„Der Krieg an sich ist ein Horror“

Eindringlicher Appell von Papst Franziskus zum Frieden in der Ukraine


Papst Franziskus verzichtete gestern vor dem Angelus auf die Meditation über das Sonntagsevangelium, um die Eindringlichkeit seines Friedensappells im Ukrainekonflikt zu unterstreichen.
Papst Franziskus verzichtete gestern vor dem Angelus auf die Meditation über das Sonntagsevangelium, um die Eindringlichkeit seines Friedensappells im Ukrainekonflikt zu unterstreichen.

(Rom) Beim tra­di­tio­nel­len Ange­lus des Pap­stes, den das Kir­chen­ober­haupt jeden Sonn­tag in der Regel auf dem Peters­platz betet, kam es gestern zu einer merk­wür­di­gen Situation.

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Wenn der Papst an das Fen­ster in der Biblio­thek sei­ner Woh­nung im Apo­sto­li­schen Palast tritt – Fran­zis­kus wohnt im Gegen­satz zu sei­nen Vor­gän­gern aller­dings im vati­ka­ni­schen Gäste­haus San­ta Mar­ta –, medi­tiert er zunächst über das Sonn­tags­evan­ge­li­um. Dann fol­gen der von ihm vor­ge­be­te­te Engel des Herrn und schließ­lich aktu­el­le Mah­nun­gen und Hin­wei­se sowie Gruß­adres­sen an anwe­sen­de Pilgergruppen.

Gestern war der 27. Sonn­tag im Jah­res­kreis (des Novus Ordo, also laut Fran­zis­kus der ein­zi­gen Aus­drucks­form der Lex oran­di des Römi­schen Ritus), mit dem Lukas­evan­ge­li­um 17,3b–10. Papst Fran­zis­kus wich jedoch von dem gewohn­ten Pro­gramm ab. Er medi­tier­te nicht über das Sonn­tags­evan­ge­li­um, son­dern ver­zich­te­te dar­auf, um wegen der sich ver­schlech­tern­den Situa­ti­on im Ukrai­ne­kon­flikt alle Auf­merk­sam­keit auf sei­nen drin­gen­den Appell an die krieg­füh­ren­den Par­tei­en zu lenken. 

In der ver­gan­ge­nen Woche kam es zur Teil­mo­bil­ma­chung in Ruß­land, zur Anglie­de­rung von vor­wie­gend von Rus­sen bewohn­ten Gebie­ten der Ost- und Süd­ukrai­ne an Ruß­land, wie Mos­kau sagt, wäh­rend Kiew von einer Anne­xi­on spricht, und zur Spren­gung der Gas­lei­tun­gen von Nord Stream 1 und Nord Stream 2 in der Nord­see, über die vor allem Deutsch­land mit rus­si­schem Gas ver­sorgt wur­de bzw. ver­sorgt wer­den soll­te (Nord Stream 2 wur­de wegen des Drucks der USA und der Ruß­land-Sank­tio­nen der EU nie genutzt). 

Die Teil­mo­bil­ma­chung in der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on wur­de ange­ord­net, da Ruß­land bis­her an der Front sehr mann­scho­nend vor­ging, aber zuletzt unter Druck geriet, weil die Ukrai­ne moder­ne west­li­che Waf­fen­tech­nik zum Ein­satz brin­gen konn­te und im Feld mann­stark steht, aller­dings auch hohe Ver­lu­ste erleidet.

Der Ukrai­ne­kon­flikt steht laut der Sor­ge von Papst Fran­zis­kus an einem Wen­de­punkt: Kommt es zu einem Waf­fen­still­stand oder zu einer wei­te­ren Eska­la­ti­on mit unab­seh­ba­ren Folgen?

Papst Fran­zis­kus zeig­te sich gestern sehr besorgt, vor allem was den Ein­satz von Atom­waf­fen angeht, von dem bei­de Sei­ten spre­chen. Die rus­si­sche Regie­rung ver­fügt über Atom­waf­fen und droht damit, wäh­rend die ukrai­ni­sche Regie­rung, dis­pro­por­tio­nal, nach deren Ein­satz durch ihre west­li­chen Ver­bün­de­ten ver­langt. Die For­de­rung des ukrai­ni­schen Prä­si­den­ten nach Atom­waf­fen für die Ukrai­ne im Febru­ar auf der Münch­ner Sicher­heits­kon­fe­renz wird von Ruß­land als ein Kriegs­grund genannt.

„Der Ver­lauf des Krie­ges in der Ukrai­ne ist so ernst, ver­hee­rend und bedroh­lich gewor­den, daß er Anlaß zu gro­ßer Sor­ge gibt. Des­halb möch­te ich heu­te die gesam­te Betrach­tung vor dem Ange­lus die­sem The­ma wid­men“, erklär­te Fran­zis­kus zu Beginn des Gebets.

„Mein Appell rich­tet sich in erster Linie an den Prä­si­den­ten der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on“, aber eben­so an „den Prä­si­den­ten der Ukrai­ne“, ohne Putin und Selen­sky nament­lich zu nen­nen, „sich für ernst­haf­te Frie­dens­vor­schlä­ge zu öffnen.“

Offen­sicht­lich erfolg­te die Ände­rung in letz­ter Minu­te, da der Text des päpst­li­chen Appells vom Hei­li­gen Stuhl erst mit Ver­zö­ge­rung ver­öf­fent­licht wur­de, wäh­rend im Nor­mal­fall sei­ne Wor­te bereits vor­be­rei­tet zur Ver­fü­gung ste­hen. Wört­lich sag­te Franziskus:

„Lie­be Brü­der und Schwe­stern, guten Morgen!

Der Ver­lauf des Krie­ges in der Ukrai­ne ist so ernst, ver­hee­rend und bedroh­lich gewor­den, daß er Anlaß zu gro­ßer Sor­ge gibt. Aus die­sem Grund möch­te ich ihm heu­te vor dem Ange­lus mei­ne gesam­te Betrach­tung wid­men. In der Tat blu­tet die­se schreck­li­che und unvor­stell­ba­re Wun­de der Mensch­heit, anstatt zu hei­len, immer wei­ter und droht sich auszubreiten.

Ich traue­re um die Strö­me von Blut und Trä­nen, die in die­sen Mona­ten ver­gos­sen wor­den sind. Ich bin trau­rig über die Tau­sen­den von Opfern, ins­be­son­de­re Kin­der, und die zahl­rei­chen Zer­stö­run­gen, die vie­le Men­schen und Fami­li­en obdach­los gemacht haben und wei­te Gebie­te mit Käl­te und Hun­ger bedro­hen. Sol­che Hand­lun­gen kön­nen nie­mals gerecht­fer­tigt wer­den, nie­mals! Es ist bedau­er­lich, daß die Welt die Geo­gra­fie der Ukrai­ne durch Namen wie But­scha, Irpin, Mariu­pol, Isjum, Sapo­rischschja und ande­re Orte ken­nen­lernt, die zu Orten unbe­schreib­li­chen Leids und unbe­schreib­li­cher Angst gewor­den sind. Und was ist mit der Tat­sa­che, daß die Mensch­heit erneut mit einer ato­ma­ren Bedro­hung kon­fron­tiert ist? Das ist absurd.

Was muß noch gesche­hen? Wie viel Blut muß noch flie­ßen, damit wir erken­nen, daß Krieg nie­mals eine Lösung ist, son­dern nur Zer­stö­rung? Im Namen Got­tes und im Namen des Gefühls der Mensch­lich­keit, das in jedem Her­zen wohnt, erneue­re ich mei­nen Auf­ruf zu einem sofor­ti­gen Waf­fen­still­stand. Wir soll­ten die Waf­fen ruhen las­sen und die Bedin­gun­gen für Ver­hand­lun­gen suchen, die zu Lösun­gen füh­ren kön­nen, die nicht mit Gewalt durch­ge­setzt wer­den, son­dern ein­ver­nehm­lich, gerecht und sta­bil sind. Und das wer­den sie sein, wenn sie auf der Ach­tung des unan­tast­ba­ren Wer­tes des Men­schen­le­bens, der Sou­ve­rä­ni­tät und ter­ri­to­ria­len Inte­gri­tät jedes Lan­des sowie der Rech­te von Min­der­hei­ten und legi­ti­men Anlie­gen beruhen.

Ich bedaue­re zutiefst die ern­ste Situa­ti­on, die in den letz­ten Tagen ent­stan­den ist, mit wei­te­ren Aktio­nen, die den Grund­sät­zen des Völ­ker­rechts wider­spre­chen. Sie erhöht das Risi­ko einer nuklea­ren Eska­la­ti­on bis hin zur Befürch­tung unkon­trol­lier­ba­rer und kata­stro­pha­ler Fol­gen weltweit.

Mein Appell rich­tet sich in erster Linie an den Prä­si­den­ten der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on und bit­tet ihn, die­se Spi­ra­le von Gewalt und Tod zu stop­pen, auch um sei­nes Vol­kes wil­len. Ande­rer­seits appel­lie­re ich ange­sichts des uner­meß­li­chen Leids des ukrai­ni­schen Vol­kes infol­ge der erlit­te­nen Aggres­si­on eben­so zuver­sicht­lich an den ukrai­ni­schen Prä­si­den­ten, für ernst­haf­te Frie­dens­vor­schlä­ge offen zu sein. Alle Akteu­re des inter­na­tio­na­len Lebens und die poli­ti­schen Füh­rer der Natio­nen for­de­re ich auf, alles in ihrer Macht Ste­hen­de zu tun, um den andau­ern­den Krieg zu been­den, ohne sich in gefähr­li­che Eska­la­tio­nen hin­ein­zie­hen zu las­sen, und Initia­ti­ven zum Dia­log zu för­dern und zu unter­stüt­zen. Bit­te las­sen Sie die jun­gen Gene­ra­tio­nen die gesun­de Luft des Frie­dens atmen, nicht die ver­schmutz­te Luft des Krie­ges, die Wahn­sinn ist!

Nach sie­ben Mona­ten der Feind­se­lig­kei­ten soll­ten wir alle diplo­ma­ti­schen Mit­tel nut­zen, auch die, die bis­her viel­leicht nicht genutzt wur­den, um die­ser schreck­li­chen Tra­gö­die ein Ende zu set­zen. Der Krieg an sich ist ein Irr­tum und ein Horror!

Ver­trau­en wir auf die Barm­her­zig­keit Got­tes, der die Her­zen ver­än­dern kann, und auf die müt­ter­li­che Für­spra­che der Köni­gin des Frie­dens, wenn wir unser Gebet zu Unse­rer Lie­ben Frau vom Rosen­kranz von Pom­pei erhe­ben, gei­stig ver­bun­den mit den Gläu­bi­gen, die in ihrem Hei­lig­tum und in so vie­len Tei­len der Welt ver­sam­melt sind.“

Text/​Übersetzung: Giu­sep­pe Nar­di
Bild: Vati​can​.va (Screen­shot)

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