
Von Roberto de Mattei*
Kann ein Papst für ein tadelnswertes Verhalten öffentlich zurechtgewiesen werden? Oder muß das Verhalten eines Gläubigen bedingungsloser Gehorsam sein, der so weit geht, jedes Wort oder jede Geste eines Papstes zu rechtfertigen, selbst wenn diese offen Ärgernis erregen?
Laut einigen, wie dem Vatikanisten Andrea Tornielli, ist es möglich, dem Papst den eigenen Widerspruch „von Angesicht zu Angesicht“ zum Ausdruck zu bringen, ohne dies aber öffentlich zu zeigen. Diese These enthält zumindest ein wichtiges Eingeständnis. Der Papst ist nicht unfehlbar, außer wenn er ex cathedra spricht. Anders wäre es nicht erlaubt, auch nicht privat, ihm zu widersprechen. Der einzige Weg wäre dann der des religiösen Schweigens. In Wirklichkeit kann der Papst, der nicht Christus ist, sondern nur Sein Vertreter auf Erden, sündigen und irren. Stimmt es aber, daß er nur privat, aber niemals öffentlich zurechtgewiesen werden kann?
Um darauf zu antworten, ist es wichtig, an das historische Beispiel par excellence zu erinnern, jenes, das uns die goldene Verhaltensregel liefert: der sogenannte Antiochenische Zwischenfall. Der Heilige Paulus erinnert im Brief an die Galater, der wahrscheinlich zwischen 54 und 57 n. Chr. geschrieben wurde, mit folgenden Worten daran:
„[…] Sie sahen, dass mir das Evangelium für die Unbeschnittenen anvertraut ist wie dem Petrus für die Beschnittenen – denn Gott, der Petrus die Kraft zum Aposteldienst unter den Beschnittenen gegeben hat, gab sie mir zum Dienst unter den Heiden – und sie erkannten die Gnade, die mir verliehen ist. Deshalb gaben Jakobus, Kephas und Johannes, die als die ‚Säulen‘ Ansehen genießen, mir und Barnabas die Hand zum Zeichen der Gemeinschaft: Wir sollten zu den Heiden gehen, sie zu den Beschnittenen. Nur sollten wir an ihre Armen denken; und das zu tun, habe ich mich eifrig bemüht.
Als Kephas (der aramäische Name für Petrus, den Jesus ihm gegeben hatte) aber nach Antiochia gekommen war, bin ich ihm offen entgegengetreten, weil er sich ins Unrecht gesetzt hatte.
Bevor nämlich Leute aus dem Kreis um Jakobus eintrafen, pflegte er zusammen mit den Heidenchristen zu essen. Nach ihrer Ankunft aber zog er sich von den Heidenchristen zurück und trennte sich von ihnen, weil er die Beschnittenen fürchtete.
Ebenso unaufrichtig wie er verhielten sich die anderen Judenchristen, sodaß auch Barnabas durch ihre Heuchelei verführt wurde.
Als ich aber sah, daß sie von der Wahrheit des Evangeliums abwichen, sagte ich zu Kephas in Gegenwart aller: Wenn du als Judenchrist nach Art der Heidenchristen und nicht nach Art der Juden lebst, wie kannst du dann die Heidenchristen zwingen, wie Juden zu leben?“

Aus Angst, die Empfindlichkeit der Juden nicht zu verletzten, begünstigte Petrus mit seinem Verhalten die Position der „Judaisierer“, die glaubten, alle konvertierten Heidenchristen müßten sich beschneiden lassen und sich dem jüdischen Gesetz unterwerfen. Der Heilige Paulus sagt, daß der Heilige Petrus sich eindeutig ins Unrecht gesetzt hatte und er ihm daher „ins Angesicht widerstand“, also sich ihm öffentlich widersetzte, damit Petrus nicht länger ein Ärgernis in der Kirche war, über die er die höchste Autorität ausübte. Petrus akzeptierte die Zurechtweisung des Paulus, indem er in Demut seinen Irrtum erkannte.
Der Heilige Thomas von Aquin behandelt diese Episode in vielen seiner Werke. Vor allem merkte er an, daß „der Apostel sich Petrus in der Ausübung seiner Autorität und nicht seiner Leitungsautorität widersetzte“ (Super Epistolam ad Galatas lectura, Nr. 77). Paulus erkannte in Petrus das Oberhaupt der Kirche auf Erden an, sah es jedoch ebenso als legitim an, ihm angesichts der Schwere des Problems, das das Seelenheil betraf, zu widerstehen. „Die Art des Tadels war angemessen, weil es öffentlich und offenkundig war“ (Super Epistolam ad Galatas, Nr. 84). Die Episode, so der Doctor Angelicus, enthält Lehren sowohl für die Prälaten als auch für die ihnen Anvertrauten: „Den Prälaten wurde ein Beispiel der Demut gegeben, damit sie es nicht ablehnen, Ermahnungen von Seiten ihrer Untergebenen und Anvertrauten zu akzeptieren; und den Anvertrauten wurde ein Beispiel des Eifers und der Freiheit gegeben, damit sie sich nicht fürchten, ihre Prälaten zurechtzuweisen, vor allem wenn deren Schuld öffentlich und geeignet ist, für viele zur Gefahr zu werden“ (Super Epistolam ad Galatas, Nr. 77).
In Antiochien bewies der Heilige Petrus größte Demut und der Heilige Paulus leuchtende Nächstenliebe. Der Völkerapostel erwies sich nicht nur als gerecht, sondern auch als barmherzig. Zu den geistlichen Werken der Barmherzigkeit gehört die Ermahnung der Sünder, von den Moraltheologen „brüderliche Zurechtweisung“ genannt. Sie erfolgt privat, wenn die Sünde privat ist, öffentlich, wenn die Sünde öffentlich ist. Jesus selbst legte die Modalitäten fest:
„Wenn dein Bruder sündigt, dann geh zu ihm und weise ihn unter vier Augen zurecht. Hört er auf dich, so hast du deinen Bruder zurückgewonnen.
Hört er aber nicht auf dich, dann nimm einen oder zwei Männer mit, denn jede Sache muß durch die Aussage von zwei oder drei Zeugen entschieden werden.
Hört er auch auf sie nicht, dann sag es der Gemeinde. Hört er aber auch auf die Gemeinde nicht, dann sei er für dich wie ein Heide oder ein Zöllner.
Amen, ich sage euch: Alles, was ihr auf Erden binden werdet, das wird auch im Himmel gebunden sein und alles, was ihr auf Erden lösen werdet, das wird auch im Himmel gelöst sein“ (Mt 18, 15–18).
Man kann sich vorstellen, daß der Heilige Paulus den Heiligen Petrus privat zu überzeugen versuchte. Als dies offensichtlich mißlungen ist, zögerte er nicht, ihn öffentlich zurechtzuweisen, wie der Heilige Thomas von Aquin sagt, „zumal der Heilige Petrus vor allen gesündigt hatte, mußte er auch vor allen gerügt werden“ (In 4 Sententiarum, Dist. 19, q. 2, a. 3).

Die brüderliche Zurechtweisung, wie die Theologen lehren, ist kein fakultatives Gebot, sondern verpflichtend, vor allem für jene, die Verantwortung in der Kirche tragen, weil es direkt vom Naturrecht und dem positiven Göttlichen Recht herrührt (Dictionnaire de Théologie Catholique, vol. III, col. 1908). Die Ermahnung kann auch von den Untergebenen an die Oberen und von den Laien an Prälaten gerichtet sein. Auf die Frage, ob man gehalten ist, den Vorgesetzten öffentlich zu ermahnen, bestätigt dies der Heilige Thomas von Aquin in seinem Kommentar zu den Sentenzen des Petrus Lombardus, indem er allerdings darauf hinweist, daß immer mit äußerstem Respekt vorzugehen sei. Daher „sind die Prälaten von den Untergebenen nicht vor allen zurechtzuweisen, sondern demütig im Privaten, außer es besteht eine Gefahr für den Glauben; dann nämlich würde der Prälat zum Geringeren, sollte er in die Untreue abgleiten, und der Untergebene zum Höheren“ (In 4 Sententiarum, Dist. 19, q. 2, a. 2).
Mit denselben Worten drückt sich der Doktor Angelicus in der Summa Theologiae aus: „Wo jedoch der Glaube Gefahr läuft, da muß man auch öffentlich die Oberen zurechtweisen, wie das Paulus that; und wie Augustin diesbezüglich schreibt (ep. 19.): „Petrus selbst hat den Vorgesetzten das Beispiel gegeben, daß sie, wenn sie etwa den rechten Pfad verließen, auch nicht unwillig es aufnehmen sollen, wenn untergebene sie zurechtweisen“ (Summa Theologiae, II-IIae, 33, 4, 2).

Cornelius a Lapide (Cornelis Cornelissen van den Steen) faßte das Denken der Kirchenväter und der Kirchenlehrer mit den Worten zusammen: „[…] Die Oberen können von den Untergebenen mit Demut und Nächstenliebe ermahnt werden, damit die Wahrheit verteidigt werde, das sagen auf der Grundlage dieser Stelle [Gal 2,11] der Heilige Augustinus (Epist. 19), der Heilige Cyprian, der Heilige Gregor, der Heilige Thomas und andere oben Genannte. Sie lehren eindeutig, daß der Heilige Petrus, obwohl er höher stand, vom Heiligen Paulus zurechtgewiesen wurde […]. Mit gutem Grund sagte der Heilige Gregor daher [Homil. 18 in Ezech.): „Petrus schwieg, auf daß er, der der Erste in der apostolischen Hierarchie war, auch der Erste in der Demut war.“ Und der Heilige Augustinus bekräftigte (Epist. 19 ad Hieronymum): „Indem er lehrte, daß die Oberen es nicht ablehnen sollen, sich von den Untergebenen ermahnen zu lassen, hat der Heilige Petrus der Nachwelt ein noch außergewöhnlicheres und noch heiligeres Beispiel gegeben, als das des Heiligen Paulus, der lehrte, daß es den Untergebenen zur Verteidigung der Wahrheit, mit Liebe, gegeben ist, die Kühnheit zu haben, ohne Furcht den Oberen zu widerstehen“ (Ad Gal 2, II, in Commentaria in Scripturam Sacram, Vivès, Paris 1876, Band XVII).
Die brüderliche Zurechtweisung ist ein Akt der Nächstenliebe. Zu den größten Sünden gegen die Liebe gehört das Schisma, das die Trennung von der Autorität der Kirche oder ihren Gesetzen, Gebräuchen und Sitten ist. Auch ein Papst kann ins Schisma fallen, wenn er die Kirche spaltet, wie der Theologe Suarez erklärt (De schismate in Opera omnia, Bd. 12, S. 733–734 und 736–737) und Kardinal Journet bestätigt (L’Eglise du Verbe Incarné, Desclée, Brügge 1962, Bd. I, S. 596).
Heute herrscht Verwirrung in der Kirche. Einige mutige Kardinäle haben eine eventuelle öffentliche, brüderliche Zurechtweisung von Papst Bergoglio angekündigt, dessen Initiativen jeden Tag besorgniserregender und spaltender werden. Die Tatsache, daß er es unterläßt, auf die Dubia der Kardinäle zum VIII. Kapitel des Apostolischen Schreibens Amoris laetitia zu antworten, begünstigt und ermutigt die häretischen oder häresienahen Interpretationen in Sachen Kommunion für die wiederverheirateten Geschiedenen. Die solchermaßen begünstigte Verwirrung führt zu Spannungen und internen Kämpfen, oder anders gesagt, zu einer Situation religiöser Gegensätze, die Vorboten eines Schismas sind.
Die öffentliche brüderliche Zurechtweisung wird dadurch dringend notwendig.
*Roberto de Mattei, Historiker, Vater von fünf Kindern, Professor für Neuere Geschichte und Geschichte des Christentums an der Europäischen Universität Rom, Vorsitzender der Stiftung Lepanto, Autor zahlreicher Bücher, zuletzt erschienen: Vicario di Cristo. Il primato di Pietro tra normalità ed eccezione (Stellvertreter Christi. Der Primat des Petrus zwischen Normalität und Ausnahme), Verona 2013; in deutscher Übersetzung zuletzt: Das Zweite Vatikanische Konzil – eine bislang ungeschriebene Geschichte, Ruppichteroth 2011.
Bild: Epic/StPeter&Paul/Alfedena (Screenshots)
Wie ist der Unterschied zwischen „kritisieren“ und „zurechtweisen“?
Ich sehe das so:
Ich muss als Laie nur das glauben, was der Papst ex cathedra spricht. Was er sonst noch schreibt oder sagt, nehme ich an, wenn es der Lehre der Kirche und der Tradition entspricht. Ist es etwas, was der Lehre oder der Tradition oder gar den Worten Jesu widerspricht, nehme ich es nicht an. Ist es so schwerwiegend widersprüchlich und wichtig für das Heil der Seelen und den Glauben wie in AL, bespreche ich mich mit meinen Vertrauten im Glauben und schaue auf die Hirten. Ich kritisiere das auch „öffentlich“, wobei sich für den einzelnen Gläubigen die Öffentlichkeit ja auf private Gespräche und ggf. kritischen Äußerungen in Blogs oder Leserbriefen beschränkt.
Zurechtweisen können also nur Kardinäle, Bischöfe, alle, die den Papst persönlich sprechen können, denn eine Zurechtweisung fängt immer mit einem persönlichen Gespräch an. Wird ein persönliches Gespräch nicht gewährt, muss eine Zurechtweisung öffentlich möglich sein, denn leider ist es heute ja möglich, dass sich ein Papst aufgrund seiner Personalentscheidungen nur noch mit Menschen umgibt, die Papalismus betreiben.
@bellis
ich kann Ihnen nur zustimmen.
Allerdings, wenn ich mir vorstelle, Papst Franziskus würde einmal etwas „ex kathedra“ verkünden …!
Wie gingen Sie, andere und ich damit um?
Vor allem dann, wenn die „ex cathedra“-Verkündigung einen unverkennbar progressiven Charakter hätte?
Das kann er ja nicht, etwas Haeretisches ex cathedra verkuenden. Denn da greift das Dogma von der Infalibilitas, der Unfehlbarkeit, das die Kirche davor schuetzt, dass Falsches verbindlich gelehrt wuerde.
Bergoglio hat bereits so etwas Ähnliches getan, indem er zwei Personen eiligsprach, die eindeutig keine Heiligen waren – nämlich Johannes XXIII. und Karol Wojtyla …
Was aber, wenn der Zurechtgewiesene nicht einsichtig reagiert wie ein Petrus, sondern uneinsichtig wie ein Nero?
Man kann lesen, daß der hl. Apostel Petrus nur in dieser einen, gleichwohl offenkundig gravierenden, Angelegenheit, gefehlt hatte.
Aber bei Papst Franziskus weiß man doch gar nicht mehr wo man überhaupt mit ihm dran ist. Man weiß so vieles nicht; sein Leben ist rätselhaft und schwer durchschaubar- und auch seine Wahl wirft Fragen auf wie auch der Status von Papst em. Benedikt XVI. nicht einfach zu verstehen ist.
Die offenkundigen Defizite und Fehler von Papst Bergoglio beginnen irgendwie bei A und enden erst mit Z wie es aussieht.
Wenn an einer Stelle eine Naht geflickt würde, so gut das wäre, muß man nicht befürchten, daß an anderen Stellen neue wieder aufreißen?