es zu, dass die Jugendverantwortlichen seines Bistums den Lebensschutz in katholischen Jugendeinrichtungen nicht nur relativieren, sondern gänzlich aussparen?
▪ Diese Ablehnungshaltung zum Lebensschutz ist kennzeichnend für den Bund der Deutschen Katholischen Jugend (BDKJ), der an der Ausrichtung der Berliner Tagung maßgeblich beteiligt war. Die zuständige Referentin für Mädchen- und Frauenpolitik in Berlin lehnte nicht nur die Unterstützung der Lebensrechtsbewegung wegen „problematischer Redner“ ab. Sie verweigert auch jede Gesprächsaufnahme, also den vielgerühmten Dialog mit der ‚Aktion Lebensrecht für alle’. Wie kann der Bischof, der die Kirchensteuergelder für den Verband genehmigt, tatenlos zusehen, wie BDKJ-Vertreter in Bistumsgremien eine ablehnende Haltung zum Lebensschutz bis hin zu Boykottaufrufen zum Marsch für das Leben verbreiten?
▪ Inzwischen fühlt sich ein Berliner BDKJ-Verband „ermutigt“, den Erzbischof selbst zum Boykott der Demonstration für den Lebensschutz aufzufordern. Wenn Bischof Koch eine kirchliche Tagung absegnete, in der statt Lebensschutz nur die Rechte bei Abtreibungsentscheidungen propagiert werden, braucht er sich über solche Boykottaufrufe zum Lebensschutz nicht zu wundern.
▪ Bischof Koch bemängelt öffentlich, dass von Politikern, Juristen und Medien der Lebensschutz gegenüber den Anliegen nach Artenvielfalt und sauberer Luft hintangestellt wird. Aber in seinem eigenen Bistum befördert er die gleiche Tendenz, den Schutz des ungeborenen menschlichen Lebens zu marginalisieren.
Sind des Bischofs katholische Ansagen vor den Demonstranten nur Fensterreden fürs Publikum, während in seinem Haus ganz andere Regeln gelten? Oder knickt er ein gegenüber seinen Ordinariatsabteilungen? Will er es beiden Ansprechgruppen recht machen – also mit jeweils unterschiedlichen Botschaften an die Marschteilnehmer einerseits und die kirchlichen Mitarbeiter seines Bistums andererseits? So oder so trägt die zwiespältige Haltung des Berliner Bischofs zum Lebensschutz nicht zu seiner Glaubwürdigkeit bei.
Unabdingbare Forderung: Im eigenen Haus initiativ werden zum Lebensschutz
Die Autoren einer Petition, die den Protest gegen das Berliner Papier zur Sexualpädagogik ins Rollen gebracht haben, fordern, das Dokument Nr. 6 müsse komplett von der Seite des Erzbistum verschwinden. Das wäre ein erster Schritt, um die fehlerhaften Sach- und Lehrinformationen aus der Welt zu schaffen. Gleichzeitig sollte man eine bischöfliche Distanzierung von den ‚Praxistipps’ erwarten, um damit eine Kurskorrektur in der Abtreibungsberatung von Jugendlichen einzuleiten.
Schließlich ist ein zweiter Schritt ebenso wichtig: Im Bereich der Jugendpädagogik und Sozialarbeit sowie der katholischen Jugendverbände im BDKJ sind die Leitlinien von Lebensschutz ausdrücklich zu verankern und zu praktizieren, wie sie der Bischof in seinen Ansprachen zum Marsch für das Leben aufgezeigt hat. Nur mit einer entsprechenden Initiative im eigenen Haus kann der Erzbischof seine Glaubwürdigkeit wieder zurückgewinnen.
Text: Hubert Hecker
Bild: Erzbistum Berlin (Screenshots)