Die Gnade des gegenwärtigen Augenblicks


Von Rober­to de Mattei*

Anzei­ge

Es war mein Wunsch, den Abschluß der Som­mer­uni­ver­si­tät der Lepan­to-Stif­tung, die vom 25. bis 28. Juli 2024 in Subia­co statt­fand, mit fol­gen­den Wor­ten der Theo­lo­gie der christ­li­chen Geschich­te zu widmen:

Die Jahr­hun­der­te ver­ge­hen, die Umstän­de ändern sich, aber Gott ändert sich nicht, die katho­li­sche Kir­che ist die­sel­be und der Kampf ist wei­ter­hin der zwi­schen den bei­den Städ­ten, die sich in der Geschich­te wie zwei Armeen gegen­über­ste­hen. Die Theo­lo­gie der christ­li­chen Geschich­te ver­si­chert uns, daß die Stadt Got­tes immer sieg­reich ist; die Erschei­nung Unse­rer Lie­ben Frau in Fati­ma ver­si­chert uns, daß der histo­ri­sche Tri­umph des Unbe­fleck­ten Her­zens nahe ist; die histo­ri­sche und logi­sche Ana­ly­se der revo­lu­tio­nä­ren Dyna­mik ver­si­chert uns die Unum­kehr­bar­keit der kon­ter­re­vo­lu­tio­nä­ren Bewe­gung. Die­je­ni­gen, die in den Kampf ein­ge­taucht sind, über­se­hen jedoch den gro­ßen Hori­zont des Schlacht­fel­des, der manch­mal in Nebel oder in die Schat­ten der Nacht gehüllt scheint. Es besteht die Gefahr, daß wir uns ver­ir­ren, vor allem aber, daß wir das End­ziel unse­rer Kämp­fe und unse­res Weges aus den Augen ver­lie­ren. Denn der Weg ist weit, und er ist nicht line­ar. Man bewegt sich auf ver­schlun­ge­nen Pfa­den, mit wei­ten Kur­ven, manch­mal ist das Gelän­de steil und undurch­läs­sig, manch­mal flach, es fällt ab und steigt plötz­lich wie­der an. Auf das Gan­ze gese­hen ist die Bewe­gung sicher­lich anstei­gend, aber nicht schnur­ge­ra­de. Wir klet­tern dem Gip­fel zu, aber vor­bei an Spit­zen, Abgrün­den und Klip­pen auf einem unebe­nen Weg. Und die Fein­de, die uns angrei­fen, sind viel­fäl­tig. So ist die Geschich­te der Mensch­heit, so ist unser Leben. Und wenn die Nacht der Ver­wir­rung her­ein­bricht, die Dun­kel­heit des Cha­os, über­fällt uns die Angst.

Lou­is-Fer­di­nand Céli­ne, ein fran­zö­si­scher Schrift­stel­ler der 1930er Jah­re, schrieb einen Roman mit dem Titel: „Voya­ge au bout de la nuit“ („Rei­se ans Ende der Nacht“). In die­sem Roman schreibt Céli­ne einem Offi­zier der Schwei­zer­gar­di­sten, die sich 1793 in den Tui­le­rien opfer­ten, um Lud­wig XVI. zu ver­tei­di­gen, ein Lied zu, in dem es heißt: „Not­re vie est un voya­ge /​ Dans l’Hi­ver et dans la Nuit /​ Nous cher­chons not­re pas­sa­ge /​ Dans le Ciel où rien ne luit“ („Unser Leben ist eine Rei­se /​ im Win­ter und in der Nacht /​ wir suchen unse­ren Weg /​ in einem Him­mel ohne Licht)“. Die­ser roman­ti­sche Pes­si­mis­mus ent­spricht nicht der Rea­li­tät. Es ist wahr, daß wir oft in der Dun­kel­heit der Nacht gehen müs­sen. Aber auf die Nacht folgt immer die strah­len­de Mor­gen­däm­me­rung des Tages. Und bei Tag und bei Nacht hört das über­na­tür­li­che Licht, das uns den Weg weist, nie­mals auf zu leuchten.

Wenn wir durch die Nacht gehen, wird unser Weg von einer Fackel erleuch­tet, die unse­re Schrit­te erhellt, auch wenn sie uns nicht erlaubt, weit vor oder hin­ter uns zu sehen. Die­se Fackel ist die Gna­de des gegen­wär­ti­gen Augen­blicks, die es uns durch ihren wenn auch begrenz­ten Licht­strahl ermög­licht, nicht zu stol­pern, nicht vom Weg abzu­kom­men und die rich­ti­ge Rich­tung beizubehalten.

Auf die­se Gna­de des gegen­wär­ti­gen Augen­blicks bezieht sich unser Herr, wenn er sagt: „Seid gewiß: Ich bin bei euch alle Tage bis zum Ende der Welt“ (Mt 28,18–20). Jeden Tag, nie­mand aus­ge­nom­men, aber auch jeden Augen­blick, denn es gibt kei­nen Augen­blick in der Geschich­te oder in unse­rem Leben, der Sei­ner Gna­de ent­zo­gen ist.

Der gegen­wär­ti­ge Augen­blick ist der­je­ni­ge, der uns der Ewig­keit am näch­sten bringt, denn der gegen­wär­ti­ge Augen­blick „ist“. Die Ver­gan­gen­heit ist nicht mehr, die Zukunft ist noch nicht, aber im Sein des gegen­wär­ti­gen Augen­blicks begeg­nen wir Gott, der als ewi­ge Gegen­wart defi­niert wer­den kann, weil Gott sei­nem Wesen nach Sein ist. Wir wer­den von Gott in dem gegen­wär­ti­gen Augen­blick gerich­tet wer­den, der unser Tod sein wird. Unser Leben, es kennt Schat­ten und Licht, Höhen und Tie­fen oder zumin­dest die Mög­lich­keit von Höhen und Tie­fen, von ver­schie­de­nen Gip­feln, denn nie­mand ist mehr in Gefahr zu fal­len als die­je­ni­gen, die nach Voll­kom­men­heit stre­ben, aber der Moment der Wahr­heit wird der unse­res Todes sein.

Wir den­ken manch­mal, daß Gott dann eine Bilanz unse­res Lebens zie­hen und uns nach einem arith­me­ti­schen Mit­tel­wert beur­tei­len wird. Dem ist nicht so. Das Bild der Waa­ge ist trü­ge­risch. Unser Leben wird nicht in sei­ner Gesamt­heit beur­teilt, son­dern in einem ein­zi­gen Moment, den wir als Moment­auf­nah­me des Todes bezeich­nen könnten.

Wenn wir uns das Gericht als eine Waa­ge vor­stel­len müß­ten, auf der die Men­ge an Bösem oder Gutem, die wir began­gen haben, abge­wo­gen wird, könn­ten wir törich­te Berech­nun­gen anstel­len, bei denen die Sün­de von heu­te durch die Tugend von mor­gen aus­ge­gli­chen wer­den könn­te. Dem ist nicht so. Natür­lich, jedes Schei­tern zählt, eben­so wie jede Ent­spre­chung der Gna­de, denn jede Hand­lung hat Fol­gen, aber nicht im Sin­ne eines arith­me­ti­schen Durch­schnitts. Was wirk­lich zählt, ist der letz­te Augen­blick unse­res Lebens, das Auf­blit­zen auf der Ziel­li­nie, und nie­mand weiß, wel­ches Bild in die­sem Auf­blit­zen der Ewig­keit über­ge­ben wird. Nie­mand weiß, wel­che letz­te Gna­de wir erhal­ten wer­den und ob wir die­ser letz­ten Gna­de ent­spre­chen wer­den. Und nie­mand kennt den Zeit­punkt des eige­nen Todes.

Des­halb müs­sen wir im gegen­wär­ti­gen Augen­blick leben. Unser Leben ist kein Film mit einem gesi­cher­ten Hap­py End, son­dern eine Abfol­ge von Moment­auf­nah­men des gegen­wär­ti­gen Augenblicks.

Im gegen­wär­ti­gen Augen­blick zu leben bedeu­tet, nie­mals mut­los zu wer­den, son­dern sich von Augen­blick zu Augen­blick der gött­li­chen Vor­se­hung zu über­las­sen, die um die tie­fe Bedeu­tung die­ses flüch­ti­gen Augen­blicks weiß. Indem wir im gegen­wär­ti­gen Augen­blick leben, üben wir die Tugend, die wir gera­de in die­sen Tagen am mei­sten brau­chen: die Hoff­nung und das Ver­trau­en auf den end­gül­ti­gen Tri­umph des Unbe­fleck­ten Her­zens Mariens.

*Rober­to de Mat­tei, Histo­ri­ker, Vater von fünf Kin­dern, Pro­fes­sor für Neue­re Geschich­te und Geschich­te des Chri­sten­tums an der Euro­päi­schen Uni­ver­si­tät Rom, Vor­sit­zen­der der Stif­tung Lepan­to, Autor zahl­rei­cher Bücher, zuletzt in deut­scher Über­set­zung: Ver­tei­di­gung der Tra­di­ti­on: Die unüber­wind­ba­re Wahr­heit Chri­sti, mit einem Vor­wort von Mar­tin Mose­bach, Alt­öt­ting 2017, und Das Zwei­te Vati­ka­ni­sche Kon­zil. Eine bis­lang unge­schrie­be­ne Geschich­te, 2. erw. Aus­ga­be, Bobin­gen 2011.

Bücher von Prof. Rober­to de Mat­tei in deut­scher Über­set­zung und die Bücher von Mar­tin Mose­bach kön­nen Sie bei unse­rer Part­ner­buch­hand­lung beziehen.

Erst­ver­öf­fent­li­chung: Radio Roma Libe­ra
Über­set­zung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: MiL

Print Friendly, PDF & Email
Anzei­ge

Hel­fen Sie mit! Sichern Sie die Exi­stenz einer unab­hän­gi­gen, kri­ti­schen katho­li­schen Stim­me, der kei­ne Gel­der aus den Töp­fen der Kir­chen­steu­er-Mil­li­ar­den, irgend­wel­cher Orga­ni­sa­tio­nen, Stif­tun­gen oder von Mil­li­ar­dä­ren zuflie­ßen. Die ein­zi­ge Unter­stüt­zung ist Ihre Spen­de. Des­halb ist die­se Stim­me wirk­lich unabhängig.

Katho­li­sches war die erste katho­li­sche Publi­ka­ti­on, die das Pon­ti­fi­kat von Papst Fran­zis­kus kri­tisch beleuch­te­te, als ande­re noch mit Schön­re­den die Qua­dra­tur des Krei­ses versuchten.

Die­se Posi­ti­on haben wir uns weder aus­ge­sucht noch sie gewollt, son­dern im Dienst der Kir­che und des Glau­bens als not­wen­dig und fol­ge­rich­tig erkannt. Damit haben wir die Bericht­erstat­tung verändert.

Das ist müh­sam, es ver­langt eini­ges ab, aber es ist mit Ihrer Hil­fe möglich.

Unter­stüt­zen Sie uns bit­te. Hel­fen Sie uns bitte.

Vergelt’s Gott!