Das Heilige Jahr und die Ablässe

Von Sündenvergebung und Sündenstrafen


Von Rober­to de Mattei*

Vom Son­nen­un­ter­gang bis Mit­ter­nacht des 1. Janu­ar des Jah­res 1300 ström­ten Scha­ren von Römern zur Kon­stan­ti­ni­schen Basi­li­ka von St. Peter. Es hat­te sich her­um­ge­spro­chen, daß ein Besuch am Petrus­grab ihnen den Erlaß ihrer Sün­den­stra­fen ein­brach­te. Papst Boni­fa­ti­us VIII., Bene­det­to Cae­ta­ni, der die Kir­che seit fünf Jah­ren regier­te und ein gro­ßer Rechts­exper­te war, ließ die päpst­li­chen Archi­ve und die Biblio­thek nach Bestä­ti­gun­gen für die­sen Glau­ben durch­su­chen. Unter den wich­tig­sten Doku­men­ten sei­ner Vor­gän­ger, die den Straf­nach­laß betra­fen, fand er eines, das Urban II. in Cler­mont (1095) erlas­sen hat­te. Um die Chri­sten zum ersten Kreuz­zug zu bewe­gen, hat­te er die Teil­nah­me an die­sem mit einem voll­stän­di­gen Straf­er­laß gleich­ge­setzt. Dar­auf­hin berief Boni­fa­ti­us das Kar­di­nals­kol­le­gi­um zu einem fei­er­li­chen Kon­si­sto­ri­um ein und beschloß, eine Bul­le mit dem Titel Anti­quo­rum habet fida rela­tio („Von den Alten haben wir siche­re Nach­rich­ten“) zu erlas­sen, in der er den alten Brauch bestä­tig­te und offi­zi­ell das erste Hei­li­ge Jahr der christ­li­chen Ära ver­kün­de­te. Den Kopien der Doku­men­te, die in die gan­ze katho­li­sche Welt ver­schickt wur­den, wur­den drei Ver­se beigefügt:

„Das Hun­dert­jahr ist in Rom immer ein Jubel­jahr.
Eure Schuld ist getilgt, denen, die bereu­en, wird ver­ge­ben.
Dies hat Boni­fa­ti­us erklärt und bestätigt“.

Damit die Bul­le für immer in Erin­ne­rung bleibt, ließ Boni­fa­ti­us die Jubi­lä­ums­bul­le in eine Mar­mor­plat­te ein­gra­vie­ren, die im Atri­um der alt­ehr­wür­di­gen Kon­stan­ti­ni­schen Basi­li­ka ange­bracht wur­de. Mit der dar­auf fol­gen­den Bul­le Nuper per ali­as wur­de am 22. Febru­ar 1300, dem Fest der Kathe­dra Petri, den Pil­gern, die nach Rom kamen, ein Ple­nis­si­ma-Ablaß gewährt, d. h. ein Ablaß, der so weit­rei­chend war, daß er alle Schuld und Stra­fe für began­ge­ne Sün­den tilg­te. Jeder Pil­ger, der sei­ne Sün­den bereut und gebeich­tet hat und wäh­rend des Hei­li­gen Jah­res nach Rom reist, um die Hei­li­gen Petrus und Pau­lus durch den Besuch ihrer Basi­li­ken zu ver­eh­ren, kann in den Genuß die­ses Ablas­ses kom­men. Mit die­sem Akt bekräf­tig­te der Papst sei­ne ple­ni­tu­do pote­sta­tis, die höch­ste Macht, die Gna­den­schät­ze, deren Ver­wal­ter die hei­li­ge römi­sche Kir­che ist, über die Gläu­bi­gen auszugießen.

Wir ver­fü­gen über die detail­lier­ten Berich­te des Kar­di­nal­dia­kons von San Gior­gio in Vel­ab­ro Jaco­po Ste­fa­ne­schi, Autor eines Wer­kes mit dem Titel De cen­te­si­mo seu Jubi­leo anno liber, das zu Beginn des 14. Jahr­hun­derts geschrie­ben wur­de, sowie die des gro­ßen Flo­ren­ti­ner Chro­ni­sten Gio­van­ni Vil­la­ni und vie­ler ande­rer. Sie alle berich­ten in ihren Schrif­ten, daß zu Beginn des Jah­res 1300 wah­re Men­schen­mas­sen in die Stra­ßen Roms ström­ten, zunächst aus der Stadt und dann aus fer­nen Län­dern des Abend- und des Mor­gen­lan­des. Im acht­zehn­ten Gesang der Höl­le (22–43) beschreibt Dan­te, wie die Stadt­ver­wal­tung auf der Engels­brücke, dem obli­ga­to­ri­schen Durch­gang zum Peters­dom, eine Art wech­sel­sei­ti­ge Ein­bahn­stra­ße ein­ge­rich­tet hat­te, um einen geord­ne­ten Pil­ger­fluß zu ermög­li­chen, wäh­rend Grup­pen von Wäch­tern dar­über wach­ten, daß der Ver­kehr ohne Unfäl­le oder Stö­run­gen ablief. Vil­la­ni zufol­ge hiel­ten sich im Jahr 1300, die stän­dig in der Stadt ansäs­si­gen Römer abge­zo­gen, täg­lich zwei­hun­dert­tau­send Pil­ger in der Stadt auf, die soge­nann­ten Romei1. Die mei­sten von ihnen mach­ten sich auf eine beschwer­li­che und oft gefähr­li­che Reise.

Was trieb die­se Pil­ger an, die, als sie in Sicht­wei­te der Ewi­gen Stadt anka­men, voll Begei­ste­rung den Hym­nus O Roma nobi­lis anstimm­ten? Im Buß­ge­richt der Beich­te waren ihnen bereits ihre Sün­den ver­ge­ben wor­den, aber sie waren sich bewußt, daß sie ent­we­der in die­sem oder im näch­sten Leben für die Stra­fen büßen muß­ten, die sie durch die Belei­di­gung Got­tes ver­dient hat­ten. Die Hei­li­ge Schrift erin­nert uns dar­an, daß nichts Unrei­nes ins Para­dies gelan­gen kann (Offb 21,27). Der Ort, an dem sie für ihre Stra­fen büßen soll­ten, war das Fege­feu­er (Pur­ga­to­ri­um), das Dan­te in der zwei­ten Can­ti­ca der Gött­li­chen Komö­die als den Gip­fel eines Ber­ges auf der süd­li­chen Hemi­sphä­re beschreibt, der sich an den Anti­po­den Jeru­sa­lems befin­det, der aber nach der vor­herr­schen­den Mei­nung der Theo­lo­gen im Innern der Erde, in der Nähe der Höl­le liegt. Das päpst­li­che Jubel­jahr bot ihnen eine außer­or­dent­li­che Gele­gen­heit, die zeit­li­chen Stra­fen zu ver­kür­zen, die sie für ihre Sün­den schul­de­ten. Von da an wür­de die Kir­che in regel­mä­ßi­gen Abstän­den, zunächst alle hun­dert Jah­re, dann alle fünf­und­zwan­zig Jah­re, ihre Macht zur Sün­den­ver­ge­bung zum Woh­le der Gläu­bi­gen ausüben.

Wir wis­sen, daß Dan­te Boni­fa­ti­us VIII. ver­ab­scheu­te, den er für einen der Haupt­ver­ant­wort­li­chen für den mora­li­schen und gei­sti­gen Ver­fall der Kir­che hielt. Im 19. Gesang der Höl­le, der den­je­ni­gen vor­be­hal­ten ist, die sich der Simo­nie schul­dig gemacht haben, trifft der Dich­ter auf Papst Niko­laus III., Gio­van­ni Gaet­a­no Orsi­ni, der Boni­fa­ti­us VIII. die bal­di­ge Ankunft im Höl­len­feu­er pro­phe­zeit und ihn beschul­digt, die Kir­che Chri­sti durch sei­ne Ver­derbt­heit zer­ris­sen zu haben (Höl­le, XIX, 52–57). Kir­chen­hi­sto­ri­ker hal­ten Dan­tes Urteil für unge­recht, wei­sen aber dar­auf hin, daß er trotz sei­ner radi­ka­len Abnei­gung gegen Boni­fa­ti­us VIII. des­sen Macht zur Lei­tung der Kir­che nicht anzwei­felt. Dan­te tritt damit in die Fuß­stap­fen des hei­li­gen Pier Damia­ni, der Simo­nie zwar mit Häre­sie gleich­setzt, aber erklärt, daß simo­ni­sti­sche Prie­ster trotz ihrer mora­li­schen Unwür­dig­keit und ihrer häre­ti­schen Posi­tio­nen den­noch die Sakra­men­te und die Gerichts­bar­keit gül­tig aus­üben (Liber qui dici­tur gra­tis­si­mus, PL, 145, 100–159).

Im Pur­ga­to­ri­um (II, 94–99) erklärt der in Flo­renz berühm­te Musi­ker Casel­la, ein Freund Dan­tes, daß er das Fege­feu­er nur lang­sam ver­las­sen konn­te, weil sich dank des Hei­li­gen Jah­res von Boni­fa­ti­us VIII. so vie­le See­len vor den Toren des Para­die­ses ange­sam­melt hat­ten. Die Befug­nis, Abläs­se zu gewäh­ren, ist in der Tat eine der höch­sten Befug­nis­se, die dem Stell­ver­tre­ter Chri­sti vor­be­hal­ten sind, gemäß den Wor­ten Chri­sti an den Hei­li­gen Petrus: „Was du auf Erden bin­den wirst, wird auch im Him­mel gebun­den sein; und was du auf Erden lösen wirst, wird auch im Him­mel gelöst sein“ (Mt 16,19). Die­se kraft­vol­len Wor­te, die die Auto­ri­tät zur Lei­tung der Kir­che bezeich­nen, ent­hal­ten die Macht, die Sün­den nicht nur hin­sicht­lich der Schuld durch das Buß­sa­kra­ment zu ver­ge­ben, son­dern auch hin­sicht­lich der zeit­li­chen Stra­fe, die mit ihnen ver­bun­den ist. Man kann weder den Wert der Ver­dien­ste Jesu, der Got­tes­mut­ter Maria und der Hei­li­gen, die den Schatz bil­den, noch die Voll­macht der Kir­che, sie zu ver­tei­len, anzwei­feln. Aus die­sem Grund hat das Kon­zil von Tri­ent in sei­nem berühm­ten Dekret De indul­gen­ti­isall jene ver­ur­teilt, die den Ablaß als nutz­los bezeich­nen oder der Kir­che die Befug­nis abspre­chen, ihn zu gewäh­ren“. Er fügt jedoch hin­zu, daß „es not­wen­dig ist, ihn mit gro­ßer Mäßi­gung zu gewäh­ren, damit nicht eine zu gro­ße Leich­tig­keit bei der Gewäh­rung die kirch­li­che Dis­zi­plin schwächt“ (Sess. XXV, Kap. XXI).

In der Tat darf man nicht glau­ben, daß der Ablaß die Gläu­bi­gen von der Buße befreit. Die Kir­che hat bei der Gewäh­rung von Abläs­sen die Ver­ge­bung der Sün­den im Blick, soweit dies der gött­li­chen Gerech­tig­keit ent­spricht, aber sie will uns nicht von den Schmer­zen und Lei­den befrei­en, die not­wen­dig sind, um schlech­te Gewohn­hei­ten zu über­win­den und ein christ­li­ches Leben zu füh­ren. Der Ablaß, selbst der voll­kom­me­ne Ablaß, ent­bin­det also nicht von den irdi­schen Schmer­zen, die die gött­li­che Vor­se­hung den Men­schen als eine Form der Kor­rek­tur und Läu­te­rung vor­be­hält. So starb Davids Sohn, obwohl der König nach den began­ge­nen Sün­den faste­te und für die Bewah­rung des Lebens des jun­gen Man­nes bete­te (2 Sam 12,16–18): Gott woll­te anstel­le der Stra­fe, die, wie der hei­li­ge Augu­sti­nus sagt, David zur Prü­fung und Zurecht­wei­sung auf­er­legt wor­den war, kein ande­res zufrie­den­stel­len­des Werk annehmen.

Die Abläs­se sichern uns also nicht ein Leben ohne Kreuz, son­dern hel­fen uns, es zu tra­gen. Um einen voll­kom­me­nen Ablaß zu erlan­gen, ist es ande­rer­seits not­wen­dig, nicht die gering­ste Nei­gung zur Sün­de zu haben und von einem wah­ren Geist der Buße beherrscht zu wer­den. Das ist nicht leicht, aber der voll­kom­me­ne Ablaß des Jubi­lä­ums ist auch ein star­ker Ansporn, die Lie­be zu Gott und den Haß auf die Sün­de zu ent­wickeln, die die not­wen­di­ge Vor­aus­set­zung dafür sind, ihn zu erlan­gen. Des­halb gehen wir auf den Knien durch die Hei­li­ge Pfor­te, küs­sen sie und spre­chen ein Gebet.

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017, und Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil. Eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, 2. erw. Aus­ga­be, Bobin­gen 2011.

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Übersetzung/​Fußnote: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Cor­ri­spon­den­za Romana/​MiL


1 Die Rom­pil­ger wur­den Romei genannt, was sich in zahl­rei­chen Bei­spie­len wider­spie­gelt, etwa in der Via Romea, dem Weg der deut­schen Rom­pil­ger, der von Sta­de im heu­ti­gen Nie­der­sach­sen über den Bren­ner bis zum Peters­dom führt; oder der Aus­druck Romen­ei, oft nicht mehr ver­stan­den, der eine Pil­ger­rei­se nach Rom meint.

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