(Paris) Heute in einer Woche jährt sich der verheerende Brand der Kathedrale Notre-Dame de Paris. Am Karfreitag wird aus deren Ruinen die Verehrung der dort aufbewahrten Dornenkrone Jesu Christi in Direktübertragung ermöglicht.
Am 15. April 2019 wurde die Kathedrale von Paris durch einen Großbrand zerstört. Die Bilder der brennenden Bischofskirche erschütterten die Welt. Notre-Dame ist eines der bekanntesten Symbole der Christenheit und das Symbol der französischen Identität schlechthin. Entsprechend symbolträchtig war auch der Brand.
Am kommenden Karfreitag wird die in Notre-Dame aufbewahrte Reliquie, die Dornenkrone Jesu Christi, öffentlich zur Verehrung ausgestellt werden. Das gab Erzbischof Michel Aupetit von Paris bekannt.
„Wenn Maria am Fuße des Kreuzes ist, weiß sie, daß Gott auch aus dem absolut Bösen immer etwas viel Größeres machen kann“, sagte der Erzbischof gestern in einer Pressekonferenz, die wegen der Coronavirus-Epidemie online stattfand.
Auf die Frage, welche Bedeutung der Brand der Kathedrale und die Coronavirus-Seuche haben könnte, fiel der Erzbischof in eine Sprachlosigkeit:
„Ich sehe keine Bedeutung im Feuer der Kathedrale oder in der COVID-19-Epidemie. Andererseits weiß ich, daß Gott aus dem Unglück, das uns trifft, viel mehr herausholen kann.“
Msgr. Aupetit gab zugleich bekannt, daß am Karfreitag, dem 9. April, von 11.30 Uhr bis 12.30 Uhr in seiner Anwesenheit die Verehrung der Dornenkrone in der nach wie vor unzugänglichen Kathedrale stattfinden und direkt übertragen wird.
Der Erzbischof wird die Karfreitagsmeditation in der Apsis der Kathedrale hinter dem Hochaltar mit der Pietà halten.
Die Dornenkrone Jesu Christi wurde nachweislich seit dem Jahr 333 in Jerusalem öffentlich verehrt. Wegen der Bedrohung durch die Perser, die Jerusalem 614 eroberten, wurde die Reliquie nach Konstantinopel gebracht und in der Kapelle des kaiserlichen Palastes aufbewahrt.
Mit der Eroberung Konstantinopels 1204 durch die Kreuzfahrer trat für 60 Jahre das Lateinische Kaiserreich an die Stelle des Byzantinischen Reiches. Aus Geldmangel verkaufte Balduin II., der von 1228 bis 1261 als Kaiser in Konstantinopel regierte, im Spätsommer 1238 die Reliquie für eine enorme Summe an König Ludwig IX. von Frankreich (1226–1270), der sein Vetter war. Balduin entstammte einer Nebenlinie des französischen Königshauses. Beider Ahnherr war König Ludwig VI.
Zwei Jahre dauerten die Verhandlungen, da Ludwig IX. sich der Echtheit sicher sein wollte. Im Herbst 1238 trat die Dornenkrone, die der König Dominikanern anvertraute, die Reise von Konstantinopel über Venedig nach Paris an. Auf Bitten Ludwigs ließ Kaiser Friedrich II. den Transport der heiligen Reliquie ab Venedig durch einen starken, bewaffneten Geleitschutz sichern.
Am 18. August 1239 erreichte die Dornenkrone Paris und wurde in der Kathedrale Notre-Dame aufbewahrt, ehe sie 1248 in die eigens errichtete Sainte-Chapelle des Königspalastes überführt wurde. Wiederholt machten die Könige einzelne Dornen anderen Monarchen, Kathedralen und Klöstern zum Geschenk, weshalb sie nicht mehr vollständig ist. 1297 wurde König Ludwig IX. heiliggesprochen.
In der Französischen Revolution wurde die Dornenkrone als „Wertgegenstand“ in die Nationalbibliothek gebracht. Mit dem Konkordat von 1801 konnte die Rückerstattung erreicht werden, die 1806 stattfand. Seither befindet sie sich, wie kurzzeitig bereits im 13. Jahrhundert, in der Kathedrale Notre-Dame de Paris und ist den Domherren anvertraut. Sie sind für ihre Aufbewahrung und die öffentliche Ausstellung zuständig. Der Schutz der Dornenkrone für die Zeit der öffentlichen Verehrung ist den Grabesrittern anvertraut.
Die Dornenkrone wird traditionell an jedem Tag der Fastenzeit um 15 Uhr zur Todesstunde Jesu gezeigt, am Karfreitag für mehrere Stunden vom späteren Vormittag bis 17 Uhr. In diesem Jahr findet wegen des Brandes und der Coronavirus-Epidemie alles etwas anders statt. An der Ausstellung wird aber grundsätzlich festgehalten.
Die tägliche Ostensio erfolgt in der Kirche Saint-Germain-l’Auxerrois, die bis zum Abschluß des Wiederaufbaus als Sitz der Dompfarre dient. Am Karfreitag erfolgt die Ausstellung aber, wenn auch kürzer, in der Kathedrale. Durch die Direktübertragung wird die Reliquie weltweit den Menschen zugänglich gemacht.
Am morgigen Gründonnerstag wird Erzbischof Aupetit die Stadt Paris zu Mittag mit dem Allerheiligsten Sakrament von der Herz-Jesu-Basilika am Montmartre aus segnen, die die ganze Stadt überragt.
Die Bewohner von Paris unterliegen seit dem 17. März restriktiven Ausgangsbeschränkungen. Die verhängten Coronavirus-Maßnahmen verzögern auch den Wiederaufbau von Notre-Dame. Als der verheerende Brand ausbrach, waren Restaurierungsarbeiten im Gange. Das dafür aufgebaute Metallgerüst, mit einem Gesamtgewicht von mehr als 550 Tonnen, wurde durch die Hitze völlig deformiert. Ende März sollte es entfernt werden. Durch die Anti-Epidemie-Maßnahmen mußten die Arbeiten aber verschoben werden.
Daß die Dornenkrone dem Brand nicht zum Opfer fiel, ist dem Kaplan der Berufsfeuerwehr von Paris Abbé Jean-Marc Fournier, einem ehemaligen Petrusbruder, zu danken, der sie am 15. April unter Einsatz des eigenen Lebens während des Brandes in Sicherheit brachte.
- Die Direktübertragung erfolgt unter anderem durch KTO, den Fernsehsender der Französischen Bischofskonferenz.
Text: Giuseppe Nardi
Bild: MiL