Kurz vor Weihnachten war es soweit. Aus der Türkei kamen nicht zum ersten Mal Meldungen, die sterblichen Überreste des heiligen Nikolaus von Myra befänden sich nicht in der ihm geweihten Päpstlichen Basilika in Bari, sondern in der Türkei. Doch was hat es damit auf sich?
Laut den türkischen Stimmen hätten Seeleute aus Venedig und Bari vor bald tausend Jahren die falschen Gebeine geborgen und ins Abendland gebracht, nicht die Gebeine des heiligen Bischofs, sondern „eines anderen Priesters“.
Dem widerspricht Pasquale Corsi, Professor für Mittelalterliche und Byzantinische Geschichte an der Universität Bari, in einem Interview mit der Wissenschaftsseite UCCR online. Prof. Corsi macht auch auf die Auffälligkeit aufmerksam, daß sich türkische Archäologen just kurz vor Weihnachten mit der Nachricht zu Wort meldeten. Schließlich gehe die international wohl bekanntere Kunstfigur des „Weihnachtsmanns“ auf den heiligen Nikolaus zurück. Weihnachten und Trittbrettfahrer also?
Nikolaus von Myra wurde um 280 nach Christus in Patara in Lykien geboren, einer Gegend, die heute zur Türkei gehört, damals jedoch zu dem von Griechen bewohnten Teil des Römischen Reichs gehörte. Nikolaus wurde Bischof von Myra, dem heutigen Demre. Er gehört sowohl in der katholischen wie in der orthodoxen Kirche zu den am meisten verehrten Heiligen der Kirchengeschichte. Er bekämpfte die arianische Häresie und nahm als Bischof im Jahr 325 am ersten Ökumenischen Konzil der Kirchengeschichte in Nicäa teil. Um 350 ist er, der als großer Wundertäter verehrt wird, verstorben.
Am Anfang der Regierungszeit des byzantinischen Kaisers Alexius I. Komnenos wurde Myra, wo sich das hochverehrte Grab des hl. Nikolaus befand, von den Seldschuken, islamischen Türken, besetzt. Aus Sorge, die neuen moslemischen Machthaber könnten Hand an das Grab legen, setzten Kaufleute aus Bari 1087 eine wagemutige Tat. Sie brachen in einer Nacht-und-Nebelaktion das Grab auf, entnahmen die sterblichen Überreste und brachten sie in ihre Heimatstadt in Apulien.
Kurz darauf konnten die Byzantiner Myra zwar befreien, doch dann eroberten 1391 die Osmanen, ebenfalls islamische Türken, ganz Lykien. Rund 750 Jahre befand sich das Grab des Heiligen in der ihm geweihten Nikolaus-Basilika in seiner Bischofsstadt. Diese wurde bis 1923 als Gotteshaus genützt, als die griechisch-orthodoxen Bewohner des Osmanischen Reiches ausgebürgert und zwangsumgesiedelt wurden. Ein aufgebrochenes Grab in der Basilika wird bis heute von orthodoxen Christen als sein ursprüngliches Grab verehrt.
Im vorigen Jahrzehnt wurde die Nikolaus-Basilika von Demre restauriert und zieht seither zahlreiche Besucher an. Die Tourismusindustrie freut sich über jede sensationelle Ankündigung, man habe „möglicherweise“ irgendetwas entdeckt, das mit dem heiligen Nikolaus zu tun hat. Wahr oder nicht wahr, das spiele dabei eine eher untergeordnete Rolle.
Aus Gründen der Aufmerksamkeit und des Tourismus werden demnach von türkischer Seite in unregelmäßigen Abständen irreführende Nachrichten in die Welt gesetzt. Zuletzt war 2017 behauptet worden, man habe in Demre die „echten Knochen“ des heiligen Nikolaus entdeckt. Dieses Mal fanden angeblich türkische Archäologen in der Nähe der St.-Nikolaus-Kirche in Demre einen Sarkophag.
Die Leiterin der Ausgrabungsstätte, Ebru Fatma Findik, beeilte sich, die Entdeckung bekanntzumachen, und machte sich dabei zudem über Italien lustig: „Wir haben Grund zu der Annahme, daß die Einwohner von Bari und Venedig die Gebeine eines anderen Priesters gestohlen haben, während die des Heiligen in einer versteckteren Krypta liegen“.
Prof. Corsi, einen der größten Experten für die Zeit, als die Gebeine des heiligen Nikolaus nach Europa gebracht wurden, beeindrucken die türkischen Meldungen nicht. Sie verwundern ihn bestenfalls: „Es ist nicht das erste Mal, daß türkische Archäologen solche Vorschläge machen, aber sie sind völlig haltlos“. Wohl auch in Zukunft sei mit solchen und ähnlichen Meldungen aus der Türkei zu rechnen. Die Quellen über die Verbringung der Gebeine nach Bari sind jedoch „fundiert“:
„Wir verfügen über so präzise und gesicherte Informationen, daß es keinen begründeten Zweifel geben kann“.
Der Historiker verweist auf das Zeugnis von Nikephorus, der die Verbringung der sterblichen Überreste selbst miterlebte. Sein Zeugnis ist eine von drei zeitgenössischen Quellen zur Aktion.
„Er hinterließ uns eine Chronik mit einer Reihe von sehr genauen Hinweisen auf die Etappen der Hin- und Rückreise von Bari nach Myra. Hätte er sie gefälscht oder bestünden irgendwelche Zweifel, wären Unstimmigkeiten aufgetreten, stattdessen stimmt alles überein. Bei den Gebeinen des heiligen Nikolaus und dem Sarkophag hier in Bari kann man sich also sicher sein.“
Die heutigen türkischen Behauptungen gehen, so Prof. Corsi, auf eine jahrhundertealte Polemik zurück, die ihren Ausgang in Venedig nahmen. Die Venezianer waren damals kurz nach den Kaufleuten aus Bari in das türkisch besetzte Myra gekommen. Die Baresi hatten bereits vollendete Tatsachen geschaffen. Die Venezianer, die vielleicht eine ähnliche Absicht hatten oder erst durch die Tat, von der sie erfuhren, auf die Idee gebracht wurden, ärgerten sich offensichtlich, daß die Baresi, Konkurrenten Venedigs in der Adria und im Orienthandel, so bedeutende Reliquien in ihre Stadt bringen hatten können. Die Venezianer behaupteten, sie hätten noch einige Knochen des Heiligen im Grab vorgefunden und diese nach Venedig gebracht.
Dieser Darstellung widerspricht die genannte Chronik des Nikephorus, laut der offensichtlich alle vorhandenen Knochen vollständig dem Sarkophag in Myra entnommen, untersucht und nach Bari gebracht wurden.
Diese Angaben decken sich mit einer früheren Reliquienentnahme, denn bereits im Übergang von der Spätantike zum Frühmittelalter waren einige Reliquien des Heiligen seinem Grab entnommen und nach Konstantinopel gebracht worden. Als im Jahr 972 Kaiser Otto II. die byzantinische Kaisernichte Theophanu heiratete, brachte sie diese Reliquien in das Abendland mit. Mit dieser Hochzeit erkannte Konstantinopel die westliche Kaiserwürde an. Reliquien dienten im Mittelalter als übernatürliche Garanten von besonders bedeutsamen Rechtsakten. Die Anerkennung der Kaiserwürde war ein solcher hochbedeutsamer Rechtsakt. Die genannten Reliquien befinden sich seit 1058 im Kaiserdom zu Worms.
Vor allem müsse mitgedacht werden, daß auch Bari so wie Myra bis 1071 zum Byzantinischen Reich gehört hatte. Der Einfluß der griechischen Sprache und die ostkirchliche Prägung waren sehr stark in der Stadt. Diese Verbindung brach erst ab, als Bari 1071 von den Normannen eingenommen wurde. Genau im selben Jahr begannen die Seldschuken einen Eroberungszug durch das christliche Anatolien und besetzten im selben Jahr auch Syrien und Jerusalem. Die christlichen Pilgerfahrten ins Heilige Land, die bis dahin bereits unter den islamischen Fatimiden gelitten hatten, kamen nun fast vollends zum Erliegen.
Die Identität der Nikolaus-Reliquien von Bari war so eindeutig, daß Papst Urban II. 1098 persönlich die Prozession anführte, mit der sie in die Krypta der eigens für sie in Bari erbauten Basilika übergeführt wurden. Zudem berief er ein Konzil in der Stadt ein, um den 1054 eingetretenen Bruch zwischen Ost- und Westkirche zu überwinden.
Als Grund für die damaligen Polemiken, die zum Ursprung aller folgenden wurden, nennt Prof. Corsi ein Konkurrenzdenken um religiöses Prestige und die Kraft, Pilgerfahrten in die jeweilige Stadt anzuziehen. Für die heutigen Polemiken gehe es ebenso um Prestige und touristische Aspekte. Es habe sich nicht allzuviel geändert. Alle bisherigen türkischen Behauptungen in der Sache, die älteren wie die jüngsten, seien jedoch haltlos. Allen gemeinsam ist, daß irgendwelche Funde gemacht werden, zu denen willkürlich eine Verbindung mit dem heiligen Nikolaus behauptet wird.
2025 wird an das Konzil von Nicaea vor 1700 Jahren erinnert. Papst Franziskus will dazu im Mai nach Nicaea reisen, dem heutigen Iznik. In Demre möchte man möglichst auch von diesem Ereignis profitieren.
Das Beispiel zeigt auch, wie lange sich aus Neid und Konkurrenz in die Welt gesetzte Polemiken, wenn auch in abgewandelter Form, halten können.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: Wikicommons/MiL
Man sollte die Herausgabe der Gebeine fordern. Was will ein islamisierender Staat mit den Reliquien h
jenes Heiligen, der für jene Wahrheit über Jesus gekämpft hat, auch mit Fäusten, die der Islam am intensivsten bekämpft?