
Eine Stellungnahme des hessischen Philologenverbandes deckt weitere Schwächen und Widersprüche der neuen Sexualerziehungsrichtlinie auf.
Ein Gastbeitrag von Hubert Hecker.
In dem Erlass zur schulischen Sexualerziehung werden die schulischen Rahmen- und Praxisbedingungen nicht angemessen berücksichtigt. Das ist ein Ergebnis der Stellungnahme des hessischen Lehrerverbandes zu der neuen Richtlinie.
Demnach enthält der neue Lehrplan neben strukturellen Widersprüchen eine Reihe von schulpraktischen Überforderungen von Lehrern und Schülern. Der Vorsitzende des Gymnasiallehrerverbandes, Jürgen Hartmann, weist auf „irritierende Ansprüche“ hin, die Kritik auf sich ziehen müssten. „Streit und Widerstand sind programmiert, da auch dieser hessische Lehrplan, wie seine baden-württembergische Variante, eine besondere Brisanz aufweist.“
Überforderung und Frühsexualisierung
Als Beispiel für eine Überforderung der Schüler nennt er die verbindliche Vorgabe, dass „10- bis 12-Jährigen unterschiedliche sexuelle Orientierungen und geschlechtlichen Identitäten (Hetero- Bi-Homo-und Transsexualität)“ vermittelt werden sollen.
Im Lehrplan findet eine Verschiebung der Themen hin zu Frühsexualisierung statt.
- Früher klärten die Lehrkräfte in der 6. Klasse (Pubertätsalter) über die biologischen, emotionalen und sozialen Bezüge menschlicher Sexualität auf. Nunmehr sollen schon die Grundschüler in der Latenzzeit mit sexuellen Themen einschließlich homosexueller Partnerschaft überfordert werden.
- In der schwierigen Selbstfindungsphase der frühen Pubertät (5. und 6. Klasse) brauchen die Kinder eine wertschätzende Pädagogik mit klaren Grenzziehungen. Die Beschäftigung mit den sexuellen Variationen von adulten Minderheiten ist dabei eher hinderlich. Der Lehrerverbandsvorsitzende kritisiert daran, dass solche Begrifflichkeiten wie „sexuelle Orientierungen und Identitäten“ oder „Transsexualität“ unmöglich in dieser Altersstufe angemessen behandelt werden könnten – ganz zu schweigen von der geforderten Akzeptanz-Vermittlung.
Überfrachtung des Lehrplans mit gesellschaftlichen Richtungsproblemen
Auch für die weiteren Altersstufen der 13- bis 19-jährigen Schülern nähmen die Lehrplanthemen zur Sexualität der Vielfalt einen „sehr breiten Raum“ ein. Solche Themenformulierungen wie „Vielfalt sexueller Orientierungen und geschlechtlicher Identitäten“ seien „augenscheinlich nach den Vorstellungen der Partei Bündnis 90/Die Grünen“ in den Lehrplan genommen worden.

Der Lehrervertreter sieht darin eine Überfrachtung des Lehrplans. Er stellt eine Schwerpunktverlagerung von der bisherigen fachlich-sexualkundlichen Vermittlung auf gesellschaftswissenschaftliche und soziologische Aspekte fest: „Gesellschaftliche Problemfelder und Widersprüche sollen mit Hilfe des Sexualkunde-Unterrichts behandelt, Konflikte womöglich gelöst werden.“ Diese Anforderungen bedeuten nach seiner Ansicht eine zeitliche und sachliche Überforderung der Schule. Die daraus erwachsende „unzumutbare Belastung der Kolleginnen und Kollegen ab“ lehnt der Verband ab.
Auf weitere „immense Widersprüche“ weist der Lehrerverbandsvorsitzende hin: Einerseits sollen die Schüler/innen auf „Gleichberechtigung und Geschlechtergerechtigkeit“ orientiert werden, andererseits soll auch auf „unterschiedliche kulturelle und religiöse Werte und Normen Rücksicht genommen werden“. Solche widersprüchlichen Anforderungen, die auf gegensätzliche Strömungen in der Gesellschaft zurückgehen, sollten nicht der Schule aufgebürdet werden, weil „die Lehrkräfte damit schlichtweg überfordert sind“. Die Schule kann diese „gesamtgesellschaftlichen Probleme“ nicht lösen.
Statt Zurückhaltung und Toleranz…
Darüber hinaus sieht der Philologenverband weitere problematische Tendenzen in der Richtlinie. Neben den gesellschaftspolitischen Aspekten sei mit der Schwerpunktsetzung auf die Themen Akzeptanz von sexueller Vielfalt der Lehrplan „auffallend ethisch ausgerichtet“. Die mehrfach geforderte „Wertschätzung“ bestimmter Positionen erweist sich aber als ethische Dirigierung oder staatliche Bevormundung in sexualethischen Fragen. In diesem Zusammenhang würden „Persönlichkeitsaspekte, die zutiefst privat sind und primär in den elterlichen Erziehungsbereich gehören, in das unterrichtliche Geschehen einbezogen“.
Der Lehrervertreter mahnt eine schulische „Zurückhaltung“ bei sexuellen Themen an. „Gegenüber verschiedenen Wertvorstellungen“ bei Sexualthemen hätten Schule und Lehrer sich von der Haltung der „Offenheit und Toleranz“ leiten zu lassen. Mit diesen Formulierungen werden die verfassungsrechtlichen Vorgaben für den Sexualkundeunterricht zitiert. Die werden in der Einleitung der hessischen Sexualerziehungsrichtlinie zwar brav aufgeführt. Aber Kultusminister Lorz lehnt die Toleranz-Haltung im Rahmen der Sexualerziehung ab. Die CDU-Fraktion will die Toleranz-Kategorie sogar aus dem Schulgesetz verbannen.
… Indoktrination durch die Akzeptanz-Forderung
Auf dem Hintergrund dieser Ablehnungsstrategie unterlaufen die Ausführungsbestimmungen des neuen Lehrplans die auch von der hessischen Verfassung geforderte Toleranz, wenn sie Lehrer wie Schüler auf eine bestimmte Wertschätzung verbindlich festlegen will. Die Lehrpersonen werden in die Pflicht genommen, den Schülern positive Werturteile über vielfältige sexuelle Variationen und Orientierungen beizubringen. Das ist mit der Toleranzhaltung nicht vereinbar. Denn die geforderte „wertschätzende Akzeptanz“ – so der Lehrervertreter – nimmt „Eltern, Schülern und Lehrkräften die Freiheit, zumindest in Teilen zu anderen Bewertungen der verschiedenen Aspekte von Sexualität zu kommen“. Das ist nur bei der Toleranz-Einstellung möglich.

Mit dem letzten Punkt hat der Lehrervertreter das Neutralitätsgebot für staatliche Stellen angesprochen. Darunter ist zu verstehen: Bei umstrittenen gesellschaftlichen Wertvorstellungen zu einem Lebenskomplex müssen auch Lehrplan und Schule die widerstreitenden Auffassungen abbilden oder widerspiegeln, damit sich die Schüler ein eigenes (Wert-) Urteil bilden können. Sie dürfen jedenfalls nicht den Schülern einseitig die Akzeptanz einer der beiden Kontrovers-Meinungen aufnötigen. Das wäre Indoktrination. Doch genau das verlangt der hessische Lehrplan von den Lehrern.
Auch der Philologenverband von Nordrhein-Westfalen erklärte auf Nachfrage, dass die unterschiedlichen Elternwünsche und ‑erwartungen von Lehrplan und Schule zu respektieren seien. Die Lehrervereinigung legt ebenfalls Wert auf die Feststellung, dass die Verantwortung für den Sexualerziehungsunterricht bei den Lehrkräften liege und nicht an externe Personen oder Organisationen delegiert werden sollten.
Lehrer als sozial- und sexualpädagogische Moderatoren?
Ungenügende Kenntnisse und Erfahrungen von schulischen Realitäten zeigen sich in weiteren Passagen des Lehrplans. So will der Kultusminister Schule und Klassen zu einem Erfahrungsraum machen, in dem „Sexualität zum gemeinschaftlichen Leben gehörend erlebt“ werden soll. Doch darin dürfte sich die Mehrheit der Lehrer einig sein, dass ein sexualisiertes Schulklima nicht zu einem leistungsorientierten Lernklima beiträgt.
Nach Lorz’ Vorstellungen sollen die Lehrer nicht nur fachlich unterrichten, sondern auch sozialpädagogisch zu einem neuen „Schulklima“ in den „Schulgemeinden“ beitragen. Dafür will der Kultusminister unter anderem die Lehrenden verbindlich darauf festlegen, „gegebenenfalls Schülerinnen und Schüler beim Coming Out zu unterstützen“. Doch dazu sind die Lehrer weder ausgebildet noch gehört es zur Aufgabe der Unterrichtenden, solche komplexe Prozesse sozialpsychologisch zu begleiten oder gar zu fördern. Außerdem kann die Schule gar nicht der sozial vertraute Raum sein, den Wissenschaftler für solches Geschehen präferieren.
Handwerkliche Mängel

Was die Lehrervertreter nicht angesprochen haben, sind Strukturmängel des Lehrplans. Seit fünfzig Jahren ist es curricularer Standard, dass Lehrplanthemen mit Lernzielen oder Kompetenzen didaktisch strukturiert werden. Damit sollen Lehrer und Schüler Klarheit bekommen, welche Themenaspekte zu behandeln sind und welche Lernleistungen erwartet werden. So wäre das Hauptthema „Bedeutung der Ehe und Familie“ im Einzelnen nach sexuellen, sozialen, reproduktiven, kulturellen und ethischen Bezügen zu entfalten.
Der neue Lehrplan fällt hinter diesen Standard zurück. Im 2. und 3. Kapitel wird eine unstrukturierte Menge an Themen, Inhalte und Aspekte aufgelistet. Im Vergleich mit dem früheren Lehrplan und dem durchdachten Lehrplankonzept der bayrischen „Familien- und Sexualerziehung“ macht der hessische den Eindruck eines Themen-Sammelsuriums. Dieser Aspekt offenbart die generelle Schwäche der Richtlinie bezüglich einer professionellen Konzeption von Lehr- und Lernorientierung.
Der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes, Josef Kraus, hat sich den Hauptkritikpunkten des hessischen Philologenverbandes angeschlossen. Das schreibt er in einem Aufsatz vom 24. 1. 2017.
Mit den schul- und fachpädagogischen Kritikpunkten von zwei renommierten Vertretern von Lehrerverbänden sind substantielle Gründe aufgezeigt, den Lehrplan so bald wie möglich in die Revision zu schicken.
Text: Hubert Hecker
Bild: Demo für alle/Autor