Wer gab den Synodalen einen Auftrag zur Veränderung der katholischen Lehre?

Synodaler Weg


Wer hat den Auftrag erteilt, daß sich "die Lehre ändern" soll?
Wer hat den Auftrag erteilt, daß sich "die kirchliche Lehre ändern" soll?

Ein Gast­kom­men­tar von Hubert Hecker

Anzei­ge

Die Kir­chen­zei­tun­gen der Ver­lags­grup­pe Bis­tums­pres­se prä­sen­tie­ren in der Aus­ga­be vom 25. Juli 2021 ein Dop­pel­in­ter­view mit den bei­den Vor­sit­zen­den des Syn­odal­fo­rums IV zum The­ma katho­li­sche Sexu­al­mo­ral unter der Über­schrift: „Die kirch­li­che Leh­re soll sich ändern“.1

Auf­trag zum Para­dig­men­wech­sel für die katho­li­sche Sexualmoral?

Chef­re­dak­teur Ulrich Wasch­ki stellt zu Anfang an Bischof Hel­mut Die­ser und die Ko-Vor­sit­zen­de Bir­git Mock kri­ti­sche Anfra­gen – etwa die, ob „der Syn­oda­le Weg den Miss­brauch instru­men­ta­li­sie­re, um alt­be­kann­te For­de­run­gen (nach einer Ände­rung der katho­li­schen Sexu­al­mo­ral) durch­zu­brin­gen“. Tat­säch­lich hat­te die MHG-Stu­die kei­ner­lei For­schungs­er­geb­nis­se dazu erbracht, dass die kirch­li­che Sexu­al­mo­ral ursäch­lich für die Miss­brauchs­fäl­le gewe­sen wäre. Die For­scher gaben des­halb auch kei­ne Emp­feh­lun­gen zur Ände­rung der kirch­li­chen Leh­re. Wasch­ki ergänzt: „Wenn man sich an die kirch­li­che Sexu­al­mo­ral hal­ten wür­de, wür­de man sich gegen Miss­brauch doch immu­ni­sie­ren. War­um also Änderungen?“

Bischof Die­ser win­det sich: „… im Prin­zip rich­tig.“ Aber man wol­le halt einen „grund­sätz­li­chen Para­dig­men­wech­sel“. Frau Mock ver­plap­pert sich: „Wir haben den Auf­trag, die kirch­li­che Sexu­al­mo­ral zu ver­heu­ti­gen, zu ver­än­dern…“ Einen Auf­trag zur Ver­än­de­rung der kirch­li­chen Leh­re? Und wer soll den deut­schen Syn­oda­len den Auf­trag gege­ben haben? Von der MHG-Stu­die haben sie jeden­falls kein Man­dat dafür; der Papst hat sich mehr­fach kri­tisch zu dem deutsch-syn­oda­len Ände­rungs­an­satz geäu­ßert; die Kar­di­nä­le der päpst­li­chen Kurie stell­ten fest, dass eine mehr­heit­li­che Lai­en­syn­ode „sui gene­ris“ nicht zustän­dig ist für kirch­li­che Lehr­ver­än­de­run­gen. Fühlt sich Frau Mock von den pro­gres­si­ven deut­schen Moral­theo­lo­gen beauf­tragt, von dem inzwi­schen sexu­al­re­vo­lu­tio­nä­ren BDKJ oder viel­leicht von Maria 2.0? Ange­sichts feh­len­der kirch­li­cher Beauf­tra­gung kom­men säku­la­re Insti­tu­tio­nen und finanz­star­ke NGOs in den Blick, die von der Kir­che schon län­ger die Anpas­sung ihrer Leh­re an die moder­ne Welt ein­for­dern. Lässt sich die Syn­oden­lei­tung von DBK und ZdK von die­sen Kräf­ten beauf­tra­gen oder hat sie sich selbst ermäch­tigt, die katho­li­sche Sexu­al­mo­ral den Zeit­geist­strö­mun­gen anzupassen?

Hochfliegende Synodalpläne zur Veränderung des Weltkatechismus

Frau Mock erklärt für die Syn­oden­mehr­heit: „Wir sehen es als Auf­trag, die Leh­re der Kir­che zu ver­än­dern.“ Und wei­ter: „Wir haben so weg­wei­sen­de Plä­ne. (…) Wir arbei­ten hoch­kon­zen­triert (…) an der Fra­ge, wie wir auf Dau­er den Kate­chis­mus ändern können.“

Bis­her lau­te­te die Sprach­re­ge­lung der deut­schen Bischö­fe, man wol­le aus­schließ­lich eine Wei­ter­ent­wick­lung der katho­li­schen Sexu­al­mo­ral. Das wür­de bedeu­ten, unter Bei­be­hal­tung der kirch­li­chen Grund­sät­ze zu Ehe und Sexua­li­tät eine neue Spra­che und Aus­le­gung der bibli­schen Bot­schaft für die heu­ti­ge Zeit zu fin­den. In die­sem Sin­ne sind die ver­tie­fen­den Über­le­gun­gen seit dem II. Vati­ca­num wie die Enzy­kli­ka Fami­lia­ris con­sor­tio oder die ‚per­so­na­li­sier­te Norm der Theo­lo­gie des Lei­bes‘ von Papst Johan­nes Paul II. zu ver­ste­hen. Papst Bene­dikt XVI. hat die legi­ti­me Wei­ter­ent­wick­lung der kirch­li­chen Leh­re als „Her­me­neu­tik der Reform“ auf­ge­fasst. Mit dem Begriff grenz­te er sei­ne Kon­zils­deu­tung von den Her­me­neu­ti­ken der glat­ten Kon­ti­nui­tät als auch des Bru­ches ab. Mit die­sem Ansatz konn­te er die Bedeu­tung der Tra­di­ti­on in Leh­re und Lit­ur­gie wür­di­gen, zugleich par­ti­el­le kir­chen­hi­sto­ri­sche Fehl­ent­schei­dun­gen kor­ri­giert sehen. Ent­spre­chend wären für eine legi­ti­me Wei­ter­ent­wick­lung der kirch­li­chen Leh­re zu Ehe und Sexua­li­tät eben­falls frü­he­re Fehl­ent­wick­lun­gen in Lehr­ver­kün­di­gung und Pasto­ral zu iden­ti­fi­zie­ren und zu kor­ri­gie­ren, etwa eine gna­den­lo­se Pflicht­ethik, klein­lich-ungeist­li­che Aus­le­gun­gen bibli­scher Wei­sun­gen und ver­en­gen­de pasto­ra­le Vorschriften.

Ein Bei­spiel: Staat und Gesell­schaft for­dern bei der libe­ra­len Sex­pra­xis von Jugend­li­chen die kon­se­quen­te Ver­hü­tung, bei Miss­lin­gen emp­feh­len sie die ‚Pil­le danach‘ und für den Not­fall wird die Abtrei­bung als Men­schen­recht aus­ge­ru­fen, somit den unge­bo­re­nen Men­schen das Recht auf Leben abge­spro­chen. Die ehe­ma­li­gen Grü­nen-Poli­ti­ke­rin Jut­ta Dit­furth hat das gan­ze libe­ra­le Sex-Pro­gramm durch­ge­spielt mit dem Resü­mee: Bei ihrem „lust­vol­len, knapp zwan­zig­jäh­ri­gen Geschlechts­le­ben“ sei­en „zwei Abtrei­bun­gen rela­tiv wenig“. Wenn ein Christ sich nicht in die­se Sex-Ver­laufs­lo­gik bis hin zum Abtrei­bungs­hor­ror ver­wickeln will, dann muss er bei der Anbah­nung einer Sexu­al­be­zie­hung das Stopp­schild beach­ten: Kein unver­bind­li­cher Sex! Bzw. das Gebot beach­ten: Sex nur mit einer Per­son, mit der man auch ein Kind haben und groß­zie­hen möch­te in einer lebens­lan­gen Treuebeziehung.

Die Mehr­heit der Syn­oda­len lehnt die oben skiz­zier­te Wei­ter­ent­wick­lung der Leh­re auf der biblisch-kirch­li­chen Basis ab. Der Forums­text pro­pa­giert eine grund­sätz­li­che Ände­rung der kirch­li­chen Sexu­al­mo­ral, also ein sexu­al­ethi­sche Neu­kon­zep­ti­on, die sich im ver­än­der­ten Welt­ka­te­chis­mus nie­der­schla­gen soll. Es müs­se ein „grund­sätz­li­cher Para­dig­men­wech­sel“ her, for­dern bei­de Forums­vor­sit­zen­den mehr­mals. Sie ver­fol­gen bezüg­lich der kirch­li­chen Leh­re eine Her­me­neu­tik des Bruchs.

Misstrauen und Schlechtreden der katholischen Sexualmoral…

Die indis­kre­ten Beicht­stuhl­fra­gen waren tat­säch­lich ver­brei­tet, aller­dings nicht mehr seit dem Kon­zil, auch weil das Beicht­sa­kra­ment kirch­li­cher­seits als unnö­tig abge­tan wur­de. Wenn Bischof Die­ser fünf­zig Jah­re spä­ter den Beicht­stuhl als Miss­brauchs­ein­rich­tung hin­stellt – ähn­lich wie Papst Fran­zis­kus vor der Beich­te als Fol­ter­werk­zeug warnt –, ist das eine unse­riö­se Auf­bau­schung von frü­he­ren pasto­ra­len Abir­run­gen, die heu­te instru­men­ta­li­siert wer­den für die gewoll­te Neu­leh­re. Jeden­falls recht­fer­ti­gen sol­che und ande­re histo­ri­sche Nega­tiv­bei­spie­le nicht, mit dem Schmutz­ba­de­was­ser kirch­li­cher Anwen­dungs­feh­ler das Kind der biblisch-kirch­li­chen Ehe­leh­re auszukübeln.

… Schönreden und Vertrauen auf die hedonistischen Sexualwissenschaften

„Wir wol­len die kirch­li­che Sexu­al­mo­ral über­win­den“, so fasst Bischof Die­ser die mut­wil­li­ge Aus­rich­tung der Syn­oden­mehr­heit zusam­men. An deren Stel­le soll eine neue säku­la­re Sexu­al­ethik tre­ten. Die wird haupt­säch­lich kon­zi­piert aus „neu­en Erkennt­nis­sen der Human­wis­sen­schaf­ten“, die der Moral­theo­lo­ge Schocken­hoff zusam­men­ge­fasst hat. In des­sen Skiz­ze einer neu­en Sexu­al­mo­ral fin­det sich nicht eine ein­zi­ge Bibel­stel­le, von einer bibli­schen Fun­die­rung sei­nes Kon­zep­tes ganz zu schwei­gen. Unge­klärt bleibt die wis­sen­schafts­theo­re­ti­sche Fra­ge, wie aus Tat­sa­chen­er­kennt­nis­sen über Sexua­li­tät nor­ma­ti­ve Postu­la­te gewon­nen wer­den sollen.

Mit welt­li­chen Erkennt­nis­sen, Ethi­ken und Phi­lo­so­phien hat sich die Kir­che von Anfang an aus­ein­an­der­ge­setzt: „Prüfet alles, das Gute behal­tet“, lau­tet die Richt­li­nie vom Apo­stel Pau­lus in 1 Thess 5,21. Das Prüf- und Über­nah­me­kri­te­ri­um war und ist, ob die jewei­li­gen Erkennt­nis­se zum Evan­ge­li­um pas­sen. So lehn­ten die frü­hen Chri­sten den sexu­el­len Hedo­nis­mus von Epi­kur und Lukrez kate­go­risch ab, wäh­rend sie die Wahr­heits­phi­lo­so­phie von Pla­ton und die Ethik der Stoa über­ar­bei­tet in die christ­li­che Moral­leh­re ein­bau­ten. Im Ergeb­nis for­mu­lier­ten die frü­hen Chri­sten­ge­mein­den eine deut­li­che Abgren­zung zur sexu­el­len Lebens­wirk­lich­keit der Spät­an­ti­ke. In der Zwölf­apo­stel­leh­re heißt es: „ … Du sollst nicht ehe­bre­chen, nicht Kna­ben schän­den, nicht Unzucht bege­hen, nicht ein Kind abtrei­ben und das Gebo­re­ne nicht töten“.

Der deut­sche Syn­oden­weg dage­gen soll in einer weit­ge­hen­den Anpas­sung an die säku­la­re Lebens­welt mün­den, die der epi­ku­rei­schen Lust­phi­lo­so­phie ziem­lich nahe­kommt. War­um ver­schweigt Schocken­hoff, auf wel­che Erkennt­nis­se von wel­chen säku­la­ren Human­wis­sen­schaft­lern sich der Forums­text bezieht? Aus einem Text- und Lite­ra­tur­ver­gleich ergibt sich, dass die grund­le­gen­den „Erkennt­nis­se“ des Syn­odal­pa­piers mit den Tex­ten des ein­fluss­rei­chen Kie­ler Pro­fes­sors für Sexu­al­päd­ago­gik Uwe Sie­lert kon­form gehen. Der war ein Schü­ler des Pädo­phi­len­ak­ti­vi­sten Hel­mut Kent­ler. Sie­lert pro­pa­giert in sei­nen Schrif­ten die Instru­men­ta­li­sie­rung des Kör­pers zur Lustmaximierung.

Wenn die Syn­oden-ver­ant­wort­li­chen DBK-Bischö­fe die­se und ähn­li­che human­wis­sen­schaft­li­che Erkennt­nis­se pflicht­ge­mäß im „Lich­te des Evan­ge­li­ums“ so kri­tisch prü­fen wür­den wie Schocken­hoff die kirch­li­che Leh­re, müss­ten sie die frag­men­tier­ten und lust­zen­trier­ten Sexua­li­täts­theo­rien der Gegen­wart als dem Evan­ge­li­um wider­spre­chend ableh­nen. Die­se Mühe machen sie sich nicht. Im Gegen­teil – der Prüf­vor­gang wird heu­te umge­dreht: Die biblisch-kirch­li­che Leh­re soll nach der tief­sten Über­zeu­gung von Bischof Bät­zing „im Lich­te der seit Jahr­zehn­ten vor­lie­gen­den human­wis­sen­schaft­li­chen Erkennt­nis­se2 auf den Prüf­stand gestellt werden.

Jenseits von Eden ist die Sexualität ambivalent

Der Kern der katho­li­schen Sexu­al­mo­ral ist die bin­dungs­ver­pflich­te­te Lie­be zwi­schen Mann und Frau. In der Lie­bes­fä­hig­keit und dem Wil­len zur Treue besteht die Got­tes­eben­bild­lich­keit des Men­schen. Mit jedem Sexu­al­akt ohne Lie­be, Bin­dung und Bereit­schaft zur Frucht­bar­keit ent­fernt sich der Mensch von sei­ner engen Got­tes­be­zie­hung und auch von sei­ner mensch­li­chen Bestim­mung. Die­se Tren­nung von Gott und sei­nen Gebo­ten nennt die Bibel Sün­de. Das aller­dings ist für Welt und Kir­che inzwi­schen ein Tabu-Wort.

Die Syn­oden­len­ker und die ihnen fol­gen­de Mehr­heits­frak­ti­on hal­ten die­se klas­sisch-katho­li­sche Leh­re für idea­li­stisch und des­halb über­holt. Sie set­zen an die Stel­le der christ­li­chen Basis­norm von Lie­be und Treue die phy­sisch-psy­chi­sche Rea­li­tät der Sexua­li­tät. Frau Mock betont auf­fäl­lig oft die „posi­ti­ve Kraft“ der Sexua­li­tät. Die wird mit der Über­hö­hung zu einer „vom Schöp­fer geschenk­ten Gabe“ als gut an sich (intrin­se­ce bonum) ange­se­hen. Bei die­ser Hypo­the­se von all­seits guter Sexua­li­tät brau­chen die Men­schen weder Gebo­te noch Ver­bo­te, son­dern höch­stens Lebens­be­ra­tung oder Anlei­tung zum guten Sex.

Doch der von Gott geschaf­fe­ne „sehr gute“ Mensch mit sei­nen Anla­gen lebt nicht mehr im para­die­si­schen Zustand der Urge­schöpf­lich­keit. In sei­ner vier­fach gebro­che­nen Exi­stenz ‚jen­seits von Eden‘ hat er die ursprüng­li­che Heils­har­mo­nie mit Gott, mit der natür­li­chen Umwelt, den ande­ren Men­schen und auch mit sei­nen eige­nen Anla­gen ver­lo­ren. Er ist immer noch zum Guten bestimmt und geneigt, aber er steht im Wider­streit sei­ner eige­nen Kräf­te. Aus sei­nem Inne­ren kommt das Bestre­ben zum Guten, aber auch die bösen Gedan­ken zu Mord und Dieb­stahl eben­so wie Ehe­bruch und Hure­rei (vgl. Mt 15,19).

Nach die­ser Ein­sicht hat die Sexua­li­tät als Gabe Got­tes oder Anla­ge der mensch­li­chen Natur einen vor­ethi­schen Sta­tus – ähn­lich wie die Talen­te und ande­re Kräf­te des Men­schen. Sexua­li­tät ist jeden­falls nicht von sich aus gut wie die Lie­be. „Erst der Gebrauch ent­schei­det über Gut und Böse“, stellt der katho­li­sche Publi­zist Bern­hard Meu­ser fest. „Die Lust und der Lust­trieb, die Begier­de, Kon­ku­pis­zenz, wie die Theo­lo­gen sagen, sind so ambi­va­lent wie das Leben. (…) Lust kann wun­der­schön sein; sie kann aber auch anar­chi­sche Ver­wü­stun­gen anrich­ten. (…) Die moder­ne Lite­ra­tur ist in wei­ten Tei­len eine epi­sche Ver­ar­bei­tung der bit­te­ren Früch­te eines aus allen Fugen gera­te­nen Umgangs mit der Sexua­li­tät.“3 Denn Sex ohne Lie­be unter­läuft den per­so­na­len Wür­de­be­zug des Menschen.

Wenn Frau Mock die Sexua­li­tät als gut und unschul­dig hin­stellt bei Aus­blen­dung der Schat­ten­sei­ten, ist das eine „Ver­nied­li­chung“ von Sex, die Meu­ser als „neo­ka­tho­li­schen Kitsch“ cha­rak­te­ri­siert. Bei die­ser Auf­hüb­schung der Sexua­li­tät ste­hen dann die reli­giö­sen Ver­brä­mungs­händ­ler bereit für den tran­szen­den­ten Zucker­guss: „Küs­sen ist Beten“ dich­te­te Wuni­bald Mül­ler vor eini­gen Jah­ren, indem er Sexua­li­tät als Quel­le für die christ­li­che Spi­ri­tua­li­tät hochstilisierte.

Verunschuldigung von Sex unter Ausblendung der Schattenseiten

• Auch die Idee, Sexua­li­tät als aus­schließ­lich posi­ti­ve Lebens­kraft hin­zu­stel­len, hat der Syn­od­al­text von Sexu­al­wis­sen­schaft­lern über­nom­men. Der oben erwähn­te Uwe Sie­lert sieht in der Sexua­li­tät eine „all­ge­mei­ne Lebens­en­er­gie“ vom ersten bis zum letz­ten Atem­zug des Men­schen. „Sie ist die Kraft- und Lebens­quel­le (!) schlecht­hin“ – so die Über­hö­hung der Sexua­li­tät durch die Sie­lert-Schü­le­rin und katho­li­sche Prä­ven­ti­ons­be­auf­trag­te Ann-Kath­rin Kah­le. Sex soll aus­schließ­lich mit posi­ti­ven Kon­no­ta­tio­nen in Ver­bin­dung gebracht wer­den. Die Schat­ten­sei­ten der Sexua­li­tät in den Prak­ti­ken wie Über­grif­fe bei Erwach­se­nen, Kin­des­miss­brauch, Ephe­b­o­phi­lie, Pro­sti­tu­ti­on, Ver­ge­wal­ti­gung, Men­schen­han­del, kom­mer­zia­li­sier­te Por­no­gra­fie, Sex­sucht, Pädo­phi­lie und Sadis­mus sol­len aus­ge­blen­det bzw. von der Sexua­li­tät weg­in­ter­pre­tiert wer­den. Schon in der MHG-Stu­die wur­den den Miss­brauchs­tä­tern viel­fäl­ti­ge nicht-sexu­el­le Defi­zi­te zuge­ord­net wie emo­tio­na­le Unrei­fe, Depres­si­on, Alko­hol­miss­brauch etc., „als habe Kna­ben­schän­dung mit allem zu tun, nur nicht mit Kna­ben­schän­dung“, wie Bern­hard Meu­ser kom­men­tiert.4 Statt von sexu­el­ler Gier und ego­isti­scher Trieb­be­frie­di­gung ver­sucht auch die Kir­che die Sexua­li­tät zu ver­un­schul­di­gen, etwa wenn Kir­chen­leu­te sexu­el­len Miss­brauch als Macht­miss­brauch umdeu­ten. Die kirch­li­chen Prä­ven­ti­ons­be­auf­trag­ten umschrei­ben den Tat­be­stand von ‚gewalt­tä­ti­ger Sexua­li­tät‘ durch­ge­hend als „sexua­li­sier­te Gewalt“, auch um das selbst­ge­strick­te Schön­bild der guten Wunsch-Sexua­li­tät zu pflegen.

Statt Primat der Liebe Beziehungspflege und andere fragmentierte Sinnfunktionen

• Bern­hard Meu­ser spricht von einem Master­plan Got­tes für die Hier­ar­chie, Ord­nung oder Rei­hen­fol­ge der sexu­el­len Sinn­wer­te: ‚Am Anfang und über allem steht die Lie­be als christ­li­ches Wesens­merk­mal für jede sexu­el­le Bezie­hungs­auf­nah­me, dann kommt das „Für immer“-Versprechen der Treue, dann ist das Nest gege­ben für die lust­vol­le Ver­ei­ni­gung „im Fleisch“, dann kann das Kind kom­men und in der Lie­be von Vater und Mut­ter selbst zu einem lie­ben­den Men­schen heranwachsen.‘5

Das Forums­pa­pier löst die­ses Wert­ge­fü­ge der Lie­be auf in eine Rei­hung von gleich­wer­ti­gen Tat­be­stän­den der empi­ri­schen Sexua­li­tät. Von der Sexu­al­wis­sen­schaft über­nimmt Schocken­hoff vier Sinn­funk­tio­nen oder Wirk­wei­sen der Sexua­li­tät: die Lust­funk­ti­on, die Bezie­hungs­funk­ti­on, die Iden­ti­täts­funk­ti­on und die Fortpflanzungsfunktion.

Bei die­ser Trans­for­ma­ti­on zeigt sich der grund­stür­zen­de Cha­rak­ter des Syn­oden­tex­tes, wenn der biblisch-christ­li­che Pri­mat der Lie­be zum Rat­schlag für Bezie­hungs­pfle­ge degra­diert wird, gleich­wer­tig etwa mit der Lust­funk­ti­on. Wei­ter­hin wird jede die­ser Funk­ti­ons­wei­sen von Sexua­li­tät zu einem „posi­ti­ven Sinn­wert“ dekla­riert, der für sich mora­lisch legi­tim und beja­hens­wür­dig sei. Auch das lust­vol­le Mani­pu­lie­ren der Geni­ta­li­en (self sex) hält Schocken­hoff bei Sin­gles für wert­hal­tig, inso­fern sie damit den eige­nen Kör­per als Lust­quel­le bejahen.

Am letz­te­ren Bei­spiel zeigt sich nach Meu­ser wie­der­um die neo­ka­tho­li­sche Sexu­al­ver­kit­schung – und damit das Aus­blen­den sexu­el­ler Ver­ir­run­gen. Ein­lei­tend bemerkt er, dass die Selbst­sti­mu­la­ti­on in der Ent­wick­lungs­pha­se als vor­über­ge­hen­des Phä­no­men kein intrin­se­ce malum ist. Aber die heu­te in ein­schlä­gi­gen Rat­ge­bern pro­pa­gier­ten Self­sex-Tech­ni­ken zei­gen fata­le Fol­gen: Mastur­ba­ti­on „funk­tio­niert“ als vir­tu­el­le Ersatz­hand­lung, indem im Kopf­ki­no mit einem ima­gi­nier­ten Part­ner sexu­el­le Ver­ei­ni­gung mit dem Ziel eksta­ti­scher Lust gespielt wird. Ein Fake, eine Illu­si­on mit dem Gefühl, als wenn der Sinn­wert der Sexua­li­tät auch außer­halb der lie­ben­den Begeg­nung von Mann und Frau zu erzeu­gen sei. Doch die dau­er­haft prak­ti­zier­te Selbst­be­frie­di­gung führt eher zu einer selbst­be­zo­ge­nen Obses­si­on und vir­tu­el­len Ein­sam­keit. Vor allem aber wird mit der sexu­al­ethi­schen Auf­wer­tung der Mastur­ba­ti­on dem Mil­li­ar­den­ge­schäft der mul­ti­me­dia­len Inter­net­por­no­gra­fie zuge­ar­bei­tet. Schon puber­tie­ren­de Kin­der wer­den in visu­el­le Pro­sti­tu­ti­on ein­ge­weiht, als Sucht­kun­den kon­di­tio­niert und zu über­grif­fi­gem Sexu­al­ver­hal­ten erzo­gen durch sexu­el­le Ver­wahr­lo­sung.6 Statt dass sich die deut­schen Bischö­fe (und ins­be­son­de­re der BDKJ) um den Schutz von Kin­dern, Jugend­li­chen und Erwach­se­nen vor die­ser „Pest des 21. Jahr­hun­derts“ sor­gen, las­sen sie sich naiv ver­ein­nah­men von Schocken­hoffs blau­äu­gi­gem Rat­schlag zum „lust­vol­len Erle­ben des eige­nen Kör­pers“ durch self sex.

Meu­ser dia­gno­sti­ziert in der Auf­lö­sung der biblisch-christ­li­chen Wert­ord­nung zu den gleich­wer­ti­gen, iso­lier­ten und frag­men­tier­ten Sinn­funk­tio­nen der Sexua­li­tät eine fun­da­men­ta­le Abir­rung des Syn­oda­len Wegs. Er bringt zahl­rei­che Bele­ge und Bei­spie­le dafür, dass alle unethi­schen bis mon­strö­sen Sexu­al­prak­ti­ken als Kol­la­te­ral­schä­den der Frag­men­tie­rung zuge­ord­net wer­den kön­nen, wenn „die Lust von der Treue, die Treue von der Lie­be und die Lie­be vom Kin­der­krie­gen“ getrennt wer­den. Ins­be­son­de­re die Tren­nung von Sex und Lie­be zer­stö­re das Beste der Per­son. „In Wahr­heit wird die Sexua­li­tät der Lie­be über­ge­ord­net.“7 Die­sen Ein­druck ver­mit­teln auch die bei­den Kovor­sit­zen­den des Forums IV im Dop­pel­in­ter­view. Bischof Die­ser spricht zwar ein­mal vom „Pri­mat der Lie­be vom Evan­ge­li­um her“. Aber die­se bibli­sche Prio­ri­sie­rung oder Evan­ge­li­sie­rung der Sexu­al­mo­ral spielt in sei­nen wei­te­ren Aus­füh­run­gen, im Forums­text und für die Syn­oden­mehr­heit abso­lut kei­ne Rolle.

Das Dogma der Moderne: Sex ist niemals Sünde!

• Die eifern­de Anpas­sung der Syn­oden­mehr­heit an den Haupt­strom der libe­ra­len sexu­el­len Revo­lu­ti­on ist nach Meu­ser als nach­träg­li­che Unter­zeich­nung einer Ur-Akte der Moder­ne zu deu­ten. „Das Dog­ma der Moder­ne lau­tet: Sex ist nie­mals Sün­de. Die Urak­te lau­tet: Wir wer­den nie wie­der etwas Sexu­el­les in Ver­bin­dung mit Sün­de brin­gen. Die Evan­ge­li­sche Kir­che hat die­se Ur-Akte, die über Anschluss oder Nicht­an­schluss an die Moder­ne ent­schei­det, lan­ge schon unter­zeich­net. Die deut­sche Katho­li­sche Kir­che ist gera­de im Begriff, dies auch zu tun.“8

Wie zur Bestä­ti­gung die­ser The­se infor­miert Bischof Hel­mut Die­ser in dem Dop­pel­in­ter­view über eine Video­kon­fe­renz der fünf Bischö­fe im Forum IV. Die hät­ten sich zu fol­gen­der Stel­lung­nah­me durch­ge­run­gen: „Wir wol­len nicht mehr sagen müs­sen, dass alle Sexua­li­tät, die außer­halb der Ehe von Mann und Frau gelebt wird, von vorn­her­ein Sün­de ist.“9 Tat­säch­lich kommt in dem Syn­odal­pa­pier zur neu­en Sexu­al­mo­ral das Wort ‚Sün­de‘ nicht mehr vor. Pro­mis­kui­tät, Untreue, offe­ne Mehr­fach­be­zie­hun­gen, Por­no­gra­fie, Pro­sti­tu­ti­on und ande­rer Sexua­li­täts­miss­brauch wer­den allen­falls als „frag­wür­dig“ hin­ge­stellt. Damit wären auch Fremd­ge­hen und Sei­ten­sprung, also der im 6. Gebot unter­sag­te Ehe­bruch, nicht mehr als Sün­de anzu­se­hen, son­dern unter der Fra­ge nach schwie­ri­gen Lebens­si­tua­tio­nen zu wür­di­gen. Kon­se­quen­ter­wei­se müss­te man auch die Bibel ver­heu­ti­gend umschrei­ben, etwa die ein­deu­ti­gen Wor­te des Evan­ge­li­ums gegen die Sün­de des Ehe­bruchs abmil­dern. Und auch das Jesus­wort an die Ehe­bre­che­rin: „Sün­di­ge nicht mehr!“, passt so nicht mehr in die neo-katho­li­sche Sexu­al­mo­ral. Die Syn­oda­len wer­den anstel­le des kate­go­ri­schen Ver­bots der Sün­de des Ehe­bruchs sicher­lich neue geschmei­di­ge­re For­mu­lie­rungs­vor­schlä­ge fin­den – etwa das Anra­ten von Selbst­re­fle­xi­on über unan­ge­mes­se­nes Ver­hal­ten oder das Ange­bot von Paar­coa­ching bei frag­wür­di­gen Sexualpraktiken.

Als neue Leit­fra­ge wird die alte Schla­ger­pa­ro­le von Zarah Lean­der her­vor­ge­kramt: „Kann denn (sexu­el­le) Lie­be Sün­de sein?“ In dem deut­schen Film „Der Blau­fuchs“ von 1938 ver­liebt sich die gelang­weil­te Frau eines Pro­fes­sors in einen feschen Flie­ger, der zugleich mit einem Tenor eifer­süch­tig um die schö­ne Ilo­na buhlt. In die­sem Lie­bes­ge­plän­kel zu dritt gibt die Film­di­va die Ant­wort auf ihre rhe­to­ri­sche Ein­gangs­fra­ge: „Lie­be kann nicht Sün­de sein!“ Damit ist zugleich der Plot vie­ler moder­ner Fil­me und Roma­ne umschrie­ben: Fremd­ge­hen als prickeln­des Lie­bes­aben­teu­er – oder als ethi­sche Maxi­me for­mu­liert nach Schocken­hoff: Sexu­el­les Begeh­ren ist grund­sätz­lich als posi­ti­ve Kraft anzusehen.

Die inter­na­tio­na­le Ero­tik-Indu­strie form­te nach dem Krieg das alte deut­sche Schla­ger­mot­to zu der Paro­le um ‚Love is no sin‘. Aus die­sem Kon­text wur­de die For­mel kürz­lich von Tei­len der Kir­che in Deutsch­land reak­ti­viert. Auf sei­ner Face­book­sei­te prä­sen­tier­te das Bis­tum Lim­burg, also die Diö­ze­se des Vor­sit­zen­den der Deut­schen Bischofs­kon­fe­renz, an zehn Tagen im April 2021 um den Lim­bur­ger Dom ein Ban­ner mit dem ein­schlä­gi­gen Dog­ma der Moder­ne: Love is no sin /​ Sexu­el­le Lie­be ist nie Sün­de. Die Bot­schaft soll wohl lau­ten: Ab jetzt wer­den wir nie­mals mehr Sexua­li­tät in Ver­bin­dung mit Sün­de brin­gen! Als Sub­text ist zu ent­zif­fern: Die Kir­che in Deutsch­land soll sich von der katho­li­schen Sexu­al­ethik mit dem Pri­mat der bin­dungs­treu­en Lie­be sowie den flan­kie­ren­den Gebo­ten verabschieden.

Bild: kiz​-online​.de (Screen­shot)


  1. Das Dop­pel­in­ter­view mit Bischof Hel­mut Die­ser und Bir­git Mock erschien in den Kir­chen­zei­tun­gen der Bis­tü­mer Osna­brück, Lim­burg, Mainz, Ful­da, Hil­des­heim, Ham­burg, Aachen, Ber­lin, Dres­den-Mei­ßen, Erfurt, Gör­litz und Magdeburg
  2. Bischof Georg Bät­zing im Gespräch, Sei­te Bis­tum Lim­burg, 24.3.2021
  3. Bern­hard Meu­ser im Inter­view: Moral ist Flan­ken­schutz für die Lie­be, Die Tages­post vom 14.10.2020
  4. Bern­hard Meu­ser: Freie Lie­be. Über neue Sexu­al­mo­ral, Basel 2020, S. 158
  5. Eben­da S. 225
  6. Bern­hard Meu­ser: Brief an die deut­schen Bischö­fe, kath​.net 9.11.2020
  7. Bern­hard Meu­ser im Inter­view, sie­he Anmer­kung 3
  8. Bern­hard Meu­ser: Freie Lie­be, S. 17
  9. Dop­pel­in­ter­view, Kir­chen­zei­tun­gen der Ver­lags­grup­pe Bis­tums­pres­se, 25.7.2021
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