von Antonio Tortillatapa
Über die Kultur und die Religionen in Südamerika kurz vor und zur Zeit der spanischen Kolonisierung sind wir sehr gut informiert:
Vom Hochmittelalter an gab es in Europa ein großes Interesse für Religionen in anderen Ländern. Unter dem Druck der kriegerischen Auseinandersetzungen mit dem Islam wirkten die Meldungen über das Reich des Großpriesters Johannes im Südosten und über die Toleranz der Mongolenherrscher im Fernen Osten gegenüber den Nestorianern stark prägend.
Venezianische und genuesische Kaufleuten wie die Familie Polo bereisten Zentralasien entlang der Seidenstraße.
Besonders wichtig war die im Auftrag des französischen Königs und des Papstes unternommene diplomatisch-missionarische Sendungsreise des Franziskanermönchs Wilhelm von Rubroec (auch Rubruck) zum Khan der Mongolen.
Die Entdeckungsreisen im Spätmittelalter und die Conquista in der Renaissance waren nicht zuletzt christlich inspiriert angefangen bei der Konzeption (Ermöglichung der Expedition des Christophorus Columbus durch Königin Isabella von Kastilien und Leon, die „Katholische Könige“, aus Dankbarkeit über den Fall von Granada, und wohl empfohlen von ihrem Beichtvater) über die Begleitung der Seefahrer durch Geistliche bis zu deren Finanzierung (z.B. die Expedition von Giovanni Caboto, in England auch bekannt als John Cabot).
Bei dessen letzter Reise begleiteten ihn einige Mönche, wohl auch in der Hoffnung auf Bischofsernennung in einem neuentdeckten Land.
Interesse und Neugierde für exotische Länder und Religionen waren sehr groß, der missionarische Eifer für das Christentum ebenfalls. Hinzu kamen Stolz auf die eigenen Leistungen und das Bewußtsein des historischen Augenblicks.
Die religiöse Dimension der Conquista wurde sehr schnell noch viel wichtiger als die Conquistadoren die indigene Religion für ihre eigene Zwecke einsetzten:
Die Eroberung des gewaltigen Aztekenreichs in Mexiko war nur möglich weil Hernàn Cortes die von den Azteken erwartete Rückkehr des weißgesichtigen Gottes Quetzalcoatl (Gefederte Schlange) aufgriff und sich selbst als Quetzalcoatl identifizieren ließ.
Bei der Eroberung des Inkareichs, das gerade einen Bürgerkrieg erlebte, spielten die Spanier die verfeindete Fraktionen gegeneinander aus und assoziierten sich mit dem Nationalsymbol der Inkaherrscher, Titi Inti, dem Sonnengott.
Ein Genozid fand nicht statt.
Die spanischen Eroberer assoziierten sich von Anfang an mit der lokalen indigenen Elite.
Hernàn Cortes und seine Begleiter heirateten Aztekenprinzessinnen. Pizarro nahm die Cousine und Frau des letzten Inkas, Cuxirimay Ocllo, von den Spaniern Doña Angelina Yupanqui genannt, zur Frau, die ihm zwei Söhne schenkte. Zuvor lebte er bereits mit der ebenfalls aus der kaiserlichen Familie stammenden Prinzessin Quispe Sisa, der Lieblingsschwester des letzten Inka, im Konkubinat, die nach der Taufe von den Spaniern Doña Inés Yupanqui genannt wurde. Mit ihr hatte Pizarro eine Tochter und einen Sohn. Pizarro liebte seine Kinder.
Die Conquistadoren ließen ihre Taten und die Länder und Sitten der neuentdeckten Völker ausführliche historisch dokumentieren.
Darüber hinaus gibt es überreiche archäologische Funde, inzwischen seit fünfhundert Jahren gesammelt und studiert.
Gerade die Renaissancehumanisten, die sich mit den damals exotischen morgenländischen Sprachen der Bibelhandschriften beschäftigten, interessierten sich auch für die Maya-Codices.
Die altamerikanische Kunst wurde intensiv gesammelt und studiert und war eine der Grundlage des nationalen Selbstbewußtsein vieler lateinamerikanischer Regionen.
Besondere Aufmerksamkeit erfuhr in den letzten zwei Jahrhunderten die Erforschung der indianischen Sprachen, kombiniert mit vergleichender Ethnologie.
Die Indianergruppen von Südamerika, Mittelamerika und Nordamerika wurden mit den mongolischen und sibirischen Völkern verglichen, besonders auch was Animismus, Mythen, Kunstdarstellungen, Wortschatz und Begriffe betrifft.
Am Rande sei erwähnt daß seit 1928 ein Einfluß der Pazifikkulturkreise auf Südamerika intensiv untersucht wird. Diese These wurde besonders von Thor Heyerdahl (Kon-Tiki 1947) propagiert, wobei dafür auch sehr viel Esoterik bemüht wurde.
Das große Interesse in den Medien führte begleitend zu einer sorgfältigen Dokumentierung.
Große Kunstbücher, Museumskataloge und illustrierte Kinderbücher verbreiteten das Wissen um die südamerikanischen Kulturen auf breiter Ebene.
Beispielhaft für die gründliche Darstellung der vergleichenden Ethnologie sei hier das bekannte dreibändige Werk „Die große Völkerkunde“ von Hugo A. Bernatzik (1939) genannt.
In dem dritten Band (Prof. Dr. Walter Krickenberg) sind 164 Seiten Text Südamerika, 64 Seiten Nordamerika und 13 Seiten Amerika im Allgemeinen gewidmet; darüber hinaus enthält er für Amerika neun Seiten Literaturverzeichnis mit einer sehr guten Übersicht der spanisch‑, englisch‑, deutsch- und französischsprachigen Literatur von 1877 bis 1937.
Detailliert werden die unterschiedlichen Indianergruppen beschrieben (z.B. die Chaco-Stämme, die Pampa-Stämme, die Ostbrasilianischen Stämme, die Amazonas-Antillen-Stämme, die Kordillerengruppe der Ackerbauern (Chile, Nordargentinien mit den Araukanern).
Besonders interessant ist hier der Zusammenhang mit den unterschiedlichen Sprachen und mit elementaren und spirituellen Begriffen.
Die Völkerbewegungen und Migrationen der Indianervölker bis in jüngster Zeit (für Guyana bis in die 20er Jahre des vorigen Jahrhunderts und später) werden beschrieben.
Besonders ins Auge fällt die Bemerkung, daß das Amazonasgebiet kaum jagdbares Großwild besitzt und die Tropenwaldböden sehr arm und sehr schnell ausgelaugt sind.
Die jetzt im Vatikan modisch demonstrierten Fruchtbarkeitsriten und die Pachamama-Anbetung kommen da nicht vor.
Literatur:
„Die große Völkerkunde“ von Hugo A. Bernatzik (1939, Bibliographische Institut in Leipzig) in 3 Bänden. „Amerika“ (im dritten Band) von Prof. Dr. Walter Krickenberg.
Bild: Kuturpool/Europeana/Wikicommons (Screenshots)