Die Jugendorganisation der Partei Fratelli d’Italia (Brüder Italiens) unter Ministerpräsidentin Giorgia Meloni veranstaltet seit 2014 das politische Festival Altreju. Die Tradition dieser Veranstaltung reicht bis ins Jahr 1998 zurück, als sie von der Vorgängerpartei Alleanza Nazionale (Nationale Allianz) ins Leben gerufen wurde wurde. Meloni, seit Herbst 2022 im Amt, führt mit Salvinis Lega und Tajanis bürgerlicher Forza Italia eine stabile Regierungskoalition der rechten Mitte.
Das diesjährige Festival Altreju fand auch im deutschen Sprachraum Beachtung: Neun Tage dauerte es mit fast 500 Veranstaltungen und über 1000 akkreditierten Journalisten. Bei der größten Veranstaltung im Circus Maximus wurden über 50.000 Teilnehmer gezählt. Gleichwohl gibt es Kritik daran: Es wird bemängelt, daß Melonis politische Rechte eine substanzielle, inhaltliche Auseinandersetzung weitgehend meide und dadurch die Gefahr bestehe, keine wirkliche Verbesserung herbeizuführen. Stattdessen bleibe man an der Oberfläche und befinde sich gegenüber der politischen Linken weiterhin in der Defensive. Das Thema betrifft die politische Rechte nicht nur in Italien.
Ein Kritiker dieser Entwicklung ist der Verfassungsjurist Daniele Trabucco, Lehrbeauftragter an verschiedenen akademischen Einrichtungen und unter anderem Professor für Verfassungsrecht in Bellinzona. Auf dem Blog Duc in altum von Aldo Maria Valli veröffentlichte er dazu seine Analyse.
Atreju: die leere Grammatik der Moderne, die Rechte und Linke eint
Von Daniele Trabucco
Zum Abschluß von Atreju in Rom bezeichnete die amtierende Präsidentin des Ministerrates, Giorgia Meloni, die Veranstaltung als „den Ort, an dem alle Ideen ein Bürgerrecht haben“, als „den Ort, an dem Nietzsche und Marx einander die Hand reichen“. Sie fügte hinzu, „der Wert der Menschen messe sich an den Inhalten“ und „wer fliehe, zeige damit, daß er keine Inhalte habe“. Eine solche Formulierung ist darauf angelegt, im geläufigen Sinne „maximal liberal“ zu klingen: Offenheit, Pluralismus, Dialog, Vorrang der Inhalte vor bloßer Parteinahme. Gerade deshalb aber tritt, nimmt man sie ernst, ihre begriffliche Fragilität sofort zutage.
„Alle Ideen haben ein Bürgerrecht“ klingt wie ein Kriterium, ist in Wirklichkeit aber die Suspendierung aller Kriterien. Bürgerschaft ist kein physischer Tatbestand von Ideen; sie ist ein verliehener Status innerhalb einer Ordnung, die – ob man will oder nicht – festlegt, was im gemeinsamen Raum bestehen kann, ohne ihn aufzulösen. „Alle“ zu sagen bedeutet, die Schwelle zwischen dem Diskutierbaren und dem Zersetzenden zu tilgen, zwischen dem, was in die öffentliche Abwägung eintreten kann, und dem, was sie von innen her korrumpiert. Das Ergebnis ist nicht Gastfreundschaft, sondern zur Norm erhobene Indifferenz.
Hier zeigt sich die erste Aporie. Wenn „alle“ Ideen in gleicher Weise Bürger sind, dann müßte auch die Idee, die dieses Bürgerrecht bestreitet, in gleicher Weise Bürger sein. Das universalistische Prinzip muß, um sich nicht selbst aufzuheben, der von ihm proklamierten Universalität entzogen werden: Es muß als übergeordnete Norm gelten. So entsteht eine performative Selbstwidersprüchlichkeit: Man verkündet die Abwesenheit von Hierarchien und errichtet zugleich eine stillschweigende Hierarchie über allen anderen, nämlich die Hierarchie der „Offenheit“ als nicht ausgesprochenes Dogma. Kurz gesagt: Neutralität ist eine metaphysische Entscheidung in Verkleidung.
Das Bild „Nietzsche und Marx reichen einander die Hand“ fungiert dann als szenisches Siegel dieser Neutralität. Es argumentiert nicht, es akkreditiert. Es ruft zwei Symbolnamen auf, um zu bescheinigen, daß das Gefäß weit genug sei, um Gegensätze einzuschließen. Philosophisch betrachtet ist dieser „Händedruck“ jedoch ein vollkommenes Emblem der Leere, weil er dadurch zustande kommt, daß Inhalte in bloße Etiketten verwandelt werden. Ernst genommen verweisen diese beiden Namen keineswegs auf ein gemeinsames Vertrauen in die Möglichkeit, das Gerechte öffentlich zu bestimmen; sie bezeichnen vielmehr – jeder auf seine Weise – eine Tendenz, Normen und Werte auf das zurückzuführen, was sie hervorbringt (Strukturen, Kräfte, Interessen, Genealogien). Die Konsequenz ist entscheidend: Die Sprache der praktischen Wahrheit wird zur Sprache der Funktion degradiert. Man fragt nicht mehr: „Was ist gerecht?“, sondern: „Wem nützt das, was du sagst?“ Die Vernunft ist nicht länger ein Akt der Anerkennung einer Ordnung des Guten, sondern wird zu einer Technik der Entlarvung oder der Eroberung.
An diesem Punkt zerstört sich die Aussage selbst: Sie behauptet, „der Wert bemesse sich an den Inhalten“, sagt aber nicht, welches Maß angelegt wird. „Maß“ ist ein anspruchsvoller Begriff: Er setzt ein Kriterium voraus, das den Vorlieben vorausliegt und fähig ist, besser und schlechter zu unterscheiden – nicht nach der Lautstärke des Applauses.
Wird das Maß nicht benannt, bleiben zwei Wege, beide zutiefst modern. Der erste: Inhalte gelten kraft ihrer Wirksamkeit, das heißt aufgrund ihrer Fähigkeit, sich durchzusetzen, zu überzeugen, zu mobilisieren, die Bühne zu beherrschen. Der zweite: Inhalte gelten aufgrund ihrer Übereinstimmung mit impliziten, nicht diskutierten Kriterien, die das Zulässige regeln. Im einen Fall fällt Wert mit Macht zusammen; im anderen mit verkleideter Willkür. In beiden Fällen ist „Inhalte“ ein dekoratives Wort: Es verheißt Substanz, hat aber nur die Funktion eines Schleiers.
Hier wird die These verständlich – nicht polemisch, sondern strukturell: Die Erklärung offenbart gerade in dem Moment, in dem sie einen Unterschied markieren will, eine tiefe Verwandtschaft mit der zeitgenössischen Linken, weil sie dieselbe Grammatik der Legitimation teilt. Die moderne Linke präsentiert sich, wenn sie sich als „demokratisch“ definiert, als Hüterin des offenen Forums, des inklusiven Raumes, der Bürgerschaft der Meinungen.
Wenn eine Rechte in gleicher Weise beansprucht, „der Ort zu sein, an dem alle Ideen Bürgerrecht haben“, übernimmt sie nicht bloß ein Vokabular; sie übernimmt dasselbe oberste Kriterium, nämlich daß die Güte der öffentlichen Ordnung vor allem von ihrer erklärten Neutralität abhänge und nicht von ihrer Fähigkeit, das gemeinsame Leben auf eine erkennbare Gerechtigkeit hin zu ordnen. Die Symbole wechseln, die Form bleibt: Politik als Verwaltung des Pluralismus, nicht als Ordnung auf das Gemeinwohl hin; Konflikt als reguliertes Schauspiel, nicht als Suche nach dem, was es verdient, bejaht und geschützt zu werden.
Von hier aus betrachtet ist der „Händedruck“ zwischen Nietzsche und Marx nicht das Bild einer hohen Synthese, sondern das Zeichen dafür, daß die Politik darauf verzichtet hat, ihr Fundament noch auszusprechen. Wenn das Fundament nicht benannt wird, verschwindet es nicht: Es verlagert sich ins Verborgene. Sichtbar bleiben die Prozedur, das Ereignis, die Choreographie des Austausches. Darum ist die Aussage aporetisch: Sie spricht, als wollte sie sagen „hier siegt die Vernunft“, errichtet den Ort aber so, als genüge Koexistenz, um Maßstäbe zu ersetzen; sie spricht, als wollte sie sagen „hier zählen die Inhalte“, vermeidet jedoch das, was Inhalte wirklich beurteilbar machen würde; sie spricht, als wollte sie sagen „hier wird die Wahrheit diskutiert“, wählt aber als Emblem zwei Namen, die – als Symbole genommen – nahelegen, daß Wahrheit immer schon ein Effekt sei.
Das Ergebnis ist ein klares Paradox: Man verkündet eine universale Bürgerschaft der Ideen und verliert damit das Einzige aus dem Blick, was Bürgerschaft nicht zu einem bloß administrativen Faktum, sondern zu einer lebbaren Ordnung macht. Wenn alles im gleichen Sinne Bürger ist, ist nichts mehr normativ; wenn nichts normativ ist, werden unvermeidlich jene Instanzen entscheiden, die immer entscheiden, wenn die Vernunft abdankt: Kraft, Druck, Interesse, Apparat, Konsens.
Das ist die Moderne, die Rechte und Linke verbindet, wenn beide der Formel der Offenheit den Vorrang vor der Last des Urteilens geben: eine Welt, in der die Sprache des Guten durch die Sprache des Zulässigen ersetzt wird – und das Zulässige entscheidet am Ende derjenige, der die Bühne beherrscht.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons

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