Folgender Beitrag, Ergebnis eines Schriftwechsels mit einem Domherrn des Erzbistums Pamplona, wurde vom argentinischen Philosophen und Blogger Caminante Wanderer veröffentlicht, der unabhängig von seiner persönlichen Meinung dazu, einen Gedankenaustausch anstoßen möchte. Dazu schreibt Caminante Wanderer:
„Don Javier Aizpún Bobadilla ist Architekt, Theologe und Domherr der Kathedrale von Pamplona. Darüber hinaus ist er sehr aktiv in den sozialen Netzwerken. Ich empfehle seinen X‑Account, auf dem er stets mit brillanten Beiträgen aufwartet. Einer davon, vor einigen Wochen, erschien mir besonders gelungen, und ich sagte ihm das auch. Daraus entstand ein Austausch, den er selbst erläutert und der schließlich dazu führte, daß er eine kurze Abhandlung zur liturgischen Frage verfaßte, die man hier kostenlos herunterladen kann. Darin entwickelt Don Javier sehr interessante und neuartige Gedanken; etwa den Zugang zum liturgischen Problem aus der Perspektive der Architektur. Er vertritt die These, daß die liturgischen Veränderungen seit den Anfängen der Kirche selbst eine Folge der Anpassung an vorhergehende architektonische Veränderungen der Kirchengebäude gewesen seien. Das ist eine äußerst anregende These, wenngleich sie auch kontrovers diskutiert werden kann. Doch auf diesem Blog haben wir keine Angst vor Diskussionen – wir ziehen sie stets den abgepackten Fertigprodukten vor, möge auf deren Etiketten auch noch so sehr ’sichere Lehre‘ stehen. Denken ist eine gesunde Übung, auch für Katholiken.
Ich zitiere im folgenden die Einleitung von Don Javier zu seiner Arbeit sowie einige lose ausgewählte Absätze, die mir mehr als ausreichend erscheinen, um zur Lektüre anzuregen.“
Die westliche Christenheit und der römische Ritus
Von Javier Aizpún Bobadilla*
Anknüpfend an zwei Artikel von Caminante Wanderer, die ich für besonders brillant hielt, schrieb ich folgenden Kommentar auf X:
„Wir erleben nicht nur das Ende der Moderne, wir stehen am Ende jener Epoche, die mit der gregorianischen Reform begann und zur westlichen Christenheit führte. Ein Epochenwechsel von kolossalem Ausmaß. Mitunter habe ich den Eindruck, daß die Traditionalisten nicht eigentlich zur Tradition zurückkehren wollen, sondern zu dem neuscholastischen System, das aus dem Konzil von Trient hervorgegangen ist – und das ist nicht dasselbe. Dieses System mag gut oder schlecht sein … doch sein Ende ist eine unvermeidliche Tatsache, denn es stirbt mit der Moderne, weil es zu ihr gehört. Die Traditionalisten gehören – sehr zu ihrem Bedauern – selbst zur Moderne. Das wurde mir bei der Erforschung des Lebens meines Großvaters mütterlicherseits klar, der Karlist1 war und 1936 in den Madrider Tschekas2 zu Tode gefoltert wurde. Der Karlismus starb während der spanischen Transition3, und nun stirbt der Liberalismus. Noch nie wurde in der spanischen Politik so viel über Liberalismus gesprochen wie heute, aber alles klingt wie ein Epitaph. Wenn die Traditionalisten überleben wollen, müssen sie die Tradition verteidigen und das System hinter sich lassen. Das ist schwierig, denn wir alle sind Teil des Systems, und manchmal ist es schwer zu unterscheiden, was zum System gehört und was zur wahren Tradition …“
Darauf erhielt ich folgende Antwort von einem Leser von Caminante Wanderer:
„Was ist dann die Tradition? Ein orientalischer Ritus auf aramäisch?“
Und dies war meine Antwort:
„Auch das. Von Pfingsten bis heute. Einschließlich des Konzils von Trient, das großartig war und uns einen großen Teil der kirchlichen Lehre geschenkt hat, die Glaubensdogma ist. Und das Konzil von Nicäa, von Ephesus, von Konstantinopel und von Chalcedon – und alle, die im Laufe der Kirchengeschichte gefeiert wurden. Und der hispanische Ritus, und der römische Ritus (prächtig), und der ambrosianische Ritus. Und der Novus Ordo, auch wenn er einiger Korrekturen bedarf, vor allem der Ausrichtung des Priesters und der Überarbeitung des Hochgebets II, damit der Opfercharakter der Eucharistie klar hervorgehoben wird. Die zweitausendjährige Tradition der Kirche.“
Ausgehend von dieser Debatte schickte mir Caminante Wanderer eine private Nachricht mit dem Vorschlag, diese beiden Kommentare in einem Artikel auszuarbeiten. Ich antwortete zustimmend, da mich dieses Thema sehr interessiert und ich mich seit mehreren Jahren damit befasse.
Das Problem besteht darin, daß in diesen kurzen Kommentaren eine Vielzahl recht komplexer Fragen nur beiläufig erwähnt wird, die sich nicht in einem kurzen Artikel abschließend behandeln lassen – zumindest nicht, wenn man sie mit einer gewissen Ernsthaftigkeit und minimaler Tiefe angehen will. Dabei werden Themen angesprochen, die ebenso vielfältig wie komplex sind, etwa:
- die von Gott kommende Tradition und die von Menschen ausgearbeiteten Traditionen: das Verhältnis von Liturgie, Tradition und Traditionen;
- der römische Ritus, westliche Christenheit und Moderne: ihre Beziehung zueinander und ihre gegenwärtige Situation;
- das Verhältnis des Traditionalismus zur Moderne, zur göttlichen Tradition und zu den menschlichen Traditionen.
Es sind viele äußerst komplexe Themen, und jedes einzelne verdiente nicht nur einen Artikel, sondern ein ganzes Buch. Und all dies, um letztlich folgende Frage zu beantworten: Wie sieht die Zukunft des Traditionalismus – der Verteidigung der Tradition – aus, wenn die Welt, zu der er gehört, nämlich die Moderne, verschwindet?
Ich gehe von der Prämisse aus, daß der Traditionalismus zur Moderne gehört, insofern er die Rückkehr zum neuscholastischen System propagiert, das vom Konzil von Trient etabliert wurde. Und die Antwort ist meines Erachtens offensichtlich: Um eine Zukunft zu haben, muß er dieses System, das nach dem Konzil von Trient entstanden ist – eine Welt, die zur Moderne gehört und mit ihr verschwindet –, hinter sich lassen und sich an die Tradition im eigentlichen, großgeschriebenen Sinn klammern. An die zweitausendjährige Tradition der Kirche, die bleibend, zeitlos und das Fundament ist, auf dem wir die neue Epoche errichten müssen, die auf uns zukommt.
Da die Liturgie eine der wesentlichen Säulen der Tradition ist, gilt das, was von den Konzilien gesagt wird, auch für die liturgischen Riten. Zur Tradition gehören alle liturgischen Riten der Kirche im Laufe der Geschichte, sowohl die östlichen als auch die lateinischen. Zu den östlichen zählen der byzantinische Ritus, der alexandrinische Ritus (sowohl in seiner koptischen als auch in seiner äthiopischen Ausprägung), der antiochenische Ritus (in seiner maronitischen wie auch in seiner syrischen Form), der chaldäische Ritus und der armenische Ritus. Zu den lateinischen gehören der hispanische Ritus (sowie seine bracarensische Variante), der ambrosianische Ritus, der Ritus der Kartäuser und die Riten der übrigen Ordensgemeinschaften mit eigenem Ritus. Und selbstverständlich der römische Ritus, sowohl in seiner tridentinischen Form (oder Vetus Ordo) als auch in seiner vom Zweiten Vatikanischen Konzil geprägten Form (oder Novus Ordo). Oder in der offiziellen Terminologie: außerordentliche und ordentliche Form.
Neben diesem Corpus ewiger Wahrheiten, die Teil der Tradition (mit großem T, bezogen auf die Praxis der Kleinschreibung der romanischen Sprachen, in denen nur Eigennamen bzw. besonders zu beachtende Wörter großgeschrieben werden) geworden sind, entstand jedoch ein System von Traditionen (mit kleinem t): eine Theologie, eine Kultur und eine ästhetische Sensibilität, die zum System gehören, das sich im nachtridentinischen Zeitalter herausgebildet hat. Dieses System wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch ein neues ersetzt, das sich im sogenannten Nachkonziliarismus des Zweiten Vatikanischen Konzils verfestigte – ein Begriff, den viele mit Großbuchstaben schreiben, weil sie den Eindruck haben, es habe in der Geschichte nur dieses eine Nachkonzil gegeben, oder zumindest, weil sie glauben, es sei das einzig noch gültige. Tatsächlich jedoch gehören beide Nachkonzilia zur Moderne. Und wie wir im Artikel sehen werden, ist die Moderne gestorben und macht einer neuen Epoche Platz, von der wir noch nicht wissen, wie sie aussehen wird. Was wir jedoch wissen, ist, daß beide Nachkonzilia Teil einer Vergangenheit sind, die nicht zurückkehren wird. Wie unsere gesamte Vergangenheit gehören sie zu unserer Geschichte, zu unserer Biographie und damit zu unserer Identität. Doch wir leben in einer Gegenwart, die sich von der Vergangenheit unterscheidet, auch wenn sie auf ihr aufbaut. Und wir müssen eine Zukunft errichten, die noch geschrieben werden muß. In Wirklichkeit ist diese Weggabelung des Traditionalismus die Weggabelung aller kirchlichen Strömungen und des Christentums insgesamt. Es gibt nicht nur ein Leben jenseits der Nachkonzilszeit von Trient, sondern auch ein Leben jenseits der Nachkonzilszeit des Zweiten Vatikanums.
Traditionalismus und Avantgarden sind keine voneinander getrennten Welten. Der Traditionalismus gehört in vollem Umfang zur Moderne, auch wenn dies in sich widersprüchlich erscheinen mag. Darüber hinaus ist der Traditionalismus von einem Romantizismus durchdrungen, der den Weg für die Avantgarden und für die Moderne Bewegung bereitet hat.
*Don Francisco Javier Aizpún Bobadilla ist katholischer Priester der spanischen Erzdiözese Pamplona y Tudela. Er gehört dem Domkapitel von Pamplona an, ist Pfarrer der Pfarrei San Juan Evangelista in Huarte (baskisch Uharte) und hat als Bischofsvikar leitende Aufgaben in der Vermögensverwaltung der Diözese inne. Neben Philosophie und Theologie studierte er auch Architektur. In seiner Doktorarbeit „El tabernáculo: espacio y tiempo“ („Der Tabernakel: Raum und Zeit“) behandelt er die Entwicklung und Bedeutung des kirchlichen Raums anhand des Tabernakels.
Einleitung/Übersetzung/Fußnoten: Giuseppe Nardi
Bild: MiL
- Karlisten sind traditionalistische Monarchisten in Spanien, die gegen Liberalismus und moderne Reformen waren. Sie verteidigten nach dem Tod König Ferdinands VII. (1833) die legitimen Thronanspürche von dessen Bruder Carlos Maria Isidro und seiner männlichen Erben. Ferdinand setzte jedoch seine Tochter Isabella II. als Thronerbin ein, was von den Karlisten als illegitim betrachtet wurde. Die Karlisten betonten die Tradition und die katholische Kirche, während Isabella II. die liberalen Kräfte förderte. Aufgrund dieses Konfliktes kam es zwischen 1833 und 1876 zu drei Karlisten-Kriegen gegen die spanische Zentralregierung, die sich aber gegen die Staatsgewalt, die ihre Gegner aufbieten konnten, nicht durchzusetzen vermochten. Sie blieben in bestimmten Regionen aber sehr aktiv wie Navarra, dem Baskenland, Katalonien und Aragon und insgesamt in stark katholisch geprägten ländlichen Gegenden. Ohne die Unterstützung der Karlisten hätte sich General Franco 1936 bis 1939 nicht gegen die Volksfront und ihre internationalen Brigaden durchsetzen können. ↩︎
- Mit Madrider Tschekas sind die revolutionären Komitees in Madrid während des Spanischen Bürgerkriegs gemeint, die nach dem Vorbild der sowjetischen Tscheka (1917 gegründet, dann in GPU, NKWD und schließlich 1954 in KGB umbenannt) arbeiteten. Sie wurden von Anarchisten, Sozialisten und Kommunisten betrieben, um Gegner der Republik oder der Revolution zu überwachen, festzunehmen und oft zu ermorden. Ihre Tätigkeit war geprägt von Willkür und Gewalt und spielte eine zentrale Rolle bei der Sicherung der republikanischen Kontrolle über die Stadt. ↩︎
- Unter der Transition in Spanien versteht man den Wandel nach dem Tod Francos 1975 hin zu einer demokratischen parlamentarischen Ordnung, der 1978 mit der Verabschiedung einer Verfassung und der Etablierung einer konstitutionellen Monarchie abgeschlossen wurde. ↩︎

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