
Sandro Magister, ein sehr erfahrener Vatikanist, analysiert die Paralleldiplomatie der Gemeinschaft von Sant’Egidio.
Von Sandro Magister
Die Beauftragung von Kardinal Matteo Zuppi mit einer noch zu definierenden „Friedensmission“ in der Ukraine ist die jüngste der persönlichen Initiativen von Papst Franziskus, mit denen die Diplomaten des vatikanischen Staatssekretariats an den Rand gedrängt werden.
Zuppi ist nicht nur Erzbischof von Bologna und Vorsitzender der Italienischen Bischofskonferenz, sondern auch ein historisches Mitglied der Gemeinschaft von Sant’Egidio, die für ihre jahrelange „Parallel-Diplomatie“ in verschiedenen Teilen der Welt bekannt ist.
In der Ukraine ist Zuppi, wie man weiß, wenig beliebt, bei der Regierung in Kiew wie bei der dortigen griechisch-katholischen Kirche. In der Flut seiner Äußerungen zum Krieg hat er es stets vermieden, das Recht der ukrainischen Nation, sich mit Waffen gegen die russische Invasion zu verteidigen, und auch ihre Aufrüstung durch viele westliche Nationen klar zu unterstützen. „Der Christ“, sagte er, „ist ein Mann des Friedens, der einen anderen Weg des Widerstands wählt: Gewaltlosigkeit.“
Für Rußland sind das süße Worte, und noch mehr gilt das für jene des Gründers von Sant’Egidio, Andrea Riccardi, den allmächtigen Monarchen der Gemeinschaft.
Vom ersten Tag des russischen Angriffs an setzte sich Riccardi für die Kapitulation der Ukraine ein und forderte, Kiew zu einer „offenen Stadt“ zu erklären, d. h. ohne Widerstand von der einmarschierenden Armee besetzen zu lassen.
Riccardi war es wiederum, der am 5. November die Schlußrede bei der beeindruckenden pazifistischen Kundgebung hielt, die durch die Straßen Roms zum Lateran zog und einen Waffenstillstand forderte, mit Dutzenden von Fahnen von Sant’Egidio, aber verständlicherweise keiner einzigen ukrainischen.
Der Abstand zwischen den Positionen von Zuppi und Riccardi auf der einen und denen des vatikanischen Außenministers Erzbischof Paul Gallagher, der die bewaffnete Verteidigung des ukrainischen Staates und die Unantastbarkeit seiner Grenzen unmißverständlich befürwortet hat, auf der anderen Seite ist bemerkenswert.
Mit der Übertragung der „Friedensmission“ an Zuppi zeigt Franziskus, daß er mehr als mit der Ukraine den Dialog mit Rußland wiederaufnehmen will, und auch mit dem Moskauer Patriarchat, mit dem die Gemeinschaft Sant’Egidio seit jeher freundschaftliche Beziehungen pflegt, die durch stimmungsvolle ökumenische Treffen unterstrichen werden, bei denen stets darauf geachtet wird, auch nur das kleinste Argument der Uneinigkeit zu vermeiden.
Aber das ist noch nicht alles. Franziskus schätzt und zeigt auch, daß er sich die „Parallel-Diplomatie“ von Sant’Egidio mit China zu eigen macht.
*
Zwischen dem Heiligen Stuhl und China gab es in jüngster Zeit Neuigkeiten, die eine Verschlechterung im Zusammenhang mit dem Geheimabkommen über die Bischofsernennungen, das zwischen den beiden Seiten im Jahr 2018 geschlossen und im vergangenen Oktober zum zweiten Mal und für weitere zwei Jahre erneuert wurde, anzeigen.
Seit dem Inkrafttreten des Abkommens gab es bisher nur sechs Neuernennungen: 2019 in Jining und Hanzhong (aber in diesen beiden Fällen waren die Kandidaten bereits Jahre zuvor, 2010 bzw. 2016, bestimmt worden); 2020 in Qingdao und Hongdong; 2021 in Pingliang und Hankou-Wuhan.
Dann geschah mehr als ein Jahr lang nichts, bis zum 24. November 2022, als der Heilige Stuhl mitteilte, er habe „mit Überraschung und Bedauern“ von der „Einsetzungszeremonie“ von John Peng Weizhao, dem ehemaligen Bischof von Yujiang, auch „als Weihbischof von Jiangxi“ erfahren.
Von Rom aus wird dieser Akt als „nicht konform“ mit dem geltenden Abkommen bezeichnet, zudem in einer Diözese, der von Jiangxi, die „vom Heiligen Stuhl nicht anerkannt“ ist, also die Diözesangrenzen einseitig von der Regierung in Peking gezogen wurden.
Aber von China aus geht es unaufhaltsam weiter mit einem zweiten nicht abgesprochenen Akt. Am 4. April 2023 verkündete Matteo Bruni, der Leiter des vatikanischen Presseamtes und ebenfalls Mitglied von Sant’Egidio, daß der Heilige Stuhl „aus den Medien erfahren“ habe, daß Joseph Shen Bin seine frühere Diözese Haimen verlassen habe und an die Spitze einer anderen Diözese, der von Schanghai, gesetzt worden sei.
In der Tageszeitung Avvenire der Italienischen Bischofskonferenz versucht der China-Experte Agostino Giovagnoli den Schlag abzumildern, indem er darauf hinwies, daß es sich nicht um eine neue Bischofsweihe handelte, sondern nur um die Versetzung eines Bischofs von einem Bischofssitz an einen anderen, und daß es, wenn überhaupt, ein „Mißverständnis“ zwischen den Behörden in Peking gegeben habe, „das auch auf einen kürzlichen Wechsel in der Führung des Gremiums der Vereinigten Front [der Kommunistischen Partei Chinas] zurückzuführen ist, das sich mit religiösen Angelegenheiten und insbesondere dem Katholizismus befaßt“.
Auch Giovagnoli ist ein hochrangiges Mitglied von Sant’Egidio sowie Professor für Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Mailand und Vizedekan des Päpstlichen Instituts Johannes Paul II. für Ehe und Familie. Er ist Mitglied des Konfuzius-Instituts in Mailand, eines der vielen Institute dieses Namens, die von Peking in der ganzen Welt zur Verbreitung der chinesischen Sprache und Kultur gefördert werden.
Aber Schanghai ist nicht irgendeine Diözese, sondern eine der ältesten und bedeutendsten in China. Sie wurde bis zu seinem Tod im Jahr 2013 im Alter von 97 Jahren von dem Jesuiten Aloysius Jin Luxian geleitet – dem wiederum der heldenhafte Ignace Kung Pinmei vorausgegangen war, der 1979 von Johannes Paul II. heimlich zum Kardinal ernannt wurde, während er im Gefängnis saß. Rom hatte nach Jins Tod für die Diözese Untergrundbischof Joseph Fan Zhongliang bereit, der Jin Platz hatte machen müssen, aber von Rom weiterhin als Titularbischof der Diözese angesehen wurde, ebenso die Weihbischöfe Joseph Wenzhi Xing und Thaddeus Ma Daqin.
Der erste der drei möglichen Nachfolger, Fan, starb jedoch 2014. Der zweite, Wenzhi, heute 63 Jahre alt und der Favorit des Vatikans, wurde 2011 vom Regime aus nie geklärten Gründen zum Rücktritt gezwungen. Und der dritte, der 2012 im Einvernehmen mit Rom und Peking zum Bischof geweiht wurde, wurde noch am Tag seiner Weihe verhaftet, weil er am Ende der Weihe aus der Patriotischen Vereinigung der chinesischen Katholiken, dem wichtigsten Instrument des Regimes zur Kontrolle der Kirche, ausgetreten war. Und seither lebt er immer unter Arrest, in einem Priesterseminar neben dem Marienwallfahrtsort Unserer Lieben Frau von Sheshan, etwas außerhalb von Schanghai.
Stattdessen wurde der neue Bischof von Schanghai nach einem Jahrzehnt der Vakanz einseitig von den chinesischen Behörden ausgewählt und eingesetzt. Und man kann sehen, warum. Shen ist die Nummer eins unter den vom kommunistischen Regime organisierten Bischöfen, er ist Vizepräsident der Politischen Konsultativkonferenz des Chinesischen Volkes, dem Gremium mit über zweitausend Delegierten, das die Entscheidungen von Präsident Xi Jinping und der Parteiführung absegnen soll, und er ist auch der Vorsitzende des Chinesischen Bischofsrates, der nie von Rom legitimierten Pseudo-Bischofskonferenz, die jeden neuen Bischof gemäß dem Geheimabkommen von 2018 ernennt und es dem Papst nur überläßt, ob er ihn auch ernennt oder nicht.
Darüber hinaus nimmt der neue Bischof von Schanghai häufig an internationalen Treffen teil, die von der Gemeinschaft von Sant’Egidio organisiert werden, zuletzt im September 2017 in Münster und Osnabrück und im Oktober 2018 in Bologna, wo Zuppi die Diözese seit 2015 leitet. Doch bis zu der Annahme, die pro-chinesische „Paralleldiplomatie“ von Sant’Egidio habe einen positiven Einfluß auf eine Verbesserung der Beziehungen zwischen Rom und Peking, ist es noch ein weiter Weg. Dieser Optimismus, dem die Tatsachen bereits weitgehend widersprechen, wurde durch das jüngste Interview des Hongkonger Bischofs Stephen Chow, eines Jesuiten, mit der vom Vatikan kontrollierten römischen Jesuitenzeitschrift La Civiltà Cattolica abgekühlt, das er nach seiner Rückkehr von einer Reise nach Peking gab, die auf Einladung des Bischofs der Hauptstadt, Joseph Li Shan, dem Vorsitzenden der Patriotischen Vereinigung der chinesischen Katholiken, der ebenfalls sehr regimetreu ist, stattfand.
Chow bezog sich ausdrücklich auf die beiden Fälle Jangxi und Schanghai, um daraus abzuleiten, daß „das Abkommen nicht tot ist“, aber ernsthafte „Meinungsverschiedenheiten zwischen den beiden Parteien“ offenbart, die „regelmäßigere und eingehendere Gespräche“ erfordern würden, auch „über die Voraussetzungen, die den Prozeß des Dialogs zwischen den beteiligten Parteien bestimmen müssen“.
Er fügte hinzu, daß „diejenigen, die gegen das vorläufige Abkommen sind, Franziskus gegenüber ziemlich voreingenommen zu sein scheinen“, auch wenn „eine große Mehrheit der Katholiken in China“ „dem Papst treu“ sei.
Vor allem aber zog er eine enttäuschende Schlußfolgerung aus der Vereinbarung, als er sagte, daß „etwa ein Drittel der Diözesen auf dem Festland“ weiterhin „auf ihre jeweiligen Bischofsernennungen warten“.
Das ist in der Tat der Fall. Der Vatikan zählt 147 Diözesen in ganz China, einschließlich Macao und Hongkong. Aber es gibt auch die Zählung der Regierung, die einseitig alle Grenzen neu gezogen und die Diözesen auf 99 reduziert hat. Von diesen 99 Diözesen sind 34 immer noch ohne Bischof, trotz der Vereinbarung von 2018 über Neuernennungen. Die detaillierte Liste der vakanten Diözesen wurde vor den Fällen in Jiangxi und Schanghai und vor dem kürzlichen Tod des Bischofs von Fuzhou, Peter Lin Jiashan, von AsiaNews, der auf China spezialisierten Agentur des Päpstlichen Instituts für die Auslandsmissionen, veröffentlicht.
Auch andere Statistiken offenbaren eine Kirche in Schwierigkeiten. In den chinesischen Priesterseminaren, sowohl in den „offiziellen“ als auch in den „Untergrundseminaren“, ist die Zahl der Priesteramtskandidaten von etwa 2400 zu Beginn des Jahrhunderts auf nur noch 420 im Jahr 2020 gesunken, die „sich auch schwertun sich untereinander zu vertrauen und dazu neigen, isoliert zu bleiben“, so die Beobachtung eines Missionars in Hongkong, der seine Doktorarbeit über sie geschrieben hat.
Aber noch schwerer wiegt für die chinesische katholische Kirche, daß zahlreiche Bischöfe, viele Priester und eine große Zahl von Täuflingen unerbittlich schikaniert und eingeschränkt werden. Zu den Bischöfen, die am meisten unter Beschuß stehen, gehören neben dem bereits erwähnten Weihbischof von Schanghai Ma Daqin
- der Bischof von Xuanhua Augustin Cui Hai, der seit Jahren mehrfach inhaftiert ist und sich seit dem Frühjahr 2021 erneut an einem unbekannten Ort in Haft befindet, ohne daß man etwas von ihm gehört hat;
- Bischof James Su Zhimin von Baoding, der sich seit mehr als 25 Jahren in den Händen der Polizei befindet, nachdem er bereits unter Mao Tse-tung mehr als 40 Jahre in Zwangsarbeit verbracht hat;
- der Bischof von Wenzhou Shan Zhumin, der wiederholt von der Polizei verhaftet und festgehalten wurde;
- der Bischof von Zhengding Jules Jia Zhiguo, der seit dem 15. August unter Hausarrest steht
- der Bischof von Xinxiang Joseph Zhang Weizhou, der am 21. Mai 2021 verhaftet wurde und seitdem an unbekanntem Ort festgehalten wird;
- der Weihbischof von Xiapu-Mindong Vincent Quo Xijin, der unter unter Zwangs-Hausarrest gestellt und zum Rücktritt von allen Ämtern gezwungen wurde.
Am stärksten verfolgt sind die „Untergrund“-Bischöfe, die vom Regime nicht offiziell anerkannt werden. Selbst wenn einer von ihnen auf dem Höhepunkt des Drucks zustimmt, sich registrieren zu lassen, bringen die Behörden ihn an einen geheimen Ort und unterziehen ihn politischen Umerziehungsprogrammen, bis er einen sicheren Beweis für seine Unterwerfung liefert.
Gegen all dies haben weder die chinesische Hierarchie, noch die vatikanischen Behörden, ja nicht einmal Papst Franziskus jemals ein einziges öffentliches Wort des Protestes erhoben. Der einzige, der wiederholt seine Stimme erhoben hat, war der unerschrockene Kardinal Joseph Zen Zekiun, der vor einigen Monaten ebenfalls verhaftet und verurteilt wurde, weil er die Freiheit seiner Mitbürger in Hongkong verteidigt hatte und gegen den immer noch wegen „Absprache mit ausländischen Kräften“ ermittelt wird.
Mehr als tausend Menschen in Hongkong, darunter sehr viele Christen, sitzen wegen der Demokratieunruhen von 2014 und 2019 im Gefängnis. Bei einem seiner Besuche bei Gefangenen taufte Kardinal Zen auch Albert Ho, einen prominenten Führer der Demokratiebewegung.
Der derzeitige Bischof der Stadt, Chow, rief in seiner kurz vor seiner Reise nach Peking veröffentlichten Osterbotschaft an die Gläubigen die politischen Behörden zu einem Akt der Gnade gegenüber diesen Gefangenen auf, um eine Befriedung zu erreichen.
„Bischof Chow ist für diese beispiellose und mutige Intervention zu loben“, schrieb Gianni Criveller, Sinologe und seit 26 Jahren Missionar in Hongkong, bei AsiaNews.
Und es ist zu hoffen, daß diese Geste seines jesuitischen Mitbruders zu einer ähnlichen Wendung des „chinesischen Weges“ von Papst Franziskus ermutigt und nicht zu der fruchtlosen „Parallel-Diplomatie“ von Sant’Egidio.
*
POST SCRIPTUM
Am Ende der Generalaudienz am Mittwoch, 24. Mai, sagte Franziskus:
„Heute ist der Weltgebetstag für die katholische Kirche in China. Er fällt mit dem Fest der seligen Jungfrau Maria, Hilfe der Christen, zusammen, die im Heiligtum Unserer Lieben Frau von Sheshan in Schanghai verehrt und angerufen wird. Aus diesem Anlaß möchte ich unseren Brüdern und Schwestern in China das Gedenken und die Verbundenheit mit ihnen versichern und ihre Freuden und Hoffnungen teilen. Ein besonderer Gedanke gilt allen Leidtragenden, Hirten und Gläubigen, auf daß sie in der Gemeinschaft und Solidarität der Weltkirche Trost und Ermutigung erfahren mögen. Ich lade alle ein, ihre Gebete zu Gott zu erheben, damit die Frohe Botschaft vom gekreuzigten und auferstandenen Christus in ihrer Fülle, Schönheit und Freiheit verkündet wird und zum Wohl der katholischen Kirche und der gesamten chinesischen Gesellschaft Früchte trägt“.
Übersetzung: Giuseppe Nardi
Bild: santegidio.org (Screenshot)