(Rom) Die Bemühungen, eine Geschichte des Grabtuches von Turin zu schreiben, stehen vor allem einer großen Herausforderung gegenüber: Es gibt ein „Loch“ von rund 150 Jahren, die der Biologe Alessandro Piana in seinem gleichnamigen Buch als „verlorene Jahre“ bezeichnete [1]Alessandro Piana: Sindone, gli anni perduti (Das Grabtuch. Die verlorenen Jahre), Sugarco, Mailand 2007. Für diese Zeit scheint sich keine Spur vom Grabtuch finden zu lassen, was Anlaß für teils phantastische Spekulationen war, aber auch für grundsätzliche Zweifel an seiner Echtheit. Die hartnäckige Behauptung, es handle sich um eine spätmittelalterliche Fälschung, rührt vor allem daher. Wo befand sich das Grabtuch Christi in dieser Zeit? In einem soeben erschienenen Artikel faßt Piana den aktuellen Kenntnisstand zusammen.
Um eine Antwort zu finden, sei – so Piana – von jener Hypothese auszugehen, die am besten durch Indizien abgestützt ist: Beim Grabtuch, das um die Mitte des 14. Jahrhunderts in Lirey im heutigen Frankreich auftaucht, handelt es sich um das Grabtuch, das 1204 im Zuge des Vierten Kreuzzuges in Konstantinopel entwendet wurde.
Die Marienkirche von Blachernae in Konstantinopel
Um weitere Schlüsse ziehen zu können, sei zu ergründen, von wem das Grabtuch in Konstantinopel entwendet wurde. Dazu gilt es zu jenen Tage am Beginn des 13. Jahrhunderts zurückzublenden, als die Kaiserstadt des Ostens von den lateinischen Kreuzrittern eingenommen wurde. Zu den Chronisten jener Ereignisse gehörte der Ritter Robert de Clari aus der Picardie.
Aus seiner Chronik geht hervor, daß Konstantinopel nicht nur wegen der üblichen Reichtümer die Begierden der Kreuzritter weckte, sondern auch wegen eines ganz besonders kostbaren Schatzes: den Reliquien. 1203 besuchte Robert de Clari die Marienkirche von Blachernae, der zweitwichtigsten Kirche Konstantinopels, die sich in unmittelbarer Nähe des Kaiserpalastes befand. Über sie schrieb er:
„Es gab dort eine Kirche, wo das Tuch aufbewahrt war. Jeden Freitag wurde es in seiner ganzen Länge entfaltet und zur Schau gestellt, sodaß man deutlich den Abdruck der Figur des Leichnams Christi von vorne und von hinten als ob er aufrecht vor einem stünde betrachten konnte. Aber keiner, weder Grieche noch Franzose wußte, was mit dem Tuch geschehen war, als die Stadt genommen wurde.“
Dieses Zeugnis ist von besonderer Bedeutung. Es bestätigt zunächst die Tradition, daß das Grabtuch Jesu seit dem 10. Jahrhundert in Konstantinopel aufbewahrt wurde. Es berichtet zudem, daß das Grabtuch ein lebensgroßes Abbild Christi zeigt. Die Beschreibung deckt sich mit dem heute in Turin aufbewahrten Grabtuch.
1204 wird Konstantinopel von den Kreuzrittern erobert und geplündert. Was aber geschah mit dem so verehrten Grabtuch, dieser heiligsten Reliquie? Die Antwort gibt zunächst wiederum Robert de Clari:
„Niemand, weder Grieche noch Lateiner, weiß, was nach der Plünderung der Stadt mit dem Grabtuch geschah.“
Waren die Templer am Raub des Grabtuches beteiligt?
„Die Templer haben immer etwas damit zu tun“, schrieb Umberto Eco in seinem Roman Das Foucaultsche Pendel, weil für ihn die Templer Anfang und Ende eines jeden Geheimnisses waren. Den Nominalisten Eco mochte das faszinieren. Entspricht es aber den Tatsachen?
Piana verweist auf die Fakten. Tatsache ist, daß die Templer nicht aktiv am Vierten Kreuzzug beteiligt waren. Die Ordensinteressen in „Outremere“ (Übersee), wie die Templer sagten, wenn sie von den Kreuzfahrerstaaten sprachen, konzentrierten sich damals auf den Beginn von Militäroperationen im Heiligen Land. In Konstantinopel hielt sich nur eine Handvoll Tempelherren auf, die dort im Auftrag des Papstes diplomatische Aufgaben erfüllten und daher den Kreuzrittern keine militärische Unterstützung zukommen lassen konnten. Im Gesamtkontext jener chaotischen Tage scheint es daher kaum vorstellbar, daß sie für das Verschwinden des Grabtuches verantwortlich sind. Gegen eine Beteiligung der Templer spricht, so Piana, daß sie hundert Jahre später, als der französische König Philipp IV., der das Papsttum in das „babylonische Exil“ nach Avignon gezwungen hatte und dem Templerorden den Prozeß machte, nicht geltend machten, das Grabtuch Christi zu besitzen oder besessen zu haben. Damit wäre es ein Leichtes für sie gewesen, den Vorwurf der Götzenanbetung zu widerlegen.
Piana ist sich ziemlich sicher: Wenn sich das Grabtuch zum Zeitpunkt in Konstantinopel befand, als die Kreuzritter 1204 angriffen, dann waren es auch Kreuzritter, die es an sich genommen haben. Bis auf Widerruf sei das die plausibelste Annahme. Und es konnte nicht irgendein Kreuzritter sein, der eine so kostbare Reliquie an sich nahm. Die Geschichtswissenschaft konnte eine Reihe von Hinweisen finden, die eine Vertiefung verdienen.
Otto de la Roche, Herr von Athen
Im Jahr 1581 veröffentlichte in Turin der savoyische Historiker Philibert de Pingon aus Chambéry sein Buch „Sindon evangelica. Accesserunt hymni aliquot, insignis bulla pontificia. Elegans epist. Francisci Adorni Ies. de peregrinatione memorabili“. Es handelt sich um die erste gedruckte Monographie über das Grabtuch. Pingon stellte darin einen Zusammenhang zwischen dem Grabtuch und Griechenland her. Diese Tradition steht also bereits ganz am Beginn der Beschäftigung mit dem Grabtuch im moderneren Sinn.
Nach Pingon sollte der Kenntnisstand dazu aber nicht weiter vertieft werden. Erst in den 1980er Jahren kam durch ein neues wissenschaftliches Interesse Bewegung in die Sache. Durch einige Dokumente wissen wir heute, daß sich das Grabtuch Anfang des 13. Jahrhunderts, unmittelbar nach der Unterwerfung und Plünderung Konstantinopels, in Athen befand.
Das wichtigste Dokument ist ein Brief, dessen Original verlorengegangen, doch in einer Abschrift aus dem 19. Jahrhundert erhalten ist. Es handelt sich um ein Schreiben vom 1. August 1205 an Papst Innozenz III., mit dem Theodoros Angelos, ein Neffe des byzantinischen Kaisers Isaak II. Angelos, gegen den Angriff der Kreuzritter und den Reliquienraub protestierte. Darin heißt es:
„Beim Aufteilen der Beute erhielten die Venezianer die Gold‑, Silber- und Elfenbeinschätze, die Gallier die heiligen Reliquien, deren Allerheiligste das Tuch ist, in das unser Herr Jesus Christus nach seinem Tod und vor seiner Auferstehung gewickelt wurde… Wir wissen, daß diese heiligen Gegenstände in Venedig, in Gallien und an anderen Orten der Plünderer aufbewahrt werden, das heilige Tuch aber wird in Athen verwahrt.“
Der zentrale Satz ist zunächst die Erwähnung des Tuches, „in das unser Herr Jesus Christus gewickelt war“, dann die Nennung von Athen als Aufbewahrungsort. Athen war seit Ende 1204 Teil eines Lehens des von den Kreuzrittern errichteten lateinischen Königreiches Thessaloniki. Erster Herr von Athen wurde der aus der Freigrafschaft Burgund stammende Reichsritter Otto de la Roche.
Die Aufbewahrung des Grabtuches in Athen wird von einer zweiten Quelle bestätigt. Im Sommer 1205 wurde die kostbare Reliquie von Nikolaos von Otranto, dem Abt von Casole, gesehen. Er war Abt eines Klosters von Basilianermönchen, die in mehreren Niederlassungen in Süditalien bis ins Spätmittelalter das alte griechische Erbe bewahrten. Da der Abt sowohl der griechischen als auch der lateinischen Sprache mächtig war, begleitete er den Päpstlichen Legaten, Kardinal Benedikt von Santa Susanna, als Übersetzer nach Athen.
Ray-sur-Saone in der Freigrafschaft Burgund
Otto de la Roche gehörte zu den wichtigsten Gestalten des Vierten Kreuzzuges. Es scheint aufgrund der Quellenlage, die das Grabtuch in Athen belegt, naheliegend, daß Otto de la Roche, Ritter des Heiligen Römischen Reiches, die heilige Reliquie Ende 1204 aus Konstantinopel in seine neue Herrschaft mitbrachte. Entsprechend darf angenommen werden, daß er das Grabtuch, als er 1225 die Herrschaft über Theben und Athen seinem Sohn Guido I. überläßt und in seine Heimat zurückkehrt, dorthin mitnimmt.
Auf Schloß Ray-sur-Saone in der Freigrafschaft Burgund wird noch heute eine Kassette aufbewahrt, in der laut Familientradition das Grabtuch in das heutige Frankreich gebracht worden sei. Die Freigrafschaft Burgund wurde 1668 von Frankreich besetzt und 1678 annektiert. Das Schloß kam über Otto de la Roche’s Ehefrau in den Familienbesitz. Das Geschlecht herrschte bis 1308 vier Generationen lang über Athen, zunächst als Herren, später als Herzöge.
Die wissenschaftliche Erforschung des Lebens von Otto de la Roche und weitere historische Zeugnisse „ermutigen, in diese Richtung weiterzuforschen“, so Piana.
Direkte Nachfahrin war erste belegte Eigentümerin des Grabtuchs
Die genannten Hinweise und der Stammbaum der Familie lassen einen Übergang des Grabtuches in die Hände von Jeanne de Vergy vermuten, einer Ur-Ur-Ur-Enkelin von Otto de la Roche. Jeanne de Vergy war die zweite Ehefrau von Geoffroy de Charny. Das Ehepaar war der erste sicher nachweisbare Eigentümer des Grabtuches im 14. Jahrhundert. 1357 stellten sie die heilige Reliquie erstmals öffentlich aus. Ab diesem Augenblick ist die Geschichte des Grabtuches genau dokumentiert.
Das Schweigen rund um die Überführung des Grabtuchs aus dem Osten in den Westen könnte mit den Strafandrohungen zusammenhängen, die gegen den Reliquienhandel nach der Eroberung Konstantinopels verhängt wurden.
Das Vierte Laterankonzil hatte 1215, zehn Jahre bevor Otto de la Roche Griechenland verließ, den Reliquienhandel verurteilt. Die Kirche untersagte jede Form der öffentlichen Verehrung ohne kirchliche Erlaubnis. Sie versuchte damit den massenhaften Reliquienraub, der im Osten geschehen war, und die unkontrollierte Verschleppung und Zerstreuung der Reliquien wieder unter Kontrolle zu bringen. Für de la Roche wäre es schwierig gewesen, das Eigentum der kostbaren Reliquie zu begründen. Es scheint kaum denkbar, daß jemand anderer es gewagt hätte, die 1205 in Athen in seiner Herrschaft belegte Reliquie zu entwenden.
Piana verbindet seine Darlegungen mit einem Aufruf, die Forschung fortzusetzen und den Spuren nachzugehen. Das Leinentuch „ist ein Instrument der Vorsehung, das die Passion Jesu Christi schildert. Es fordert den Verstand heraus und ist zugleich imstande, zu den Herzen auch der Menschen des 21. Jahrhundert zu sprechen, wie zu den Menschen aller Jahrhunderte zuvor.“
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons
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↑1 | Alessandro Piana: Sindone, gli anni perduti (Das Grabtuch. Die verlorenen Jahre), Sugarco, Mailand 2007. |
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Ich habe keinen Zweifel an der Echtheit des Grabtuchs von Turin. Die Aufbewahrung ist logisch. Ein Anhänger Jesu kaufte den Soldaten die Kleider Jesu ab. Die geschichtliche Darstellung ist für mich überzeugend.
Hier geht es doch nicht um die Kleider Jesu. Es geht um das Grabtuch. Gewebt in jener Weise und jenem Material, welches der Hohepriester der Juden zum Versöhnungsopfer genau einmal im Jahr trug. Es drängt sich die Annahme auf, dass Petrus es an sich genommen hatte, als er am Ostermorgen das Grab betrat. Da die Juden ein leeres Grab fanden und sagten, der Leichnam Jesu sei von seinen Jüngern gestohlen worden, werden sie wohl auch keine Tücher dort gessehen haben. Öffentlich zeigen konnte Petrus diese Tücher (das Zweite ist das vera icon, welches gefaltet daneben lag) aber nicht, sonst hätte er als Leichenfledderer und Grabräuber gegolten.
Und wo ist das Problem?
Es geht in beiden Fällen um Reliquien.
Ihre Ergänzungen sind doch auf der gleichen Schiene, Folgerungen aus dem Bericht in den Evangelien.
Die Soldaten waren zum Grabtuch-Auffindungs-Zeitpunkt außer Gefecht.