(Rom) Es gibt Ereignisse in der Geschichte, die großes Interesse finden, während andere, bedeutende Kapitel kaum bekannt sind. Zu den Gespenstern, die in Abständen immer wieder auftauchen, gehört die Rolle der Stadt Genua nach dem Zweiten Weltkrieg als Hafen für Menschen, die nach Übersee wollten, um ein neues Leben zu beginnen. Das Völkchen, das sich zu diesem Zweck in der Stadt aufhielt, war buntgemischt. Das waren etliche Juden, die Europa nach den Verfolgungen in die USA, nach Palästina oder Lateinamerika verlassen wollten. Da waren Nationalsozialisten, die sich etwas zuschulden kommen hatten lassen und versuchten, das Weite zu suchen.
Da waren deutsche Soldaten, die aus Kriegsgefangenenlagern geflohen waren und nicht mehr eingefangen werden wollten. Da waren andere deutsche Soldaten, die aus Ostdeutschland stammten, also dem Gebiet östlich von Oder und Neiße, aus dem Sudetenland oder den deutschen Sprachinseln im Osten und Südosten, die nicht mehr in ihre Heimat zurückkehren konnten, weil diese von der Roten Armee besetzt war und man regelrecht Jagd auf alle Deutschen machte. Da waren Zivilisten, die in dem zerstörten Europa keine Zukunft mehr sahen. Die Rede war nun von Juden und Deutschen, aber es fanden sich auch Italiener, Franzosen, Kroaten, Niederländer und viele mehr. Manche reisten unter falschem Namen und mit falschen Papieren, was damals leichter war als man sich heute vorstellen kann. Die Gründe für das eine wie für das andere waren vielschichtig.
Wie die Geschichten dieser unterschiedlichen Schicksale auch gewesen sein mögen, es gibt kaum ein Kapitel der Geschichte, aus dem nicht irgendwer eine Anklage gegen die Kirche zimmert. Die Namen der „Ankläger“ spielen keine Rolle. Im konkreten Fall finden sich solche auf deutscher wie auf italienischer Seite.
Jüngst forderte einer von ihnen Genuas Erzbischof, Tarcisio Kardinal Bertone, auf, „Licht“ in die „Beziehungen zwischen der Kurie des Erzbistums Genua und den Nationalsozialisten zu bringen, die sich nach dem Zweiten Weltkrieg über Genua“ abgesetzt hätten. Das Märchen von einer SS-Geheimorganisation namens Odessa geistert noch heute in manchen Köpfen herum. In die Köpfe hineingebracht haben es weniger historische Fakten, dafür aber der Roman eines englischen Bestseller-Autors. Ein anderer gern gebrauchter Begriff lautet „Rattenlinie“. Auch Nachkriegshistoriker wollen schließlich ihre Bücher verkaufen und blasen gelegentlich die Bedeutung dieses oder jenes Details etwas aus. Die „Rattenlinie“ scheint seit einigen Jahren besonders in Mode zu stehen. Bedeutungsvoller für die Geschichte wird sie deshalb nicht. In den 60er Jahren wurde Adolf Eichmann (Reichssicherheitshauptamt) von einem israelischen Geheimdienstkommando in Lateinamerika gefangen und nach Israel gebracht. Damit wurde signalisiert, daß kein Kriegsverbrecher irgendwo sicher sei. Allerdings blieb es bei dieser einzigen Aktion, was andeutet, daß wohl doch nicht so viele wirkliche Nazi-Größen über die „Rattenlinie“ nach Südamerika entkommen sind.
Und immer findet sich einer, der die Kirche anpatzt
In der genannten Forderung an Kardinal Bertone schwingt die unausgesprochene Anklage mit, die Kirche habe Täter, ja Kriegsverbrecher vor der gerechten Strafe beschützt. Was für eine Mischung: NS-Kriegsverbrecher und Kirche. So jedenfalls denken sich manche die Welt. Allerdings nur ihre eigene. Solche Anklagen sagen daher zunächst weniger über historische Fakten dafür aber vor allem etwas für den Ankläger und dessen Denkwelten aus.
Die Tatsache, daß die katholische Kirche selbst zu den Verfolgten des NS-Regimes gehörte, scheinen manche Historiker und Journalisten vorschnell zu „vergessen“. Es gab deutsche Diözesen, in denen jeder dritte Priester verfolgt wurde. Die Zahl der Märtyrer in den Konzentrationslagern wurde von der Kirche nach dem Krieg, im Gegensatz zu anderen Opfergruppen, nicht breitgetreten, weil sie zur Versöhnung beitragen und Gräben zuschütten will. Die Kirche denkt eben anders als manche weltliche und politische Gruppe. Sie ist keine Strafrechtsbehörde. Sie denkt in den Kategorien Bekehrung, Umkehr und Buße.
Da es im konkreten Fall um eine Anklage gegen die Erzdiözese Genua geht, kann eine Anklage gegen deren herausragende Gestalt des 20. Jahrhunderts nicht fehlen. Kardinal Giuseppe Siri wird vorgeworfen, den kroatischen Priester Karlo Dragutin Petranovic gedeckt zu haben. Petranovic war ehemaliger Militärkaplan der kroatischen Ustascha und steht seinerseits wieder unter Verdacht, Nationalsozialisten und deren „Kollaborateure“ mit falschen Reisepässen und einer neuen Identität versorgt zu haben.
Die „Rolle“ von Kardinal Siri und der Kurie von Genua ist gründlich untersucht
Die Anklage wird im Brustton der Empörung vorgebracht. Übersehen wird dabei, weil es offenbar nicht recht ins Bild paßt, daß nicht erst „Licht“ in die Sache gebracht werden muß, weil die Sache bereits untersucht wurde. Untersucht wurde sie in Teilaspekten sogar schon mehrfach, jüngst vom Historiker Pier Luigi Guidacci, Dozent an der Päpstlichen Lateranuniversität. In seinem Buch „Hinter der Schwarzen Legende“ (Mursia 2015) widmete er Genua ein ganzes Kapitel (S. 172–196). Darin faßt er den aktuellen Forschungsstand zusammen und ergänzt diesen durch eigenes Quellenstudium. Untersucht wurden von ihm die Archivbestände der Genueser Kurie, von Kardinal Siri und kroatischer Archive, aber auch beispielsweise die Autobiographie des ehemaligen SD-Offiziers Erich Priebke, der sich selbst nach Argentinien abgesetzt hatte. Giudacci zeichnet zunächst ein Bild der unmittelbaren Nachkriegszeit, dem Chaos an den Grenzen und den Menschenmassen, die in Europa hin- und hergeschwemmt wurden. Die vielen Flüchtlinge aller Art hatten in den meisten Fällen keine Papiere. Sie konnten ihre Identität gar nicht beweisen.
Das Hilfswerk des Erzbistums Genua leistete zahlreichen Juden Hilfe, die in dieser Umbruchzeit auf der Suche nach neuen, sicheren Ufern herumirrten. Diese Hilfe setzte nicht erst im Mai 1945 ein, sondern bereits im September 1943 als Italien zum besetzten Verbündeten des Großdeutschen Reiches wurde. „Viele ligurische Pfarrer gehörten zu den ersten, die sie aufnahmen“. Don Raimondo Viale, der 2000 als „Gerechter unter den Völkern“ geehrt wurde, ist nur einer von ihnen. Don Viale arbeitete eng mit Kardinal Pietro Boetto zusammen, der von 1938–1946 Erzbischof von Genua war. Der Kardinal wurde posthum vom Staat Israel geehrt. Er hatte den Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde, Lelio Vittorio Valobra, versteckt und etliche andere Juden in den verschiedenen Klöstern untergebracht. Die Kurie arbeitete mit dem Hilfswerk für jüdische Auswanderer DELASEM zusammen. Der Sekretär von Kardinal Boetto, Don Francesco Repetto, besorgte für die Juden Reisepapiere. Mit anderen Priestern, zum Beispiel Don Bruno Venturelli, war allein ein Dutzend Genueser Priester Teil einer „Solidaritätskette“, um den Verfolgten während des Krieges und den Hilfesuchenden Juden nach dem Krieg beizustehen.
Die Hilfswerke der Genueser Kirche
Nicht zu vergessen ist die große Hilfe die den Genuesern geleistet wurde, die verstärkt seit Herbst 1943 Opfer alliierter Luftangriffe wurden. Msgr. Giuseppe Siri suchte im Frühjahr 1945 persönlich Partisanenvertreter auf, um die Lebensmittellieferungen für die vom Hunger bedrohte Stadt sicherzustellen. Die Partisanen versuchten diese abzufangen, weil die Stadt noch von deutschen Truppen und italienischen Faschisten kontrolliert wurde. Der spätere Erzbischof konnte sie jedoch davon überzeugen, daß der Hauptleittragende die Zivilbevölkerung ist.
Siri wurde 1946 zum Nachfolger Boettos. Er gründete, kaum im Amt, das Hilfswerk Auxilium für die notleidenden Genueser und verstärkte die Hilfe „für die vom Nazifaschismus verfolgten Juden“. Gleichzeitig forderte er ordentliche Gerichtsverfahren gegen tatsächliche oder vermeintliche Täter und erhob seine Stimme gegen Lynchjustiz, Racheakte und Erschießungen ohne Prozeß wie sie auch von Partisanen durchgeführt wurden. Die Lage war natürlich heikel. Man war sich bewußt, so Guidacci, nahm es jedenfalls an, daß sich auch wirkliche Kriegsverbrecher unter die große Schar der Flüchtlinge, Hilfesuchenden und Auswanderungswilligen gemischt haben könnten.
Allerdings zeigten weder die italienischen Behörden noch das Rote Kreuz noch die argentinische Vertretung (Argentinien war das Hauptzielland der Auswanderer) und auch nicht die Alliierten ein gesteigertes Interesse an strengen Paßkontrollen. Es gab schlichtweg Wichtigeres zu tun. Es war daher nicht schwer auf ein Schiff zu gelangen. In dem Chaos und generell geringer, behördlicher Kontrolle der Bevölkerungsbewegungen blühte der Schwarzmarkt für Reisepapiere. In dem allgemeinen Durcheinander war es nicht schwer seine Spuren zu verwischen.
In den meisten Fällen ging es nicht einmal um gefälschte Pässe, sondern darum, vom Roten Kreuz reguläre, neue Papiere zu erhalten. Das klingt atemraubend, war es damals aber keineswegs. Eine Unzahl von Menschen besaß aus den unterschiedlichsten Gründe keine gültigen Papiere. Man ging zum Roten Kreuz, machte dort Angaben zur eigenen Identität, die man von anderen Personen bezeugen ließ. Die gegenüber dem Roten Kreuz gemachten Angaben, waren meist richtig, aber nicht immer. Europa erlebte es 2015 mit der Flüchtlingswelle nicht anders. Die meisten kamen ohne Papiere.
Anschuldigungen gegen Kardinal Siri
In diesem Kontext wurde Kardinal Siri beschuldigt, allerdings erst viel später, Kriegsverbrecher gedeckt zu haben. Konkret wird auf den kroatischen Priester Petranovic verwiesen. Es wurde bereits aufgezeigt, daß niemand „gedeckt“ werden mußte. Reguläre neue Papiere erhielt man vom Roten Kreuz und notfalls gab es einen bereitwilligen Schwarzmarkt, der wiederum von ganz unterschiedlichen Personen bedient wurde, aber auch von der örtlichen Kriminalität.
Kardinal Siri bestritt zu seinen Lebzeiten die gegen ihn erhobenen Anschuldigungen, wie der Vatikanist Benny Lai in seinem Buch „Il Papa non eletto“ (Der nicht gewählte Papst, Laterza 1993) schrieb. Siris Generalvikar, Msgr. Giovanni Cicali, stellte 2003 die empörte Gegenfrage: „Wie kann man nur eine solche Behauptung erheben?“
Cicali weiter:
„Sri war ein überzeugte NS-Gegner und wurde deshalb von der deutschen Besatzungsmacht verfolgt. Er war ein Zögling von Kardinal Minoretti, einem entschiedenen Feind Mussolinis, der Genua nicht besuchte, solange Minoretti Erzbischof war, weil er wußte, daß der Kardinal ein Antifaschist war.“
Die historischen Untersuchungen, so Guidacci, bestätigen die Aussagen Cicalis.
Im Diözesanarchiv von Genua findet sich auch ein Dokumentenbestand zu Karlo Petranovic. Dazu gehört dessen Korrespondenz mit Kardinal Siri. Darin beklagt sich der kroatische Geistliche über Einschränkungen, die ihm vom Erzbischof auferlegt wurde. Aus den Briefen Petranovic geht klar hervor, so Guidacci, daß der Kroate in keiner Weise im Auftrag des Erzbischofs handelte. Es könne keine Rede davon sein, daß Petranovic in irgendeiner Weise von Siri protegiert wurde oder auch nur bei diesem im Ansehen gestanden hätte. Behauptungen, er habe „Empfehlungsschreiben“ des Kardinals oder anderer Prälaten der Genueser Kirche besessen, werden durch die Archivbestände und durch Petranovic eigene Klagen dementiert. Ein glattes Märchen sei es, daß Petranovic die Fahrzeuge der Kurie zur Verfügung gestanden hätten. Offenbar genoß Petranovic auch im Genueser Klerus keinen besonderen Rückhalt oder Ansehen. Aus seinen Schreiben geht nichts dergleichen hervor, vielmehr beklagte er sich über „Vorurteile“, die ihm entgegengebracht würden.
Auch Msgr. Mario Grone, der Sekretär von Kardinal Siri, weiß nichts von direkten Kontakten zu Petranovic oder Hilfestellungen für Kriegsverbrecher.
„Weder sind mir jemals Unterlagen untergekommen, die dergleichen angedeutet hätten, noch kam mir dergleichen zu Gehör. Ich habe nach dem Tod des Kardinals sein Privatarchiv gesichtet und geordnet. Ich kann versichern, auch dort nicht die geringste Spur irgendeiner Notiz oder Korrespondenz gefunden zu haben, die irgendeinen Zusammenhang, ein direkte Aktivität oder auch nur eine Kenntnis von einer Fluchtlinie von nazistischen Kriegsverbrechern oder gar Hilfe für diese angedeutet hätten.“
Der Historiker Guidacci bestätigte 2015 mit seiner Arbeit diese und andere Aussagen.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: MiL
Danke für die Ausführungen. Doch ich fürchte, auch hier kommt es in der Öffentlichkeit nicht auf die Tatsachen an, sondern auf die wirkmächtigen Narrative.
Hier möchte ich etwas Grundsätzliches zu bedenken geben:
War es 1945 wirklich denkbar, daß deutsche Kriegsverbrecher, wirkliche oder vermeintliche, von der Siegerjustiz einen fairen Prozeß erwarten konnten?
Die Siegerjustiz war ja vom Gedanken der Rache geprägt und die Sieger hatten schreckliche Greuel begangen (Auslieferung antikommunistischer Kosaken, Kroaten, Serben und Slowenen an Tito durch die Briten als bizarrstes Beispiel – nach der Bombardierung Dresdens).
Mithin war auch die juristische und vor allem moralische Legitimation des Nürnberger Tribunals prekär. Die Sowjetunion war klarerweise ein Terrorstaat, der nur ein gutes Jahrzehnt zuvor mehrere Millionen Ukrainer durch eine künstliche Hungersnot ermordet hatte – zuzüglich zu den anderen Greuel der Lenin- und Stalin-Ära.
Und ein deutscher Soldat oder SS-Mann, den allenfalls das Gewissen plagt, soll sich einem sowjetisch beschickten Tribunal stellen? Um einen fairen Prozeß zu erwarten?
Nein, in solchen Fällen ist die Fluchthilfe ggf. ein Werk der Nächstenliebe. In wirren Zeiten kann man auch nicht alles abwägen. Insofern kann sich ein Geistlicher sehr wohl denken: Ich rede dem betr. Offizier oder Soldaten ins Gewissen, aber ich verpfeife ihn nicht an ein illegitimes Gericht.
Es heißt doch im Artikel ganz richtig:
„Die Kirche denkt eben anders als manche weltliche und politische Gruppe. Sie ist keine Strafrechtsbehörde. Sie denkt in den Kategorien Bekehrung, Umkehr und Buße.“
Das muß aber dann für alle gelten.
Da die Geschichte der Sieger schreibt, haben wir im deutschen Sprachraum hier eine stark disproportionale Wahrnehmung. Man muß gerade in der im Artikel verhandelten Frage sehr objektiv alle moralisch relevanten Kriterien abwägen. M. a. W., hätte ein Bischof jemandem zur Flucht verholfen, so könnte er genannte Gründe geltend machen.
Analoges ereignete sich ja übrigens mit dem Bosnien-Tribunal in Den Haag, das die kroatischen Generälen Gotovina und Markac zu enormen Haftstrafen verurteilte, dann aber wundersamerweise freiließ. Kann man sich auf so eine Justiz verlassen? Bezüglich Bosnien und Den Haag ist m. E. noch nicht das letzte Wort gesprochen, zu politisch erscheint mir da manches. So wie in Nürnberg.
Es muß die Aufgabe der Kirche sein, daß, wenn sie schon Politik macht, sich hier nicht in eine bestimmte Position drängen läßt.