Msgr. Athanasius Schneider, Weihbischof im Erzbistum Astana in Kasachstan, veröffentlichte auf OnePeterFive folgende pastorale Reflexion bezüglich Traditionis custodes. Ein besonderer Dank gilt Sandra Bauch für die deutsche Übersetzung:
Während wir auf dem synodalen Weg zur Synode über die Synodalität voranschreiten, wurde dem mystischen Leib Christi, der Kirche, eine Wunde zugefügt. Gemeint ist damit natürlich der geistige Schmerz und die Ungerechtigkeit, die einer beträchtlichen Anzahl guter Katholiken – verschiedensten Alters, Laien und Klerikern – durch die Veröffentlichung von Papst Franziskus‘ Traditionis custodes am 16. Juli 2021 und durch die Responsa ad Dubia der Kongregation für den Gottesdienst und die Sakramentenordnung am 4. Dezember 2021 angetan wurden. Die überwältigende Mehrheit der gläubigen Laien und des Klerus, die den überlieferten römischen Ritus pflegen, halten sich fern von kirchlichen und liturgischen Polemiken und respektieren den Papst und ihre Bischöfe und beten für diese. Sie fordern nur das Recht, das liturgische Erbe, in dem sie und Generationen junger Katholiken aufgewachsen sind, weiterhin vollständig leben zu dürfen und zwar sowohl in der Feier der Heiligen Messe als auch bei der Zelebration aller anderen Sakramente und Ritualien. In der Tat hatte der Heilige Stuhl ihnen dieses Recht in einer großzügigen pastoralen Geste während der beiden Pontifikate von Johannes Paul II. und Benedikt XVI. garantiert.
Diese geistige Wunde und ihre schmerzhaften Folgen (sowohl in pastoraler wie auch in personaler Hinsicht) sind öffentlich bekannt. Und das wertvolle und gänzlich seit den Ursprüngen überlieferte liturgische Erbe (das gemeinsames Gut der gesamten Kirche ist und nicht verloren gehen darf) ist bedroht. Es ist deswegen die Aufgabe der Bischöfe, öffentlich und frei ihre tiefe Beunruhigung zum Ausdruck zu bringen, wobei sie in einem Sinn handeln, der auch vom Synodalen Weg gefordert wird. In seiner Rede zur Eröffnung des Synodalen Wegs am 9. Oktober 2021 sagte Papst Franziskus: „Wenn wir nicht die Kirche der Nähe, des Mitgefühls und der Zärtlichkeit werden, werden wir nicht die Kirche Gottes werden.“
Möge Papst Franziskus erkennen, dass er schlecht beraten war, und möge er pastoralen Mut beweisen und wahre Liebe gegenüber den ausgegrenzten Söhnen und Töchtern der Kirche, indem er die in den beiden oben genannten Dokumenten festgelegten kanonischen Bestimmungen zurücknimmt. Mit einem solchen Handeln gelänge es ihm wahrhaft, „die Wunden zu behandeln und die niedergeschlagenen Herzen mit dem Balsam Gottes wiederherzustellen.“ (Rede zur Eröffnung der Synode am 9. Oktober 2021)
In diesem Zusammenhang tun wir gut daran, uns an einen großen Heiligen zu erinnern, der als wahrer Friedensstifter in die Kirchengeschichte eingegangen ist: der heilige Irenäus von Lyon (+ 202). In einem kritischen Moment der Kirchengeschichte, als der Heilige Stuhl Ende des zweiten Jahrhunderts einer Gruppe von Klerikern und Gläubigen eine einzig gültige Ausdrucksmöglichkeit der lex orandi auferlegen und damit andere legitime liturgische Traditionen ausschließen wollte (es ging um die Frage, wann Ostern zu feiern sei), intervenierte der hl. Irenäus und protestierte respektvoll bei Papst Viktor I. (+197), indem er ihn an die Großherzigkeit und die Mäßigung seiner Vorgänger erinnerte, insbesondere an Papst Anicetus (+168), der, obwohl er andere liturgische Ansichten hatte als der hl. Polykarp (ein Schüler des Apostels Johannes), es dennoch erlaubte, dass andere liturgische Traditionen ungestört fortgesetzt werden konnten (vgl. Eusebius von Caesarea, Historia ecclesiastica V: 23). Papst Viktor I. scheint auf den brüderlichen Rat des hl. Irenäus gehört zu haben.
Papst Franziskus verkündete kürzlich die erfreuliche Nachricht, den hl. Irenäus zum Kirchenlehrer erheben zu wollen, mit dem Titel Doctor unitatis (Lehrer der Einheit) (Ansprache an den Gemeinsamen orthodox-katholischen Arbeitskreis St. Irenäus am 7. Oktober 2021). Papst Franziskus sollte – das Beispiel des hl. Irenäus, Friedensstifter und Doctor unitatis in spe, und die Beispiele seiner beiden Vorgänger Johannes Paul II. und Benedikt XVI. vor Augen – auf die Stimme der vielen Kinder, jungen Menschen, Väter und Mütter, Seminaristen und Priester hören, die dem überlieferten römischen Ritus verbunden sind, und sollte ihnen ihr anerkanntes Recht gewähren, die Liturgie nach allen liturgischen Büchern des Römischen Ritus zu zelebrieren, die bis zur jüngsten liturgischen Reform in Gebrauch waren. Auf diese Weise würden die ausgegrenzten Söhne und Töchter der Kirche spüren, dass sie „zum Leben der Gemeinschaft beitragen, ohne behindert, abgelehnt oder verurteilt zu werden.“ (Predigt von Papst Franziskus bei der Hl. Messe zur Eröffnung der Synode am 10. Oktober 2021)
Papst Franziskus ruft jeden in der Kirche dazu auf, sich „von den Fragen der Schwestern und Brüder berühren zu lassen, uns gegenseitig dabei zu helfen, dass die Vielfalt der Charismen, der Berufungen und der Ämter uns bereichert“ (Predigt von Papst Franziskus bei der hl. Messe zur Eröffnung der Synode am 10. Oktober 2021). Möge Gott Papst Franziskus die Gnade zugestehen, wahrhaft ein Papst des liturgischen Friedens zu sein und zu fördern „was immer wahrhaft, edel, recht, was lauter, liebenswert“ ist (Phil 4,8). Würde der Papst mit solcher Nächstenliebe und pastoraler Bescheidenheit handeln, wäre nichts verloren, sondern alles gewonnen. Und der „Gott des Friedens“ (Phil 4,9) würde mit ihm und allen Gläubigen sein.
+ Athanasius Schneider
Weihbischof im römisch-katholischen Erzbistum der Allerheiligsten Jungfrau Maria zu Astana in Kasachstan
Übersetzung: Sandra Bauch
Bild: OnePeterFive (Screenshot)