Polen hat 1,2 Millionen ukrainische Flüchtlinge aufgenommen, warum also die Mißtöne?

Interview mit Janusz Kotański, dem polnischen Botschafter beim Heiligen Stuhl


Janusz Kotánski, der polnische Botschafter beim Heiligen Stuhl, spricht über die selbstlose Hilfe der Polen für die ukrainischen Flüchtlinge und wundert sich über bestimmte Mißtöne im Westen.
Janusz Kotánski, der polnische Botschafter beim Heiligen Stuhl, spricht über die selbstlose Hilfe der Polen für die ukrainischen Flüchtlinge und wundert sich über bestimmte Mißtöne im Westen.

In die­sen schreck­li­chen Tagen, in denen die Ukrai­ne durch Ver­wü­stung erschüt­tert wird, hat Polen als direk­tes Nach­bar­land zahl­rei­che huma­ni­tä­re Maß­nah­men ergrif­fen, um bei der Auf­nah­me von Kriegs­flücht­lin­gen mit­zu­wir­ken. Polen, das bis­her sei­ne Ost­gren­ze, die EU-Außen­gren­ze ist, vor ille­ga­ler Ein­wan­de­rung abschirm­te, hat seit Beginn des Ukrai­ne­kon­flikts am 24. Febru­ar sei­ne Gren­ze zur Ukrai­ne geöff­net. Seit­her sind 1,2 Mil­lio­nen Men­schen als Flücht­lin­ge auf­ge­nom­men worden. 

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Das ist bereits die zwei­te Flücht­lings­wel­le aus der Ukrai­ne. Eine erste fand 2014/​2015 statt, als die gewähl­te pro­rus­si­sche Regie­rung der Ukrai­ne von pro­west­li­chen Grup­pen gestürzt wur­de, wor­auf sich die Krim und die Volks­re­pu­bli­ken Lug­ansk und Donezk von der Ukrai­ne los­sag­ten. Die Mili­tär­ope­ra­ti­on der neu­en pro­west­li­chen ukrai­ni­schen Regie­rung gegen die­sen Sepa­ra­tis­mus führ­te bis 2015 zur Flucht von 2,5 Mil­lio­nen Men­schen nach Ruß­land. Ende 2021 belief sich die Gesamt­zahl der Ukrai­ner, die in Ruß­land Asyl erhal­ten hat­ten, auf etwa drei Mil­lio­nen. Die­se erste Flücht­lings­wel­le fand im Westen kaum Beachtung.

Die zwei­te Wel­le, die der­zeit im Gan­ge ist, erfolgt sowohl nach Osten als auch nach Westen. Polen, ein EU- und NATO-Mit­glied, ist aus histo­ri­schen Grün­den und da eben­falls sla­wisch, das bevor­zug­te Ziel­land in Rich­tung Westen.

Zahl­rei­che Medi­en berich­ten über den huma­ni­tä­ren Ein­satz der Polen. Papst Fran­zis­kus lob­te deren Hil­fe am 2. März aus­drück­lich. Doch es gibt auch eini­ge Miß­tö­ne. Der Avve­ni­re, die Tages­zei­tung der Ita­lie­ni­schen Bischofs­kon­fe­renz, kri­ti­sier­te Polen, weil es ille­ga­le Ein­wan­de­rer aus Schwarz­afri­ka nicht als „ukrai­ni­sche“ Kriegs­flücht­lin­ge akzep­tie­re. Bereits im ver­gan­ge­nen Jahr war bekannt gewor­den, daß Schlep­per­grup­pen eine neue Migra­ti­ons­rou­te in die EU über Weiß­ruß­land und die Ukrai­ne auf­ge­baut hat­ten. Polen lei­stet zudem nicht nur huma­ni­tä­re Hil­fe. Bereits am 31. Janu­ar hat­te Polens Staats­prä­si­dent Andrzej Duda erklärt, sein Land wer­de der Ukrai­ne „jede Hil­fe“ zur Deckung des huma­ni­tä­ren und mili­tä­ri­schen Bedarfs zukom­men las­sen.

Mau­ro Faver­za­ni frag­te für die Cor­ri­spon­den­za Roma­na bei Janusz Andrzej Kotán­ski, dem pol­ni­schen Bot­schaf­ter beim Hei­li­gen Stuhl, nach, wie die Flücht­lings­la­ge ist, und was es mit den Miß­tö­nen auf sich hat.

Faver­za­ni: Eure Exzel­lenz, begin­nen wir mit den Zah­len: Wie vie­le ukrai­ni­sche Flücht­lin­ge hat Polen bis­her [Stand 8. März] aufgenommen?

Kotán­ski: Bis heu­te hat Polen fast 1,2 Mil­lio­nen Men­schen auf­ge­nom­men. Die mei­sten sind natür­lich Ukrai­ner, aber ins­ge­samt haben wir Men­schen aus mehr als 170 Län­dern aufgenommen.

Faver­za­ni: Wie haben Sie die Auf­nah­me und die Hil­fe für all die­se Men­schen, die aus ihrem Land flie­hen, gestaltet?

Kotán­ski: Es ist wich­tig, die bei­spiel­lo­se Ent­schlos­sen­heit sowohl der Regie­rung als auch der pol­ni­schen Gesell­schaft her­vor­zu­he­ben. Prak­tisch alle staat­li­chen und loka­len Struk­tu­ren und −  was die kirch­li­chen Struk­tu­ren betrifft − alle Kir­chen­ge­mein­den sind an der Auf­nah­me von Flücht­lin­gen betei­ligt. Zum einen besteht die Hil­fe in der Bereit­stel­lung von Unter­künf­ten: Die Flücht­lin­ge wer­den ent­we­der in Ein­rich­tun­gen des Staa­tes, der loka­len Ver­wal­tun­gen und der Kir­che oder in Pri­vat­woh­nun­gen unter­ge­bracht. Bis­lang wur­den − ein bei­spiel­lo­ser Fall − kei­ne Flücht­lings­la­ger ein­ge­rich­tet, wie sie bei ande­ren Migra­ti­ons­kri­sen ent­stan­den sind.
Das Aus­maß der Kri­se und die Geschwin­dig­keit des Zustroms von Flücht­lin­gen sind bei­spiel­los. Ande­rer­seits haben wir es mit einer Explo­si­on jeg­li­cher Art von Geld- und Sach­spen­den für die in Polen ankom­men­den Flücht­lin­ge und für die in der Ukrai­ne ver­blie­be­nen Men­schen zu tun. Gleich­zei­tig hat der Staat sehr schnell reagiert und mit der Aus­ar­bei­tung von Rege­lun­gen begon­nen, die die Ein­füh­rung von syste­mi­schen Lösun­gen ermög­li­chen, wie z. B. Ent­schä­di­gun­gen für Flücht­lin­ge oder Erleich­te­run­gen bei den Vor­schrif­ten, z. B. in bezug auf die Beschäf­ti­gung auf dem pol­ni­schen Arbeits­markt, die medi­zi­ni­sche Ver­sor­gung oder kosten­lo­se Stu­di­en. Die Flücht­lin­ge erhal­ten außer­dem eine pol­ni­sche Steu­er­num­mer, um alle For­ma­li­tä­ten zu erleich­tern.
Seit Beginn der Migra­ti­ons­kri­se kön­nen Flücht­lin­ge, die aus der Ukrai­ne kom­men, kosten­los mit der pol­ni­schen Bahn rei­sen. Es ist auch wich­tig, daß Kin­der, vom Vor­schul­kind bis zu Gym­na­sia­sten, die Mög­lich­keit haben, gemein­sam mit jun­gen Polen zu ler­nen und nach den trau­ma­ti­schen Erfah­run­gen, die sie gemacht haben, eine spe­zi­el­le psy­cho­lo­gi­sche Betreu­ung zu erhal­ten. Schließ­lich ist es eine pol­ni­sche Eigen­schaft, sich um Frau­en und Kin­der zu küm­mern. Die­se Hilfs­maß­nah­men gel­ten selbst­ver­ständ­lich für alle Flücht­lin­ge, unab­hän­gig von ihrer Nationalität.

Faver­za­ni: Es hat den Anschein, daß auch Regie­rungs­ge­bäu­de für ukrai­ni­sche Flücht­lin­ge zur Ver­fü­gung gestellt wur­den, ist das richtig?

Kotán­ski: Das ist rich­tig. Auf Initia­ti­ve des Prä­si­den­ten­ehe­paars wur­den die Flücht­lin­ge unter ande­rem in den Resi­den­zen des Prä­si­den­ten der Repu­blik Polen in Wisła und Hel untergebracht.

Faver­za­ni: Die Ver­bin­dung zwi­schen Polen und der Ukrai­ne hat tie­fe histo­ri­sche Wur­zeln, sie ist nicht erst jetzt entstanden…

Kotán­ski: Die histo­ri­schen Bezie­hun­gen zwi­schen Polen und der ukrai­ni­schen Nati­on sind sehr eng und gehen auf das 10. bis 11. Jahr­hun­dert zurück, als Polen, regiert von der Pia­sten-Dyna­stie, und die Kie­wer Rus gegen­sei­ti­ge Bezie­hun­gen unter­hiel­ten. Bereits im 14. Jahr­hun­dert wur­den Gebie­te der heu­ti­gen Ukrai­ne Teil des König­reichs Polen. In den fol­gen­den Jahr­hun­der­ten reich­te die Kon­fö­de­ra­ti­on der bei­den Natio­nen Polen und Litau­en bis weit öst­lich des Dnjepr, und die ruthe­ni­sche Spra­che, der „Vor­fah­re“ des Ukrai­ni­schen, und der ortho­do­xe Glau­be genos­sen gro­ße Frei­heit.
In neue­rer Zeit bil­de­ten die Ukrai­ner wäh­rend der Zwei­ten Pol­ni­schen Repu­blik (1918−1939) die größ­te natio­na­le Min­der­heit. Einer der Mit­be­grün­der des unab­hän­gi­gen Polens, Józef Pił­sud­ski, schloß nach dem Ersten Welt­krieg zugun­sten der Schaf­fung eines ukrai­ni­schen Staa­tes ein Bünd­nis mit Sym­on Petl­ju­ra, dem Füh­rer der Ukrai­ni­schen Volks­re­pu­blik, die spä­ter 1920 dem bol­sche­wi­sti­schen Ruß­land ein­ver­leibt wur­de. Es gibt auch dunk­le Sei­ten in der Geschich­te der jeweils ande­ren Sei­te, die mit der Zeit des Zwei­ten Welt­kriegs und den Mas­sa­kern an Polen in Wol­hy­ni­en zusam­men­hän­gen, deren Wun­den noch nicht ganz ver­heilt sind. Trotz die­ser schwie­ri­gen Erfah­run­gen unter­stützt Polen heu­te unmiß­ver­ständ­lich das Recht der Ukrai­ne auf Sou­ve­rä­ni­tät, Unab­hän­gig­keit und ter­ri­to­ria­le Inte­gri­tät. Wir sind der Mei­nung, daß die rus­si­sche Inva­si­on in der Ukrai­ne ein Akt abso­lu­ter Bar­ba­rei und ein Ver­stoß gegen alle Nor­men und das Völ­ker­recht ist. Heu­te müs­sen wir die Ukrai­ne, die für die wah­ren Wer­te der frei­en Welt kämpft, nach Kräf­ten unterstützen.

Faver­za­ni: Die mei­sten Medi­en lob­ten die Bemü­hun­gen Polens, den Flücht­lin­gen aus der kriegs­ge­beu­tel­ten Ukrai­ne, meist Müt­tern mit ihren Kin­dern, zu hel­fen. Ein ande­rer Tenor war von der Tages­zei­tung Avve­ni­re der Ita­lie­ni­schen Bischofs­kon­fe­renz zu hören. Was ist passiert?

Kotán­ski: Lei­der han­delt es sich hier­bei nicht um einen Ein­zel­fall. Seit eini­ger Zeit beob­ach­te ich schmerz­lich, daß der Avve­ni­re bewußt und absicht­lich ver­sucht, Polen und die pol­ni­sche Regie­rung in ein schlech­tes Licht zu rücken. Gleich­zei­tig ver­mei­det er es nicht, die Rea­li­tät zu mani­pu­lie­ren und zu ver­bie­gen. Das beste Bei­spiel dafür ist der im ver­gan­ge­nen Herbst ver­öf­fent­lich­te Arti­kel, in dem die Poli­tik der pol­ni­schen Regie­rung mit der „Blut und Boden“-Ideologie der Natio­nal­so­zia­li­sten ver­gli­chen wur­de. Die Art und Wei­se, wie die von Weiß­ruß­land künst­lich aus­ge­lö­ste Kri­se an der pol­nisch-weiß­rus­si­schen Gren­ze ange­pran­gert wur­de, schien von der Kreml-Pro­pa­gan­da beein­flußt zu sein. War­um tun sie das? Ich las­se die­se Fra­ge unbeantwortet.

Faver­za­ni: Konn­ten Sie das mit dem Chef­re­dak­teur des Avve­ni­re klären?

Kotán­ski: In bezug auf ver­schie­de­ne Arti­kel, die im Avve­ni­re erschie­nen sind, haben wir mehr­mals schrift­lich inter­ve­niert. In den mei­sten Fäl­len blie­ben unse­re Schrei­ben jedoch unbe­ant­wor­tet. Und wenn sie manch­mal ver­öf­fent­licht wur­den, wur­den sie oft von der Redak­ti­on zensiert.

Faver­za­ni: Ihr Lebens­lauf weist vie­le ange­se­he­ne Posi­tio­nen in der Welt der Infor­ma­ti­on auf, eine Welt, die Sie sehr gut ken­nen und mit Kom­pe­tenz und Erfah­rung ana­ly­sie­ren kön­nen. Was hal­ten Sie von den Vor­gän­gen bei der Zei­tung Avve­ni­re?

Kotán­ski: Ich habe kei­ne Ahnung und kann es nicht ver­ste­hen. [Chef­re­dak­teur] Mar­co Tar­qui­nio , so scheint es, wen­det nicht ein­mal Ter­tul­li­ans Grund­satz „cre­do quia absur­dum“ an, son­dern hat ein „cre­do quia non est“ geschaf­fen, das mit ehr­li­chem Jour­na­lis­mus wenig zu tun hat. Aus mei­ner beruf­li­chen Erfah­rung und aus den Tagen der kom­mu­ni­sti­schen Skla­ve­rei in Polen, als ich für Unter­grund­zei­tun­gen geschrie­ben habe, habe ich gelernt, daß die Wahr­heit immer ans Licht kommt. „Es gibt ein pol­ni­sches Sprich­wort, das besagt, ‚Das Öl kommt immer nach oben‘. Sowohl die Redak­ti­on des Avve­ni­re als auch alle Jour­na­li­sten soll­ten dies beden­ken.
Das pol­ni­sche Volk braucht gewiß kei­nen Bei­fall der Medi­en, um zu han­deln, denn sei­ne Hil­fe und Auf­nah­me ukrai­ni­scher Flücht­lin­ge erfolg­te prompt und selbst­los. Aber es dient der Wahr­heit im Sin­ne der Ehr­lich­keit, des Respekts und der Dank­bar­keit, wenn die­se gewal­ti­gen und groß­zü­gi­gen huma­ni­tä­ren Anstren­gun­gen zumin­dest aner­kannt werden.

Polen-Litau­en im 14. Jhdt. Man beach­te „Ukrai­ne“, das Grenz­ge­biet (eine Mark) ohne eth­ni­schen Bezug, „Rus­si­en“ für das öst­li­che Weiß­ruß­land und Smo­lensk sowie „Rus­sia“ um Lem­berg, was Rot­ruthe­ni­en oder Rot­ruß­land mein­te, also die katho­li­sche Westukraine.

Einleitung/​Übersetzung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana/​Wikicommons

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