Wiederholt wird behauptet, Geschlechtsunterschiede im Gehirn seien ein Mythos. Das menschliche Gehirn habe kein Geschlecht: „Männlich“ und „weiblich“ seien bloße Klischees! Der Psychologe Marco Del Giudice (Universität Triest) widerlegt diese Sichtweise.
Anlaß dafür war ein Interview der linken Zeitung La Repubblica, eines führenden Mainstream-Mediums, mit der Neurowissenschaftlerin Martina Ardizzi, in dem Begriffe dominieren wie „Mythos“, „falscher Mythos“ und „Vorurteil“. Ziel ist es, biologische Unterschiede zu relativieren oder gar zu leugnen, um Umwelt-Einflüsse hervorzuheben – ein Ansatz, der typisch für die Gender Studies ist, die ihrerseits ein ideologisches Produkt sind.
Marco Del Giudice, Professor für Psychometrie an der Universität Triest, Autor von mehr als 120 wissenschaftlichen Publikationen über Verhalten, Evolution und psychologische Entwicklung – mit besonderem Schwerpunkt auf Evolutionspsychologie und Geschlechterunterschieden, wurde von UCCR um ein Interview gebeten, das wir vollinhaltlich dokumentieren.
Gehirn und Geschlecht – das Interview
Frage: Herr Professor Del Giudice, kommen wir gleich zum Punkt, den Frau Ardizzi aufgeworfen hat: Gibt es ein „männliches“ und ein „weibliches“ Gehirn, oder ist das ein Vorurteil wie Ardizzi behauptet?
Prof. Del Giudice: Es existieren keine zwei streng voneinander getrennte Gehirntypen, doch es gibt eine Vielzahl mittlerer Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen – hinsichtlich ihrer Größe, der Struktur der Großhirnrinde, der Verbindungen zwischen verschiedenen Arealen und vor allem in ihrer neurochemischen Funktionsweise. Zusammengenommen ergeben diese Unterschiede auf statistischer Ebene ein deutlich erkennbares Gesamtbild.
Natürlich besteht eine enorme individuelle Variabilität innerhalb beider Geschlechter – sowohl im Gehirn als auch im Verhalten. Es gibt unendlich viele Weisen, „männlich“ oder „weiblich“ zu sein.
Frage: Wie ist das zu verstehen?
Prof. Del Giudice: Zu sagen, es gebe große statistische Unterschiede und zugleich eine enorme individuelle Vielfalt, klingt zunächst widersprüchlich. Aber denken Sie an Gesichter: Es existieren keine zwei strikt getrennten Typen – eines für Männer, eines für Frauen.
Es gibt unzählige Gesichter, in denen sich männliche und weibliche Merkmale in unterschiedlicher Weise mischen: Viele Männer haben mindestens ein etwas „weiblicheres“ Merkmal (zum Beispiel größere Augen, eine weichere Mundform, schmalere Augenbrauen oder eine weniger ausgeprägte Kieferpartie), und viele Frauen zeigen umgekehrt leicht „männliche“ Züge.
Trotzdem erkennen wir – mit seltenen Ausnahmen – an der Gesamtheit der Gesichtszüge klar, ob jemand männlich oder weiblich ist. Es wäre absurd zu behaupten, es gebe keine männlichen und weiblichen Gesichter. Genau diese Überlegung läßt sich auch auf Unterschiede im Gehirn oder in Persönlichkeitsmerkmalen anwenden.
Frage: Es ist also richtig, daß es keine scharfe Trennung gibt?
Prof. Del Giudice: Ja, aber diese Erkenntnis wird häufig ideologisch übersteigert und dient dann dazu, reale Unterschiede zu leugnen oder zu verharmlosen. Das Thema der Geschlechterunterschiede ist natürlich hochbrisant und hat erhebliche Konsequenzen für Bildung, Beruf und Gesellschaft.
Leider haben sich die vom Feminismus stark beeinflußten kulturellen und wissenschaftlichen Strömungen in eine selbstreferenzielle „Blase“ eingeschlossen. In dem postulierten Bestreben, „Mythen zu entlarven“, perpetuieren sie in Wahrheit alte, aus den 1970er Jahren stammende Mythen.
Etwa die Annahme, Geschlechterunterschiede seien nur ein Produkt von Kultur und Sozialisation; daß Unterschiede im Gehirn nicht existierten oder jedenfalls unbedeutend seien; oder daß Geschlechterstereotype grundsätzlich unbegründet und schädlich seien – und so weiter.
Die Gender Studies sind veraltet
Frage: Dennoch werden diese Thesen bis heute als wissenschaftlich fortschrittlich dargestellt.
Prof. Del Giudice: Wer nur die Mainstream-Medien verfolgt, ahnt kaum, wie sehr diese Ideen wissenschaftlich ins Wanken geraten sind. Alles, was die Überzeugungen innerhalb der „Blase“ bestätigt, bekommt mediale Aufmerksamkeit; abweichende Stimmen werden meist gar nicht wahrgenommen.
Um dieser kulturellen Trägheit entgegenzuwirken, habe ich ein kleines populärwissenschaftliches Vademecum verfaßt, das den Stand der Forschung zusammenfaßt und eine ausführliche Bibliographie für Interessierte bietet.
Zudem habe ich versucht, Brücken zwischen Forschern mit unterschiedlichen Positionen zu schlagen – etwa durch die Organisation eines internationalen Seminar mit Vorträgen, Diskussionen und Debatten, die alle im Internet zugänglich sind.
Biologische und Umwelteinflüsse auf das Gehirn
Frage: Frau Ardizzi betont die hohe Plastizität des Gehirns. Dadurch sei es schwierig, biologische von Umweltfaktoren zu unterscheiden.
Prof. Del Giudice: Plastizität ist zweifellos eine fundamentale Eigenschaft des Gehirns – ohne sie könnten wir weder lernen noch uns anpassen.
Aber aus der Plastizität des individuellen Gehirns folgt nicht, daß statistische Unterschiede zwischen Männern und Frauen auf Umwelteinflüsse zurückzuführen wären. Das wäre ein logischer und empirischer Fehlschluß.
Zum Vergleich: Auch Muskeln sind plastisch und lassen sich durch Training stärken. Dennoch besitzen Männer dank biologischer Faktoren – nicht bloß wegen häufigeren Trainings – im Durchschnitt mehr Muskelkraft und ‑masse. Diese Unterschiede bleiben selbst unter Spitzensportlern bestehen, die auf höchstem Niveau trainieren.
Zudem wird die Plastizität des Gehirns oft überschätzt: Genetische Studien zeigen, daß sowohl Anatomie als auch Funktionsweise des Gehirns eine beträchtliche erbliche Basis haben – oft stärker als der Umwelteinfluß.
Biologische und Umweltfaktoren zu trennen ist schwierig, aber es gibt bewährte Methoden – von kulturvergleichenden Studien bis zu Untersuchungen über hormonelle Entwicklungsanomalien.
Aus meiner Sicht ist die eigentlich spannende Frage, wie biologische Unterschiede die Wirkung von Umweltfaktoren beeinflussen – also ob sie diese abschwächen, verstärken oder dazu führen, daß Männer und Frauen unterschiedliche Erfahrungen suchen – wodurch letztlich verschiedene Ergebnisse entstehen.
Frage: Ardizzi behauptet ferner, selbst Hormonspiegel würden keine klaren biologischen Unterschiede widerspiegeln. Zwar hätten Männer „etwas mehr“ Testosteron, doch schwanke der Spiegel je nach Situation. Sie verweist auf eine Studie, bei der das Spielen dominanter Rollen den Testosteronspiegel insbesondere bei Frauen ansteigen ließ.
Prof. Del Giudice: Es ist wichtig klarzustellen, daß „ein bißchen mehr“ hier – damit wir uns verstehen – etwa das Zehnfache bedeutet. Der niedrigste normale Testosteronwert bei Männern liegt über dem höchsten bei Frauen.
Zu sagen, Testosteron sei kein „männliches“ Hormon, weil auch Frauen es produzieren, ist so, als würde man behaupten, ein Bart sei kein männliches Merkmal, weil Frauen ebenfalls feine Gesichtshaare haben. Das ist eine ideologische Verdrehung, die das Wesentliche aus den Augen verliert.
Die von Ardizzi erwähnte Studie stammt wohl aus dem Jahr 2015. Sie beruhte auf einer sehr kleinen Stichprobe von nur 41 Personen und weist methodische Schwächen auf, die früh kritisiert wurden.
In den letzten Jahren wurden weitere Studien durchgeführt, die versuchten, den Testosteronspiegel durch dominante Körperhaltungen zu erhöhen. Das Ergebnis ist eindeutig: Solche Manipulationen können kurzfristig das subjektive Empfinden verändern, aber nicht den Hormonspiegel. Auch die Auswirkungen auf das tatsächliche Verhalten sind höchst fraglich.
Natürlich ist es völlig plausibel, daß Hormone wie Testosteron auf längerfristige Umwelteinflüsse plastisch reagieren. Aber die Vorstellung, daß einfache soziale Manipulationen – etwa eine dominante Pose – meßbare hormonelle Veränderungen bewirken, hat sich als unbegründet erwiesen.
Nach zehn Jahren Forschung wissen wir: Dieses Hormonsystem ist weit weniger formbar, als es oft dargestellt wird.
Die feministischen Mythen über Männer und Frauen
Frage: Stimmt es, daß Frauen als emotionaler gelten, nur weil die Gesellschaft ihnen erlaubt, ihre Gefühle freier zu zeigen?
Prof. Del Giudice: Das ist ein klassisches feministisches Klischee. Viele halten es für selbstverständlich – doch Belege dafür fehlen völlig.
Im Gegenteil: Die Unterschiede zwischen Männern und Frauen in der emotionalen Ausdrucksfähigkeit – insbesondere beim Weinen – nehmen in Ländern mit größerer Geschlechtergleichheit zu statt ab.
Zwar sind die Unterschiede bei Menschen, die sich stark mit traditionellen Geschlechterrollen identifizieren, ausgeprägter, doch bedeutet das nicht, daß diese Identifikation die Ursache ist. Wahrscheinlicher ist, daß Männer mit „maskulineren“ Persönlichkeitszügen (die teils genetisch und hormonell bedingt sind) weniger expressiv sind und sich zugleich eher mit traditionellen Rollen identifizieren.
Bemerkenswert sind auch Berichte von Frauen, die im Zuge einer Geschlechtsangleichung männliche Testosterondosen einnehmen: Viele beschreiben, daß bestimmte Emotionen plötzlich weniger intensiv und drängend werden, sie deutlich seltener weinen und zugleich ein stärkeres Aggressionsgefühl empfinden. Diese Erfahrungen kommen häufig unerwartet – was darauf hinweist, daß sie nicht bloß durch Erwartungshaltungen erklärt werden können.
Frage: Ardizzi führt weiter aus, Jungen würden bessere räumliche Fähigkeiten deshalb entwicklen, weil sie freier erkunden und aktiver spielen dürften.
Prof. Del Giudice: Für die räumlichen Fähigkeiten gilt dasselbe wie für die Emotionen: Sie sind bis zu einem gewissen Grad formbar und trainierbar, doch es gibt keine überzeugenden Belege dafür, daß der Unterschied zwischen Jungen und Mädchen allein auf unterschiedliche Erziehung zurückgeht.
Schon sehr kleine Jungen bevorzugen in praktisch allen Kulturen aktivere Spiele und erkunden ihre Umgebung stärker – was die Ausbildung kognitiver Unterschiede eher verstärkt.
Das Problem ist, daß Diskussionen über Geschlechterunterschiede oft in einem „Alles-oder-nichts“-Denken verharren: Wenn es Plastizität gibt, zählt Biologie nicht – und umgekehrt. Das ist ein irreführender Zugang.
Daß bestimmte Unterschiede eine biologische Basis haben, heißt nicht, daß sie unveränderlich sind; ebenso wenig bedeutet Plastizität, daß Unterschiede „aus dem Nichts“ entstehen. Viele davon sind robust und tief verankert.
Frage: Ardizzi verweist außerdem auf eine neue Studie, der zufolge die Unterschiede in mathematischen Fähigkeiten, die in der Grundschule auftreten, nicht biologisch bedingt seien.
Prof. Del Giudice: Die Studie ist tatsächlich hervorragend – methodisch solide und statistisch anspruchsvoll.
Die Autoren zeigen, daß sich Geschlechterunterschiede in mathematischen Fähigkeiten zwischen der ersten und zweiten Klasse entwickeln und daß dies nicht nur vom Alter, sondern von der Dauer des Schulbesuchs abhängt.
Diese Daten sind vereinbar mit der Annahme, daß die Unterschiede durch schulische Erfahrungen entstehen – so interpretieren es die Autoren und auch Ardizzi. Doch sie sind ebenso kompatibel mit der Möglichkeit, daß sich angeborene Unterschiede erst dann zeigen, wenn Kinder tatsächlich Mathematik lernen, und mit zunehmendem Wissen klarer hervortreten – verstärkt durch unterschiedliche Interessen von Jungen und Mädchen.
Die erste Klasse mag also ein günstiger Zeitpunkt für pädagogische Interventionen sein, doch es ist keineswegs sicher, daß die Geschlechterunterschiede so leicht formbar sind oder daß Interventionseffekte langfristig bestehen bleiben – insbesondere, da kognitive Fähigkeiten eng mit Interessen und Vorlieben verflochten sind.
Ein biologisch orientierter Blick hilft hier, realistisch zu bleiben – keine „Wunder“ zu erwarten und Unterschiede nicht automatisch als Ungerechtigkeiten zu betrachten, die so schnell als möglich beseitigt werden müßten.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: UCCR (Screenshot)

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